HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 348
Bearbeiter: Frederike Berghaus/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: EGMR, Nr. 1128/17, Beschluss v. 16.02.2021, HRRS 2022 Nr. 348
1. Die vorliegende Individualbeschwerde wirft die Frage auf, ob das Landgericht, das die Beschwerdeführerin des gemeinschaftlich mit G.S. begangenen Mordes an ihrem Ehemann aus Habgier schuldig sprach, entsprechend dem Erfordernis aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unparteiisch war. Den Vorsitz in dem gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren des Landgerichts hatte Richter M. inne, der in dem früheren separaten Strafverfahren nur gegen G.S. Berichterstatter war. In jenem Verfahren war G.S. mit einem Urteil des Mordes am Ehemann der Beschwerdeführerin schuldig gesprochen worden, das zahlreiche Verweise auf die Beschwerdeführerin und Beschreibungen ihrer Beteiligung an der Tat enthielt.
2. Die 1964 geborene Beschwerdeführerin ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt F. untergebracht. Sie wurde von Herrn E., Rechtsanwalt in F., vertreten.
3. Die Regierung wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
4. Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
5. Am 11. Juli 2011 verurteilte das Landgericht D. den damaligen Partner der Beschwerdeführerin, G.S., wegen des Mordes an ihrem Ehemann (M.M.) zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. G.S. wurde schuldig gesprochen, den Ehemann der Beschwerdeführerin aus Habgier in Alleintäterschaft getötet zu haben. Das Landgericht setzte sich aus drei Berufsrichtern, einschließlich Richter M. als Berichterstatter, sowie einer Schöffin und einem Schöffen zusammen. Die Beschwerdeführerin war in diesem Verfahren als Zeugin geladen worden, verweigerte aber die Aussage, da sie zu jener Zeit mit G.S. verlobt war.
6. Das Landgericht stellte fest, dass G.S., der die Tat bestritt, den Ehemann der Beschwerdeführerin, der nicht mehr mit dieser zusammenlebte, getötet habe, um ihn daran zu hindern, Vermögenswerte ins Ausland zu transferieren. Der Vermögenstransfer hätte dazu geführt, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr auf die Vermögenswerte hätte zugreifen können, und hätte somit auch G.S., ihren Partner, daran gehindert, von diesen zu profitieren.
7. Das Urteil des Landgerichts gegen G.S. enthielt in der Sachverhaltsdarstellung auch umfangreiche Feststellungen zur Beschwerdeführerin. Das Gericht führte insbesondere zu dem gemeinsam von dem „Angeklagten und M.“ gefassten Plan aus. Diesem zufolge sollte G.S. den Ehemann der Beschwerdeführerin in dessen Wohnung töten, nachdem er sich unter dem Vorwand Zugang verschafft hatte, medizinisches Material, das die Beschwerdeführerin bei einer Apotheke bestellt hatte, abholen zu wollen. So stellte das Landgericht unter anderem Folgendes fest:
„[...] hatten der Angeklagte und M. erfahren, dass und in welchem Umfang [M.M.] der [...] GmbH Kapital entzog und seiner Lebensgefährtin zuführte. [...] Sie realisierten endgültig, von [M.M.] auf legalem Wege nicht die finanziellen Zuwendungen zu erhalten, die sie sich von ihm erhofften und die sie für das (wirtschaftlich) sorgenfreie Leben [...] benötigten, von dem sie träumten.
Sie beschlossen daher, [M.M.] zu töten. [...]
Solchermaßen in dem mit dem Angeklagten gemeinsam gefassten Plan bestärkt, [M.M.] zu töten, um sich dessen Vermögen habhaft zu machen, bereitete M. nunmehr die Tat selbst sowie die Sicherung des Vermögens des [M.M] weiter vor. [...]“
8. Bei seiner Beweiswürdigung stellte das Landgericht hinsichtlich der Begehung der Tat unter anderem fest, dass weder der Angeklagte noch die Beschwerdeführerin sich nach den Umständen des Todes von M.M. erkundigten, als sie über diesen informiert wurden, und dass dieses Verhalten
„sich [...] zwanglos vor dem Hintergrund [erklärt], dass weder M. noch der Angeklagte Rückfragen über die Umstände des gewaltsamen Todes stellen mussten, weil sie selbst die Tat begingen bzw. hieran beteiligt waren.“
9. In der rechtlichen Würdigung der von G.S. begangenen Tat kam das Landgericht zu dem Schluss, dass die Tötung von M.M. als Mord einzustufen war, da G.S. aus Habgier gehandelt habe. Es führte aus, dass Habgier in diesem Zusammenhang ein Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen bedeute, das in seiner Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteige. Es stellte dann insbesondere Folgendes fest:
„Insbesondere war in diesem Zusammenhang die Rücksichtslosigkeit zu berücksichtigen, mit welcher der Angeklagte und M. vorgingen und mit welcher sie durch die Ermordung [von M.M.] versuchten, statt diesem in dessen Geschäfte einzutreten und die hierbei entstehenden Gewinne selbst zu vereinnahmen.“
10. Nachdem das Urteil gegen G.S. Rechtskraft erlangt hatte, nahm die Staatsanwaltschaft im September 2012 Kontakt zur Schwester von G.S. auf und bat sie um Unterstützung, G.S. davon zu überzeugen, gegen die Beschwerdeführerin auszusagen. Der Staatsanwalt führte aus, dass die Richter des Landgerichts D. ihre - von der Staatsanwaltschaft geteilte - Überzeugung, dass die Beschwerdeführerin G.S. zur Tötung ihres Ehemanns angestiftet habe, in ihrem Urteil klar zum Ausdruck gebracht hätten. Am 1. November 2012 legte G.S., der gleichzeitig bestritt, den Ehemann der Beschwerdeführerin selbst getötet zu haben, Informationen hinsichtlich des Hasses offen, den die Beschwerdeführerin ihrem Ehemann gegenüber verspürt habe, und behauptete, dass sie eine dritte Person mit der Ermordung ihres Ehemanns beauftragt habe.
11. Daraufhin wurde vor dem Landgericht D. ein Verfahren wegen Mordes gegen die Beschwerdeführerin eingeleitet. Der Beschwerdeführerin wurde vorgeworfen, ihren Ehemann aus Habgier gemeinschaftlich mit G.S. getötet zu haben.
12. Das Gericht setzte sich aus Richter M. (der zuvor Berichterstatter in dem Verfahren gegen G.S. war) als Vorsitzendem, einer weiteren Berufsrichterin und einem weiteren Berufsrichter sowie einem Schöffen und einer Schöffin zusammen.
13. Auf eine Anfrage des Anwalts der Beschwerdeführerin dazu, ob er Berichterstatter im Verfahren gegen G.S. gewesen sei, legte Richter M. einer Kammer des Landgerichts am 7. Oktober 2013 die Akte zur Entscheidung darüber vor, ob seine Beteiligung als Berichterstatter in dem vorausgegangenen Verfahren gegen G.S. seine Ablehnung wegen Befangenheit rechtfertige (§ 30 StPO, siehe Rdnr. 27).
14. Am 11. Oktober 2013 stellte ein Spruchkörper bestehend aus zwei Richtern und einer Richterin des Landgerichts - darunter die Berufsrichterin und der Berufsrichter, die neben M. für das Verfahren gegen die Beschwerdeführerin vorgesehen waren - fest, dass es keine Gründe dafür gebe, eine Befangenheit des Richters M. zu besorgen. Er befand, dass die Darstellung der Tatbeteiligung der Beschwerdeführerin in dem Urteil gegen den G.S. notwendig gewesen sei, um den einschlägigen Sachverhalt vollständig aufzuklären, einschließlich der Gründe dafür, dass G.S. aus dem Tod des Ehemanns der Beschwerdeführerin finanzielle Vorteile ziehen würde und diesen daher aus Habgier getötet habe. Das Gericht habe keine unnötigen oder sachlich unbegründeten Werturteile über die Beschwerdeführerin geäußert.
15. Am 14. Oktober 2013 stellte die Beschwerdeführerin unter Bezugnahme auf § 24 Abs. 2 StPO (siehe Rdnr. 26) ein Ablehnungsgesuch gegen Richter M.. Sie zitierte einige Passagen aus dem Urteil des Landgerichts gegen G.S. (vgl. insbesondere Rdnrn. 7-9) und brachte vor, dass das Gericht einschließlich Richter M. Feststellungen getroffen habe, die deren Überzeugung erkennen lasse, dass die Beschwerdeführerin ihren Ehemann gemeinschaftlich mit G.S. getötet habe, was einer unnötigen Vorverurteilung der Beschwerdeführerin gleichkomme.
16. Am 18. Oktober 2013 wies ein anderer, aus zwei Richterinnen und einem Richter des Landgerichts D. bestehender Spruchkörper nach Anhörung des Richters M. und der Beschwerdeführerin das Ablehnungsgesuch gegen Richter M. zurück. Das Gericht verwies auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (siehe Rdnrn. 29-30), nach der die Mitwirkung eines Richters in einem Verfahren gegen Mitbeschuldigte nur dann einen hinreichenden Ablehnungsgrund darstellen könne, wenn weitere Umstände wie sachlich unbegründete Äußerungen, Maßnahmen oder Verhalten oder vorverurteilende Werturteile gegeben seien. Berufsrichter seien in der Lage, sich ihr Urteil zu den Anklagepunkten allein auf der Grundlage des in dem in Rede stehenden Verfahren gefundenen Beweisergebnisses zu bilden. Das Gericht befand, dass die Bezugnahmen auf die Beschwerdeführerin in dem Urteil gegen G.S. eine Voreingenommenheit des Richters M. nicht belegten. Die Feststellungen seien notwendig gewesen, um ein umfassendes Bild der Planung und Vorbereitung der Tat sowie des Tatmotivs zu zeichnen, wozu Ausführungen zu Handlungen von in dem Verfahren nicht angeklagten Dritten erforderlich gewesen seien.
17. Nach einer vollständig neuen Hauptverhandlung über 23 Tage mit Zeugenvernehmungen und Sachverständigenanhörungen verurteilte das Landgericht D. unter Beteiligung von Richter M. die Beschwerdeführerin am 9. April 2014 wegen gemeinschaftlich mit G.S. begangenen Mordes aus Habgier zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
18. Das Urteil enthielt neue Tatsachenfeststellungen ohne Bezugnahmen auf das Urteil gegen G.S. Obwohl hinsichtlich der Abläufe, die zur Tötung des Ehemanns der Beschwerdeführerin führten, im Wesentlichen dieselben Feststellungen getroffen wurden wie in dem früheren Urteil gegen G.S., wich das Urteil gegen die Beschwerdeführerin aufgrund teilweise neuer Zeugenaussagen (insbesondere von G.S. und seiner Schwester) und der eigenen Einlassungen der Beschwerdeführerin in einigen Details von den Tatsachenfeststellungen im Urteil gegen G.S. ab (z.B. hinsichtlich des Betretens der Wohnung des Ehemanns der Beschwerdeführerin durch G.S.).
19. Am 10. Februar 2016 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision der Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Landgerichts D.. Er stellte insbesondere fest, dass die Befangenheitsrüge der Beschwerdeführerin gegen Richter M. unbegründet gewesen sei. Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung (vgl. Rdnrn. 29-30) wiederholte er, dass die Mitwirkung eines Richters an früheren Verfahren gegen Mitbeschuldigte wegen derselben Tat nur dann berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters begründen könne, wenn besondere Umstände hinzuträten. Solche Umstände seien gegeben, wenn das frühere Urteil unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über die später angeklagte Person enthielt oder ein Richter sich in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil der bzw. des Angeklagten geäußert habe.
20. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass das Urteil des Landgerichts vom 11. Juli 2011 gegen G.S. keine solchen unbegründeten Äußerungen oder Wertungen enthalte. Soweit in den Urteilsgründen ausgeführt wurde, es sei „die Rücksichtslosigkeit zu berücksichtigen, mit welcher [der Angeklagte und M.] vorgingen und mit welcher sie durch die Ermordung [von M.M.] versuchten, statt diesem in dessen Geschäfte einzutreten und die hierbei entstehenden Gewinne selbst zu vereinnahmen“ (vgl. Rdnr. 9), entspreche diese Bewertung dem festgestellten Tatgeschehen und der Annahme eines aus Habgier begangenen Mordes.
21. Das Urteil gegen G.S. enthalte darüber hinaus auch keine anderen Äußerungen oder Wertungen, die Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters M. begründen könnten. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass das Landgericht seine Feststellung, wonach die Tat aus Habgier begangen wurde, mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Beschwerdeführerin von M.M. nach Scheitern ihrer Ehe begründet habe. Darüber hinaus habe das Landgericht seine Überzeugung, dass G.S. M.M. getötet habe, auch auf Beweisanzeichen gestützt, die zugleich für eine Tatbeteiligung der Beschwerdeführerin sprachen. Unter diesen Umständen sei es zur Vermeidung von Darstellungsmängeln geboten gewesen, die Beteiligung der Beschwerdeführerin an den von G.S. ausgeführten Handlungen in dem Urteil zu beschreiben.
22. Auch die in der Begründung des Urteils des Landgerichts gegen G.S. enthaltenen Hinweise auf die „feste bzw. sichere Überzeugung [...] von der Mittäterschaft“ der Beschwerdeführerin böten keine Anhaltspunkte für eine Voreingenommenheit, sondern brächten das erforderliche Maß an Sicherheit zum Ausdruck, das für eine Verurteilung von G.S. erforderlich gewesen sei.
23. Am 6. Juni 2016 erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Sie machte geltend, dass ihre verfassungsrechtlichen Rechte auf den gesetzlichen Richter und ein faires Verfahren verletzt worden seien, da Richter M., der nicht unparteiisch gewesen sei, Teil des Spruchkörpers des Landgerichts gewesen sei, der sie des Mordes schuldig gesprochen habe.
24. Am 11. Juli 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1168/16).
25. § 23 StPO zur Ausschließung eines Richters wegen Mitwirkung an der angefochtenen Entscheidung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Ein Richter, der bei einer durch ein Rechtsmittel angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist von der Mitwirkung bei der Entscheidung in einem höheren Rechtszug kraft Gesetzes ausgeschlossen.
(2) Ein Richter, der bei einer durch einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist von der Mitwirkung bei Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren kraft Gesetzes ausgeschlossen. [...]“
26. § 24 StPO zur Ablehnung eines Richters lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.
(2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. [...]“
27. § 30 StPO regelt insbesondere die Selbstanzeige eines Richters. Soweit maßgeblich lautet die Vorschrift wie folgt:
„Das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuchs zuständige Gericht hat auch dann zu entscheiden, wenn ein solches Gesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte [...].“
28. § 211 StGB zu Mord lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer [...] aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, [...] einen Menschen tötet.“
29. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Mitwirkung eines Richters an einem früheren Verfahren zum gleichen Sachverhalt für sich genommen kein hinreichender Grund für eine Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit, sofern der Richter nicht gemäß § 23 StPO kraft Gesetzes von der Mitwirkung ausgeschlossen ist. Dies gilt unter anderem für die Mitwirkung eines Richters in einem früheren Verfahren gegen andere Beteiligte derselben Tat (siehe Bundesgerichtshof, 1 StR 233/96, Urteil vom 15. Mai 1997, Rdnrn. 28 und 32-33; 5 StR 485/05, Urteil vom 29 Juni 2006, Rdnr. 20; 2 StR 455/09, Urteil vom 30. Juni 2010, Rdnrn. 23 und 24, und 1 StR 169/15, Urteil vom 3 Dezember 2015, Rdnr. 15). Schilderungen der Handlungen erst später angeklagter Dritter in einem früheren Urteil gegen einen Mittäter sind üblicherweise notwendig, um das erforderliche vollständige Bild der Geschehnisse hinsichtlich des Mittäters zu zeichnen (siehe Bundesgerichtshof, 2 StR 653/85, Urteil vom 5. Februar 1986, Rdnr. 5, und 1 StR 233/96, a.a.O., Rdnr. 33-34). Eine solche Schilderung bedeutet nicht, dass der Richter sich hinsichtlich der Tatbeteiligung des erst später angeklagten Dritten endgültig festgelegt hat. Für Richter ist es normal, dass sie ihr Urteil zu den jeweiligen Anklagepunkten nur aufgrund des in der entsprechenden Verhandlung gefundenen Beweisergebnisses bilden (siehe Bundesgerichtshof, 2 StR 653/85, a.a.O., Rdnr. 5, und 1 StR 233/96, a.a.O., Rdnrn. 32-33).
30. Daher ist die Besorgnis der Befangenheit aufgrund der Äußerungen eines Richters in einem früheren Urteil gegen einen anderen Tatbeteiligten nur begründet, wenn besondere Umstände hinzutreten, die Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters rechtfertigen, da sie den Eindruck vermitteln, dass der Richter im Hinblick auf die später angeklagte Person eine vorgefasste Meinung hat. Solche Umstände liegen vor, wenn die in Rede stehenden Äußerungen unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über die später angeklagte Person enthalten oder wenn der Richter sich in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil der später angeklagten Person geäußert hat (siehe Bundesgerichtshof 5 StR 485/05, a.a.O., Rdnr. 20; 2 StR 455/09, a.a.O., Rdnrn. 23-24 und 28, und 1 StR 169/15, a.a.O., Rdnrn. 15-16).
31. Die Beschwerdeführerin rügte, dass das Landgericht, das sie des Mordes schuldig gesprochen hat und dessen Spruchkörper Richter M. angehörte, nicht unparteiisch gewesen sei. Sie berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass [...] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren [...] verhandelt wird.“
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Individualbeschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen in Artikel 35 der Konvention aufgeführten Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
33. Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass sie von einem Spruchkörper verurteilt worden sei, dem Richter M. angehört habe und der daher nicht dem Erfordernis aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention entsprechend unparteiisch gewesen sei.
34. Sie brachte vor, dass das Landgericht, einschließlich Richter M., in seinem Urteil gegen G.S. gezeigt habe, dass es eine vorgefasste Meinung hinsichtlich ihrer Schuld habe. In dem Urteil sei unzählige Male unter Nennung ihres vollen Namens und ohne Verweis auf ihre Stellung als Zeugin in dem Verfahren auf sie Bezug genommen worden. Diese Bezugnahmen (siehe insbesondere Rdnrn. 7-9) seien nicht auf neutrale und sachliche Darstellungen der Umstände beschränkt gewesen, die zur Verurteilung von G.S. geführt hätten. Sie sei ausführlich und ohne Vorbehalte aufgrund der Tatsache, dass sie zu jener Zeit nicht wegen Mordes angeklagt war, als Komplizin von G.S. beschrieben worden.
35. Die Beschwerdeführerin betonte, dass das Landgericht in seinem Urteil gegen G.S. die Feststellungen hinsichtlich ihrer Schuld in endgültiger Weise getroffen habe, ohne darauf hinzuweisen, dass die Schilderung des Sachverhalts ihre mutmaßliche Tatbeteiligung oder einen Verdacht gegen sie betreffe. In dem Verfahren hätte sich das Gericht aber nur davon überzeugen müssen, dass G.S., der als Alleintäter angeklagt war, des Mordes schuldig war. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin hat das Landgericht seine Überzeugung von der Tatbeteiligung der Beschwerdeführerin unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, um der Staatsanwaltschaft zu signalisieren, dass sie sie des Mordes anklagen solle. Die Staatsanwaltschaft selbst habe daraufhin bestätigt, dass das Landgericht seine Auffassung, dass die Beschwerdeführerin an der Tat beteiligt war, in dem Urteil eindeutig zum Ausdruck gebracht habe.
36. Die Beschwerdeführerin brachte ferner vor, dass Richter M. in dem späteren Verfahren gegen sie die im Urteil gegen G.S. enthaltenen Bezugnahmen auf sie nicht relativiert oder klargestellt und sich folglich nicht mit den von ihr angeführten Gründen für die Zweifel an seiner Unparteilichkeit auseinandergesetzt habe. Nach ihrem Vorbringen habe das Landgericht in dem Verfahren gegen sie nur deshalb erneut Zeugen vernommen und Sachverständige angehört und nicht auf das Urteil des Landgerichts gegen G.S. verwiesen, um das Verfahren im Einklang mit der Strafprozessordnung zu führen; das könne nicht als Beweis für die Unparteilichkeit von Richter M. ausgelegt werden.
37. Nach Auffassung der Regierung stellt die Beteiligung von Richter M. an dem Verfahren gegen die Beschwerdeführerin keinen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 dar.
38. Die Regierung machte geltend, dass das deutsche Recht genügend Vorschriften und Verfahren vorsehe, um die Unparteilichkeit von Richtern sicherzustellen. Insbesondere könne nach § 24 StPO (siehe Rdnr. 26) ein Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt werden, wenn - aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten - Anlass besteht, an der Unparteilichkeit eines Richters zu zweifeln.
39. In der vorliegenden Rechtssache gebe es keine Anzeichen dafür, dass Richter M. gegenüber der Beschwerdeführerin subjektiv befangen war. Darüber hinaus bestünden unter den Umständen der Rechtssache keine objektiv gerechtfertigten Zweifel an der Unparteilichkeit von Richter M. Die in dem Urteil gegen G.S. enthaltenen Bezugnahmen auf die Beschwerdeführerin änderten daran nichts. Das Landgericht habe den zugrundeliegenden Sachverhalt einschließlich der Rolle und des Verhaltens Dritter wie der Beschwerdeführerin in dem Verfahren vollständig wiedergeben müssen, um den Beitrag von G.S. zur Tat und damit seine Tatmotive umfassend bewerten zu können. Diese Feststellungen hätten offensichtlich keine Feststellungen zur Schuld der Beschwerdeführerin enthalten. Letztere habe von ihrem Recht Gebrauch gemacht, in dem Verfahren gegen G.S. nicht auszusagen. Daher habe ihre Glaubwürdigkeit in jenem Verfahren nicht bewertet werden müssen.
40. Darüber hinaus habe sich die Unparteilichkeit von Richter M. in dem Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin gezeigt. Nach Auffassung der Regierung stellte der Umstand, dass Richter M. von sich aus die Akte einer Kammer des Landgerichts zur Entscheidung darüber vorlegte, ob seine Beteiligung als Berichterstatter im früheren Verfahren gegen G.S. seine Ablehnung nach § 30 StPO (siehe Rdnr. 27) rechtfertige, keine Selbstablehnung des Richters dar. Nach der Anfrage durch den Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin zu seiner Beteiligung an dem Verfahren gegen G.S. sei er verpflichtet gewesen, dies anzuzeigen. Das bedeute nicht, dass er sich selbst für befangen gehalten habe.
41. In dem Verfahren gegen die Beschwerdeführerin habe das Landgericht unter dem Vorsitz von Richter M. neue Zeugenvernehmungen und Sachverständigenanhörungen durchgeführt und unter anderem durch die Zeugenaussagen von G.S. und seiner Schwester neue Beweise erhoben. Anschließend habe es eine vollständig neue Würdigung des Sachverhalts vorgenommen, ohne sich auf das frühere Urteil des Landgerichts im Verfahren gegen G.S. zu beziehen. Bei einer Reihe von Details habe das tatsächlich zu unterschiedlichen Tatsachenfeststellungen geführt.
42. Der Gerichtshof weist eingangs erneut darauf hin, dass es in einer demokratischen Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist, dass die Gerichte bei der Öffentlichkeit und, sofern es um Strafverfahren geht, insbesondere bei dem Beschuldigten Vertrauen schaffen. Zu diesem Zweck müssen Gerichte gemäß Artikel 6 unparteiisch sein (siehe Padovani ./. Italien, 26. Februar 1993, Rdnr. 27, Reihe A Band 257B, und Kyprianou ./. Zypern [GK] Individualbeschwerde Nr. 73797/01, Rdnr. 118, ECHR 2005XIII).
43. In den letzten Jahren haben die Europaratsorgane zunehmend darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die in Artikel 6 der Konvention vorgesehene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der rechtsprechenden Gewalt in Europa zu stärken, weil dies für das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Rechtsstaat von wesentlicher Bedeutung ist (vgl. u.a. die Empfehlung CM/Rec (2010)12 des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten über die Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortlichkeit der Richter, angenommen vom Ministerkomitee am 17. November 2010, und den Aktionsplan des Europarats zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, angenommen vom Ministerkomitee bei der 1253. Sitzung der Ministerstellvertreter am 13. April 2016, Dokument CM(2016)36final).
44. Unter Unparteilichkeit ist das Nichtvorliegen von Voreingenommenheit oder Befangenheit zu verstehen (siehe u.a. Denisov ./. Ukraine [GK], Individualbeschwerde Nr. 76639/11, Rdnr. 61, 25. September 2018, und Alexandru Marian Iancu ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 60858/15, Rdnr. 57, 4. Februar 2020). Ob Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 gegeben ist, ist zum einen anhand einer Prüfung nach subjektiven Kriterien zu bestimmen, bei der auf die persönliche Überzeugung und das Verhalten des betreffenden Richters in einem bestimmten Fall abzustellen ist, und zum anderen anhand einer Prüfung nach objektiven Kriterien, bei der festgestellt wird, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür bot, dass diesbezüglich alle berechtigten Zweifel auszuschließen sind (siehe u.v.a. Ferrantelli und Santangelo ./. Italien, 7. August 1996, Rdnr. 56, Reports of Judgments and Decisions 1996III; Kyprianou, a.a.O., Rdnr. 118; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 75737/01, Rdnr. 38, 10. August 2006; und Poppe ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 32271/04, Rdnr. 22, 24. März 2009).
45. Bei Zugrundelegung des subjektiven Ansatzes hat der Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung festgestellt, dass die persönliche Unparteilichkeit eines Richters bis zum Beweis des Gegenteils unterstellt werden muss (siehe Morel ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 20197/03, Rdnr. 41, ECHR 2000VI; Kyprianou, a.a.O., Rdnr. 119, und Miminoshvili ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 20197/03, Rdnr. 113, 28. Juni 2011).
46. Bei dem zweiten Ansatz, angewandt auf ein als Spruchkörper erkennendes Organ, muss bestimmt werden, ob es - abgesehen von dem persönlichen Verhalten der einzelnen Mitglieder dieses Spruchkörpers - feststellbare Tatsachen gibt, die Zweifel an dessen Unparteilichkeit begründen können. In dieser Hinsicht kann bereits der Anschein von einer gewissen Bedeutung sein (siehe Kyprianou, a.a.O., Rdnr. 118; und K ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 21698/06, 23. November 2010). Bei der Entscheidung darüber, ob in einem konkreten Fall ein berechtigter Grund zu der Besorgnis besteht, dass ein bestimmter Spruchkörper nicht unparteiisch ist, ist der Standpunkt derjenigen, die behaupten, dass er nicht unparteiisch sei, zwar wichtig, aber nicht entscheidend. Entscheidend ist, ob die Besorgnis als objektiv gerechtfertigt angesehen werden kann (siehe Morel, a.a.O., Rdnr. 42, und Wettstein ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 33958/96, Rdnr. 44, ECHR 2000XII).
47. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass sich die Besorgnis der Unparteilichkeit nicht schon allein damit begründen lässt, dass ein Tatrichter frühere Entscheidungen wegen derselben Straftat erlassen hat (siehe u.a. Hauschildt ./. Dänemark, 24. Mai 1989, Rdnr. 50, Reihe A Band 154, und Dragojevi? ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 68955/11, Rdnr. 114, 15. Januar 2015, zu vor der Hauptverhandlung ergangenen Entscheidungen, oder Thomann ./. Schweiz, 10. Juni 1996, Rdnrn. 32-37, Reports 1996III, zum Wiederaufnahmeverfahren gegen einen in Abwesenheit verurteilten Angeklagten). Gleichermaßen reicht allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden hat oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitbeschuldigten verhandelt hat, nicht aus, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen (siehe u.a., S., a.a.O., Rdnr. 42; Khodorkovskiy und Lebedev ./. Russland, Individualbeschwerden Nrn. 11082/06 und 13772/05, Rdnrn. 538 und 544, 25. Juli 2013; und B. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 4211/12 und 5850/12, Rdnr. 32, 21. April 2015). Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit insbesondere anerkannt, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, gegen die nicht in einem gemeinsamen Verfahren verhandelt werden kann, unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht zur Bewertung der Schuld der Angeklagten auf die Beteiligung Dritter eingeht, gegen die später möglicherweise ein gesondertes Verfahren geführt wird (siehe B., a.a.O., Rdnr. 36).
48. Allerdings wird eine Frage der Unparteilichkeit aufgeworfen, wenn das frühere Urteil bereits eine detaillierte Bewertung der Rolle der später wegen einer von mehreren Personen begangenen Tat angeklagten Person enthält (vgl. Ferrantelli und Santangelo, a.a.O., Rdnr. 59; Rojas Morales ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 39676/98, Rdnr. 33, 16. November 2000; Rudnichenko ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 2775/07, Rdnr. 116, 11. Juli 2013; und, im Gegensatz dazu, Khodorkovskiy und Lebedev, a.a.O., Rdnr. 549) und insbesondere wenn aus dem früheren Urteil eine bestimmte Einordnung der Beteiligung des Beschwerdeführers vorgenommen wird (siehe Poppe, a.a.O., Rdnr. 28) oder wenn das Urteil so zu verstehen ist, dass es hinsichtlich der später angeklagten Person alle für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien erfüllt sieht (vgl. Kriegisch, a.a.O., und Miminoshvili, a.a.O., Rdnrn. 116 und 118). Unter den Umständen des konkreten Falls können solche Elemente als Vorverurteilung der später angeklagten Person angesehen werden (vgl. Poppe, a.a.O., Rdnr. 26; Miminoshvili, a.a.O., Rdnrn. 116 und 119; und Khodorkovskiy und Lebedev, a.a.O., Rdnrn. 544-547) und daher zu objektiv gerechtfertigten Zweifeln dahingehend führen, dass das innerstaatliche Gericht bereits zu Beginn des gegen die später angeklagte Person geführten Verfahrens eine vorgefasste Meinung hat, was die Würdigung ihres Falls angeht. Aus der oben zitierten Rechtsprechung ergibt sich, dass sich objektiv gerechtfertigte Zweifel insbesondere dann ergeben, wenn die innerstaatlichen Gerichte über die Beschreibung der Tatsachen, die die später angeklagte Person betreffen, hinaus auch eine rechtliche Bewertung des Verhaltens dieser Person vornahmen.
49. In einer Reihe von Fällen stellte der Gerichtshof fest, dass Artikel 6 Abs. 1 nicht verletzt worden war, da in dem früheren Verfahren keine Bewertung der Schuld des Beschwerdeführers vorgenommen worden war. In der Rechtssache S., a.a.O., beruhte der in dem Urteil gegen den Mittäter hinsichtlich der Tatbeteiligung des Beschwerdeführers festgestellte Sachverhalt im Wesentlichen auf dem Vortrag des Mittäters und stellte somit keine Bewertung der Schuld des Beschwerdeführers durch das Landgericht dar. In der Rechtssache Poppe, a.a.O., hat der Gerichtshof es als entscheidend angesehen, dass der Name des Beschwerdeführers in den Urteilen gegen die Mittäter nur am Rande erwähnt wurde und die Tatrichter keine Feststellung hinsichtlich der strafrechtlichen Schuld des Beschwerdeführers getroffen hatten. In der Rechtssache Miminoshvili (a.a.O., Rdnrn. 117 f.) hat der Gerichtshof das gegen den Mittäter ergangene Urteil ausgewertet und betont, dass der Name des Beschwerdeführers dort an keiner Stelle in einem ihn belastenden Zusammenhang Erwähnung fand; das innerstaatliche Gericht hatte den Beschwerdeführer - im Gegensatz zu Ferrantelli und Santangelo, a.a.O. - nicht als „Täter“ oder „Mittäter“ bezeichnet. In dem Urteil wurden die von mehreren Zeugen zu dem Beschwerdeführer gemachten Angaben wiedergegeben. Sie wurden dort allerdings in indirekter Rede wiedergegeben, nicht als eigene Feststellungen des Gerichts.
50. Der Gerichtshof hielt es, was die Bewertung der Unparteilichkeit eines innerstaatlichen Gerichts in einem späteren Fall angeht, darüber hinaus für relevant, wenn das entsprechende Gericht aufgezeigt hat, dass es in dem späteren Fall eine neue Würdigung vorgenommen hat (siehe S., a.a.O., Rdnr. 43; Miminoshvili, a.a.O., Rdnrn. 116 und 117; und B., a.a.O., Rdnr. 35). Dies gilt, wenn sich aus dem Urteil in der späteren Rechtssache ergibt, dass die abschließende Bewertung der Rechtssache eines Beschwerdeführers auf der Grundlage der in dem späteren Verfahren vorgelegten Beweismittel und gehörten Argumente vorgenommen wurde (vgl. Morel, a.a.O., Rdnr. 45, und Kriegisch, a.a.O.). Der Gerichtshof betrachtete in diesem Zusammenhang den Umstand, dass in dem im späteren Verfahren ergangenen Urteil nicht auf die Feststellungen in dem gegen den/die Mittäter ergangenen früheren Urteil verwiesen und abgestellt wurde, als Indikator (vgl. u.a. Kriegisch, a.a.O.; Khodorkovskiy und Lebedev, a.a.O., Rdnrn. 545 und 548; und B., a.a.O., Rdnr. 35, bei denen nicht auf die Feststellungen im früheren Urteil abgestellt wurde; und, im Gegensatz dazu, Ferrantelli und Santangelo, a.a.O., Rdnr. 59, bei dem in dem im späteren Verfahren ergangenen Urteil Auszüge aus dem früheren Urteil zitiert und auf Feststellungen im früheren Urteil abgestellt wurde).
51. Wenn er die Unparteilichkeit eines Richters prüft, berücksichtigt der Gerichtshof ferner, ob der an beiden Verfahren beteiligte Richter ein Berufsrichter war, von dem man im Vergleich zu einem Schöffen oder ehrenamtlichen Richter eher erwarten kann, dass er sich von den im früheren Verfahren gewonnen Eindrücken freimachen kann (siehe Miminoshvili, a.a.O., Rdnr. 120; Khodorkovskiy und Lebedev, a.a.O., Rdnrn. 547 und 555; und B., a.a.O., Rdnr. 38).
52. Schließlich weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass der Umstand, dass ein Beschwerdeführer von einem Richter abgeurteilt wird, der selbst Zweifel an seiner Unparteilichkeit in dem Fall aufgebracht hat, die Frage aufwerfen kann, ob ein faires Verfahren vor einem unparteiischen Gericht gegeben war (siehe Rudnichenko, a.a.O., Rdnr. 118, und Paixão Moreira Sá Fernandes ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 78108/14, Rdnr. 87, 25. Februar 2020). Allerdings reicht das für sich genommen nicht für die Feststellung, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt wurde. In jedem Fall müssen die Vorbehalte des Beschwerdeführers hinsichtlich der Unparteilichkeit des Richters unter den Umständen des jeweiligen Falls objektiv gerechtfertigt sein (vgl. Dragojevi?, a.a.O., Rdnrn. 119-122; Paixão Moreira Sá Fernandes, a.a.O., Rdnr. 87; Alexandru Marian Iancu, a.a.O., Rdnrn. 67-73; und George-Laviniu Ghiur?u ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 15549/16, Rdnrn. 65-66 und 68, 16. Juni 2020).
53. Was die Entscheidung darüber angeht, ob im vorliegenden Fall das Landgericht, dessen Spruchkörper Richter M. angehörte, dem Erfordernis aus Artikel 6 Abs. 1 entsprechend unparteiisch war, ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen der Auffassung, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass Richter M. in dem Verfahren gegen die Beschwerdeführerin mit persönlicher Voreingenommenheit vorgegangen wäre. Folglich ist von der persönlichen Unparteilichkeit des Richters auszugehen (subjektiver Ansatz).
54. Der Gerichtshof muss daher prüfen, ob die Beteiligung von M. als berichterstattender Richter an dem früheren Verfahren gegen G.S., in dem das Landgericht ein Urteil mit zahlreichen Verweisen auf die Beschwerdeführerin erlassen hatte, zu einer objektiv gerechtfertigten Besorgnis führte, dass Richter M. nicht unparteiisch war (objektiver Ansatz).
55. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Richter, auf den sich die Besorgnis der Befangenheit der Beschwerdeführerin bezog, ein Berufsrichter war, bei dem davon auszugehen ist, dass er im Vergleich zu einem ehrenamtlichen Richter besser darin geschult, daran gewöhnt und darauf vorbereitet ist, sich von den in dem früheren Verfahren gegen G.S. gewonnen Eindrücken freizumachen.
56. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht in dem Verfahren gegen die Beschwerdeführerin unter Vorsitz des Richters M in einem 23 Verhandlungstage umfassenden Verfahren selbst Zeugen (auch neue, nämlich G.S. und seine Schwester) vernommen und Sachverständige angehört hat. In seinem Urteil, mit dem es die Beschwerdeführerin verurteilte, nahm das Gericht neue Tatsachenfeststellungen und eine darauf basierende neue rechtliche Würdigung vor, ohne auf die Feststellungen im Urteil gegen G.S. zu verweisen oder darauf abzustellen. Die festgestellten Tatsachen unterschieden sich in einigen Details von den im Urteil gegen G.S. getroffenen Feststellungen (siehe Rdnr. 18).
57. Der Gerichtshof ist allerdings der Auffassung, dass es sich hierbei zwar um wichtige Faktoren für die Prüfung der Frage handelt, ob das Landgericht im Fall der Beschwerdeführerin das in Artikel 6 Abs. 1 geregelte Erfordernis der Unparteilichkeit erfüllt hat, diese Faktoren den Gerichtshof jedoch nicht davon entbinden, zu prüfen, ob das Urteil des Landgerichts gegen G.S. Feststellungen enthielt, durch die die Frage der Schuld der Beschwerdeführerin tatsächlich vorweggenommen wurde (vgl. Rojas Morales, a.a.O., Rdnrn. 33-34, und Miminoshvili, a.a.O., Rdnr. 116).
58. Bei seiner Prüfung, ob das Urteil gegen G.S. derartige, die Schuld der Beschwerdeführerin vorwegnehmende Feststellungen enthielt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Bezugnahmen auf die Beschwerdeführerin in dem Urteil, in dem von „der Angeklagte und M.“ die Rede ist, erkennen lassen, dass die Beschwerdeführerin in diesem Verfahren nicht förmlich angeklagt war; ihre prozessrechtliche Stellung als Dritte (Zeugin) in diesem Verfahren war daher eindeutig.
59. Allerdings wurde die Beschwerdeführerin in dem Urteil gegen G.S. nicht nur beiläufig erwähnt. Das Urteil enthielt umfangreiche Tatsachenfeststellungen, die sich auch auf die Beschwerdeführerin bezogen. Insbesondere hieß es dort, dass „[s]ie“ - also G.S. und die Beschwerdeführerin - „beschlossen[, M.M.] zu töten“ und dass die Beschwerdeführerin nach einem „mit dem Angeklagten gemeinsam gefassten Plan[...], [M.M.] zu töten, um sich dessen Vermögen habhaft zu machen“, die Tat selbst sowie die Sicherung des Vermögens von [M.M.] vorbereitete (siehe Rdnr. 7). Darüber hinaus würdigte das Gericht Beweismittel, die in der Verhandlung erhoben wurden und auch die Beschwerdeführerin betrafen, und stellte insbesondere fest, dass der Umstand, dass weder G.S. noch die Beschwerdeführerin sich nach den Umständen des Todes von M.M. erkundigten, sich zwanglos vor dem Hintergrund erklären lasse, „weil sie selbst die Tat begingen bzw. hieran beteiligt waren“ (siehe Rdnr. 8). Außerdem führte das Landgericht, als es die Tötung von M.M. rechtlich als Mord einstufte, aus, es sei „die Rücksichtslosigkeit zu berücksichtigen, mit welcher [der Angeklagte und M.] vorgingen und mit welcher sie durch die Ermordung [von M.M.] versuchten, statt diesem in dessen Geschäfte einzutreten“ (siehe Rdnr. 9).
60. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Landgericht seine die Beschwerdeführerin betreffenden Feststellungen in dem Urteil gegen G.S. als Tatsachen mit entsprechender rechtlicher Einordnung darstellte und nicht als reine Vermutungen. Das wurde von den innerstaatlichen Gerichten selbst bestätigt, die die Auffassung vertraten, dass dies notwendig gewesen sei, um den einschlägigen Sachverhalt in Bezug auf G.S. vollständig aufzuklären und ein umfassendes Bild hinsichtlich der Planung und Vorbereitung der Tat sowie des Tatmotivs zu zeichnen (siehe Rdnrn. 14, 16 und 19-22). Insbesondere der Bundesgerichtshof hatte bestätigt, dass die in dem Urteil gegen G.S. enthaltenen Hinweise des Landgerichts auf die feste Überzeugung von der Mittäterschaft der Beschwerdeführerin als Grundlage für die Verurteilung von G.S. notwendig gewesen seien (siehe Rdnr. 22).
61. Der Gerichtshof kommt nicht umhin, festzustellen, dass das Urteil gegen G.S. eine ausführliche Würdigung der Rolle, die die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod von M.M. gespielt hat, enthielt, die über eine sachliche Darstellung der Umstände des Verbrechens hinausgeht. Damit hat es nach Auffassung des Gerichtshofs die Feststellung getroffen, dass die zur Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien auch im Hinblick auf die Beschwerdeführerin erfüllt waren. In dem Urteil werden nicht nur die vorsätzliche Tötung ihres Ehemanns und die Art der Durchführung des gemeinsam mit G.S. geschmiedeten Plans im Detail beschrieben, sondern auch die niedrigen Beweggründe der Beschwerdeführerin für ihr Handeln, nämlich das Bestreben, sich in rücksichtsloser Art und Weise das Vermögen von M.M. zu sichern. Dadurch hat das Landgericht eine rechtliche Würdigung der Tat auch im Hinblick auf die Beschwerdeführerin vorgenommen und dem Inhalt nach festgestellt, dass nicht nur G.S., sondern auch die Beschwerdeführerin aus Habgier gehandelt habe und dass Letztere demnach an dem Mord von M.M. beteiligt und dessen gleichermaßen schuldig gewesen sei. Der Gerichtshof kommt in diesem Zusammenhang nicht umhin, festzustellen, dass diese Feststellungen und die Würdigung hinsichtlich der Beschwerdeführerin vorgenommen wurden, obwohl G.S. als Alleintäter angeklagt worden war, der nach Auffassung des Gerichts alleine am Tatort gehandelt hatte, und dass die rechtliche Würdigung der Handlungen der Beschwerdeführerin über das hinausging, was notwendig war, um die Tat von G.S. rechtlich einzustufen.
62. Die Zweifel der Beschwerdeführerin, dass das Landgericht einschließlich Richter M. sich bereits mit dem Urteil gegen G.S. und damit vor dem Verfahren gegen die Beschwerdeführerin selbst eine vorgefasste inhaltliche Meinung zur Sache der Beschwerdeführerin gebildet habe, wurden auch durch die Einschätzung der Staatsanwaltschaft nach diesem Urteil bekräftigt. So hat die Staatsanwaltschaft geäußert, die Richter des Landgerichts D. hätten ihre - von der Staatsanwaltschaft geteilte - Überzeugung, dass die Beschwerdeführerin G.S. zur Tötung ihres Ehemanns angestiftet habe, in ihrem Urteil klar zum Ausdruck gebracht (siehe Rdnr. 10).
63. Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Rechtssache kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin angesichts des Wortlauts in dem Urteil gegen G.S. berechtigterweise die Befürchtung haben konnte, dass Richter M. hinsichtlich ihrer Schuld eine vorgefasste Meinung hatte. Daher waren die Zweifel der Beschwerdeführerin an der Unparteilichkeit des Landgerichts in der vorliegenden Rechtssache objektiv gerechtfertigt.
64. Der Gerichtshof erinnert ferner daran, dass ein höheres oder oberstes Gericht Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens unter bestimmten Umständen beseitigen kann (siehe De Cubber ./. Belgien, 26. Oktober 1984, Rdnr. 33, Reihe A Band 86, und Kyprianou, a.a.O., Rdnr. 134). Allerdings hat der Bundesgerichtshof, der das Urteil des Landgerichts mit der Begründung, dass Letzteres nicht unparteiisch gewesen sei, hätte aufheben können, die Verurteilung der Beschwerdeführerin bestätigt. Folglich hat das höhere Gericht den in Rede stehenden Mangel nicht beseitigt.
65. Folglich liegt eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vor.
66. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
67. Die Beschwerdeführerin hat keine Forderung nach gerechter Entschädigung nach Artikel 41 der Konvention gestellt. Daher spricht der Gerichtshof diesbezüglich keine Entschädigung zu.
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden.
[Redaktioneller Hinweis: Zugrunde liegt eine Übersetzung des BMJ. Die Entscheidung ist im Original auf der Homepage des EGMR abrufbar.]
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 348
Bearbeiter: Frederike Berghaus/Karsten Gaede