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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2021
22. Jahrgang
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Von Wiss. Mit. Lorenz Kinskofer, Universität Bielefeld[*]
Der äußerst tragische Fall, den der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zu entscheiden hatte, ist im Bereich der Palliativmedizin angesiedelt. G befindet sich in vollstationärer Unterbringung im Wohnbereich eines Pflegeheims. Er wird – im Einklang mit seiner Patientenverfügung – palliativmedizinisch versorgt mit Schmerzmedikamenten, unter anderem Morphium, und befindet sich in der "Terminalphase seiner Erkrankung". Im Rahmen der Essensausgabe erhält er versehentlich die Medikamente, die für eine Mitpatientin bestimmt waren, darunter das blutdrucksenkende Mittel "Valsartan". A, die als Wohnbereichsleiterin für die Pflege des Geschädigten zuständig war, hatte die Medikamente entgegen dem damaligen Sicherheitsstandard und den hausinternen Anweisungen nicht in dem beschrifteten Dispenser belassen, sondern in kleine Becher umgefüllt und die Verwechslung dadurch verursacht. Bei der Schichtübergabe unterrichtet A ihren Kollegen – und späteren Mitangeklagten – K über den Vorfall und bittet ihn, den Gesundheitszustand des Geschädigten zu beobachten. Seine Frage, ob schon ein Arzt informiert sei, verneint A mit dem Hinweis, dass dies nicht nötig sei. Als K der A telefonisch über den verschlechterten Zustand des Geschädigten, insbesondere seinen auffallend niedrigen Blutdruck berichtet und die Hinzuziehung eines Arztes anregt, entgegnet diese: "Spinnst du, die sperren mich ein" und bemerkt zudem, sie hoffe, dass der Geschädigte endlich sterben könne. Erst vier Tage später informiert K den zuständigen Hausarzt über die Medikamentenverwechslung. Dieser entscheidet, G aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands lediglich eine Palliativversorgung zukommen zu lassen. Wiederum drei Tage darauf verstirbt G. Dass die fehlerhaft verabreichten Medikamente maßgeblichen Einfluss auf den Todeseintritt hatten, liegt nahe, wobei eine entsprechende Kausalität nicht nachgewiesen werden konnte.
Das erstinstanzlich zuständige Landgericht verurteilte A wegen versuchten Mordes durch Unterlassen (Verdeckungsabsicht). Der 1. Strafsenat des BGH hob die erstinstanzliche Verurteilung auf und widmete sich dabei zahlreichen interessanten Rechtsproblemen. So bot sich erstmals seit dem Göttinger Organallokationsskandal[1] Gelegenheit, zur Vorsatzdogmatik des Unterlassungsdelikts, genauer zu den Anforderungen an das kognitive Vorsatzelement, Stellung zu beziehen (II.). Die – allenfalls in ihrer Deutlichkeit – überraschende Distanzierung vom 5. Strafsenat in dieser Frage machte eine Anfrage bzw. Vorlage nach § 132 GVG deshalb nicht erforderlich, weil der Senat eine lückenhafte Beweiswürdigung bezüglich des voluntativen Vorsatzelements feststellte (III.). Im Zusammenhang mit den Mordmerkmalen stellt sich neben der Problematik "Motivbündel" im Rahmen der Verdeckungsabsicht, auf die hier nicht eingegangen werden soll, die etwas exotische und in der Entscheidung nicht behandelte Frage, ob das Mordmerkmal "Heimtücke" durch Unterlassen begangen werden kann (IV.). Zuletzt gibt die Entscheidung dem neuen Tatgericht Hinweise mit an die Hand, inwieweit eine Rechtfertigung nach den Grundsätzen des Behandlungsabbruchs in Betracht kommt (V.).
Der 5. Strafsenat des BGH hatte im sog. Göttinger Fall bekanntlich bezüglich des Wissenselements des Vorsatzes verlangt, dass dem Täter bewusst sein müsse, dass der (Rettungs-)Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintreten würde.[2] Die Entscheidung hatte seinerzeit weniger im Ergebnis als vielmehr in dessen dogmatischer Begründung zu Recht massive Kri-
tik erfahren,[3] der sich nun auch der 1. Strafsenat in der vorliegenden Entscheidung anschließt.
So weist er zutreffend darauf hin, dass die vom 5. Strafsenat aufgestellten Vorsatzanforderungen eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung bedeuteten, was bereits an anderer Stelle ausführlich belegt wurde.[4]
Auch in dogmatischer Hinsicht ist die Formel des 5. Strafsenats verfehlt. Sie beruht letztlich auf einer Vermengung der hypothetischen Kausalität mit dem Beweismaßstab für deren Feststellung.[5] Diese beiden Ebenen werden bereits in der gängigen Definition – hypothetische Kausalität sei gegeben, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden könne, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele – vermischt. Hypothetische Kausalität ist nur dann gegeben, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg auch tatsächlich entfiele. Dieser Zusammenhang wird allerdings bereits dann unterstellt, wenn er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Während der im ersten Satz beschriebene Zusammenhang Teil des objektiven Tatbestands und damit Bezugspunkt des Vorsatzes ist, stellt der zweite Teil lediglich eine Beweisregel auf, deren Einhaltung nicht vom Vorsatz des Täters umfasst sein muss.[6]
Zuletzt ist dem 1. Strafsenat in dieser Frage auch deshalb zu folgen, weil die vom 5. Strafsenat herangezogenen Maßstäbe massive Strafbarkeitslücken zur Konsequenz hätten. Demnach bliebe auch der den Erfolg beabsichtigende Täter stets straffrei, wenn er nicht davon ausginge, dass eine mögliche Rettungshandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diesen Erfolg verhindern würde. So weist Hoven[7] darauf hin, dass z.B. der Vater, der seinen Sohn bei korrekt eingeschätzter Rettungswahrscheinlichkeit von etwa 80 % ertrinken lässt, straflos bliebe.
Man wird wohl spätestens mit der vorliegenden Entscheidung davon ausgehen können, dass die Tatgerichte künftig bei dieser Frage nicht auf die im sog. Göttinger Fall herangezogenen Maßstäbe abstellen werden, was im Übrigen auch das erstinstanzliche Gericht nicht getan hatte.
Nach Ansicht des 1. Strafsenats wäre die Tatsache, dass A den K unterrichtete und aufforderte, regelmäßig nach dem Gesundheitszustand des G zu sehen, ebenso als vorsatzkritisches Indiz zu berücksichtigen gewesen wie der Umstand, dass der Eintritt des Todes dem Ziel der A – der Kaschierung der Verwechslung – letztlich zuwider liefe.
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass sich der (ohnehin halbherzige) Vermeidewille[8] der A in dem Zeitpunkt, in dem ihr die konkrete Lebensgefahr des G durch dessen Zustandsverschlechterung anschaulich wurde, gerade nicht aktualisiert hat. Stattdessen wollte sie die zunächst gesetzte Risikoverringerung, als es "hart auf hart" kam, eben nicht verwirklicht wissen. So verstanden scheint der Sachverhalt doch eher eine kontinuierliche "Vorsatzentwicklung" als eine – wie der BGH meint – "ambivalente Haltung" nahe zu legen.
Inwieweit der Umstand, dass der Täter ein Eigeninteresse am Überleben des Opfers hatte, als vorsatzkritisches Indiz von Bedeutung ist, wird in der Rechtsprechung des BGH uneinheitlich beurteilt.[9] Gerade in zwei der vorliegenden ähnlichen Konstellationen, in denen jeweils Ärzte Rettungsmaßnahmen unterließen, um zuvor begangene Behandlungsfehler zu verdecken, ist dieser Umstand einmal[10] das maßgebliche Kriterium und ein anderes Mal[11] ohne Bedeutung. Dabei kann die Frage, ob die Verdeckung im Falle des Überlebens des Patienten noch erfolgversprechender wäre, nicht der Gradmesser für die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes sein. Entscheidend muss stattdessen sein, ob ein "nachvollziehbares" Motiv erklären kann, warum der Täter die ihm unerwünschten Tatfolgen dennoch bewusst riskieren sollte und dies ist hier eben ohne weiteres möglich.[12]
Bedenkt man, dass der BGH der erkannten hochgradigen Lebensgefährlichkeit – zur Erinnerung: A wusste um die Zustandsverschlechterung eines schwerstkranken Palliativpatienten unmittelbar nach einer Falschmedikation – gerade in seiner neueren Rechtsprechung erheblichen Indizwert auch für die Bejahung des voluntativen Elements beimisst,[13] scheint diese Indizwirkung doch erdrückend. Dies umso mehr, wenn man mit dem BGH die sog. Hemmschwellentheorie nicht auf Unterlassungstaten anwendet. So urteilt er in einer Fahrerflucht-Entscheidung: "In Fällen des Unterlassens bestehen[…]generell keine psychologisch vergleichbaren Hemmschwellen vor einem Tötungsvorsatz wie bei positivem Tun. Vor allem bei unterlassener Hilfeleistung nach schuldhaftem Vorverhalten greift dieses psychologische Moment wegen der typischen gegenläufigen Selbstschutzmotive nicht Platz."[14] Dass man mit dem Schluss von der anschaulichen Lebensgefahr auf den bedingten
Tötungsvorsatz im medizinischen Kontext zurückhaltend verfährt, ist sicherlich gerechtfertigt.[15] Im Falle von Vertuschungsbemühungen nach ingerentem Vorverhalten sollten jedoch auch in diesem Zusammenhang keine höheren Hürden für die Feststellung des Vorsatzes aufgestellt werden als in jedem anderen Lebensbereich.
Jedenfalls scheint es nach alledem nicht fernzuliegen, dass auch das neue Tatgericht zur Bejahung eines Tötungsvorsatzes gelangen und sich dann auch den folgenden Problemkreisen widmen wird.
Hinsichtlich der Mordmerkmale wirft der Fall ein bislang kaum vertieft behandeltes Problem auf, das auch in der Entscheidung nicht aufgegriffen wird: Kann ein Heimtückemord durch Unterlassen verwirklicht werden? Die Frage wurde vom BGH bereits einmal bejaht[16] und wird in der Literatur kontrovers beurteilt.[17]
Ein teilweise vorgebrachter Einwand argumentiert mit der Einordnung des Heimtückemordes als verhaltensgebundenes Delikt, das an die erhöhte Gefährlichkeit der Tat anknüpfe, ohne deren Erfolgsunrecht zu berühren. Die Garantenpflicht beziehe sich dagegen nur auf die Abwendung des Erfolgs.[18] Unabhängig davon, ob eine solche Aufspaltung der Garantenpflicht tatsächlich möglich ist,[19] scheint diese Sichtweise zu verkennen, dass die besondere Gefährlichkeit der Heimtücke letztlich nicht auf einer bestimmten Tätigkeit, sondern gerade auf einem Unterlassen beruht, nämlich dem Unterlassen der Ankündigung des Angriffs.[20] Akzeptiert man – so wie die h.M. dies im Rahmen der Notwehr tut[21] – einen Angriff durch Unterlassen, so resultiert in diesen Fällen in gleicher Weise wie in den Fällen aktiver Begehung die erhöhte Gefährlichkeit der Tat daraus, dass das Opfer in Unwissenheit gelassen wird.
Eine weitere Gegenstimme meint, das Mordmerkmal sei auf der Unterlassungsebene dergestalt zu modifizieren, dass das Opfer nur dann arglos sei, wenn es eine konkrete rettende Maßnahme erwarte. Da das Opfer vom Angriff – also hier vom Nichtstun des Rettungspflichtigen – überrascht werden müsse, setze seine Arglosigkeit voraus, dass es mit der Vornahme einer Rettungshandlung rechne, was wiederum das Bewusstsein der konkreten Gefahrenlage voraussetze.[22] Eine derartige "Spiegelung" auf die Unterlassungsebene – wer nicht mit einem Unterlassen rechnet, der rechnet mit einer konkreten Handlung – scheint die Dinge auf den Kopf zu stellen.[23] Demnach wäre G im vorliegenden Fall gerade deshalb nicht arglos, weil er sich seiner Lebensgefahr nicht bewusst war und demnach von der Untätigkeit der A nicht überrascht wurde. Vielmehr scheint es doch so zu sein, dass die Arglosigkeit des G gerade aus seinem fehlenden Gefahrbewusstsein resultiert. Dazu beruht seine Wehrlosigkeit gerade auf seiner Arglosigkeit, da er ansonsten auf die Hilfe Dritter hätte zurückgreifen können.
Auch wenn das letzte Wort hier noch nicht gesprochen sein dürfte, sind meines Erachtens keine überzeugenden Einwände gegen die Verwirklichung des Heimtückemerkmals durch Unterlassen erkennbar. Jedenfalls hätte der Sachverhalt eine Auseinandersetzung mit dieser Frage durchaus verdient gehabt.[24]
Dem neuen Tatgericht gibt der BGH zuletzt noch den Hinweis mit auf den Weg, dass für den Fall, dass eine selbstbestimmte Entscheidung des G nicht mehr erreichbar gewesen wäre – was aus der erstinstanzlichen Entscheidung offenbar nicht hervorgeht – ein rechtfertigender Behandlungsabbruch nach den vom BGH im sog. Fuldaer Fall[25] entwickelten Grundsätzen in Betracht komme.
Dabei wirft der Senat zum einen die Frage auf, ob die Einhaltung des betreuungsrechtlich vorgesehenen Verfahrens Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Strafbefreiung ist, um diese "wohl" zu verneinen. Dazu hatte sich der 2. Senat in besagtem Grundsatzurteil bekanntlich widersprüchlich oder mindestens missverständlich geäußert. So legte der Verweis auf die "Einheitlichkeit der Rechtsordnung" eine zivilrechtsakzessorische Betrachtung nahe, wohingegen die Aussage, es handle sich um eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Grundsatz autonom nach materiell-strafrechtlichen Kriterien zu entschieden sei, in die gegenläufige Richtung deutete.[26] Man wird dem 1. Strafsenat also zustimmen können, wenn er in der vorliegenden Entscheidung bemerkt, die Frage sei seinerzeit "offengelassen" worden. Kurz darauf nutzte der 2. Strafsenat in einer Folgeentscheidung, dem sog. Kölner Fall,[27] die Gelegenheit, zu dieser Frage erneut Stellung zu beziehen und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 1901a und 1901b BGB bei der Bewertung eines Behandlungsabbruchs zukünftig zu beachten seien,[28] was
überwiegend im Sinne eines zivilrechtsakzessorischen Standpunkts gedeutet wurde.[29] Wenn der 1. Senat einen solchen Standpunkt nun ablehnt, ist ihm darin zu folgen. So bedeutsam die betreuungsrechtlichen Vorschriften sind, um das menschliche Leben gerade in seiner Endphase vor missbräuchlicher Berufung auf einen vermeintlichen Patientenwillen zu schützen, so wenig können die Tötungsdelikte des StGB durch den BGH in Gefährdungsdelikte umgedeutet werden.[30]
Unabhängig davon – also von der strafrechtlichen Bedeutung der betreuungsrechtlichen Vorschriften –, so der 1. Senat weiter, habe eine Pflegekraft die Entscheidung, dass keine weitere Behandlung stattfindet, nur in Absprache mit einem Arzt, der allein die medizinische Indikation von möglichen Behandlungsmaßnahmen nach der Medikamentenverwechslung zu bestimmen hat, treffen dürfen. Aufgeworfen ist damit die Frage nach der personellen Reichweite des rechtfertigenden Behandlungsabbruchs. In der Fuldaer Entscheidung heißt es dazu, dass Dritte gerechtfertigt sein können, "soweit sie als von dem Arzt, dem Betreuer oder dem Bevollmächtigten für die Behandlung und Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden."[31] Ob der BGH damit gesagt hat, dass "Dritte", die außerhalb des Behandlungskontexts stehen, grundsätzlich nicht befugt sind, scheint nicht ausgemacht.[32] Und auch die für den vorliegenden Fall entscheidende Frage, ob eine Rechtfertigung von "Hilfspersonen" kompetenzgemäßes Verhalten voraussetzt, ist damit nicht beantwortet.
Ein solches rein formales Kriterium, das bei jedem Zuständigkeitsverstoß von medizinischem und Pflegepersonal eine Rechtfertigung ausschließt, wäre jedenfalls nicht sinnvoll und zum Schutz der Patientenautonomie auch nicht notwendig. Letztlich – und so ist wohl auch der 1. Senat in der vorliegenden Entscheidung zu verstehen – muss es darauf ankommen, ob der Zuständigkeitsverstoß die Zuverlässigkeit der Ermittlung des Patientenwillens beeinträchtigt.[33] So wird man hier davon ausgehen können, dass die Frage, was medizinisch möglich ist, beantwortet sein muss, um zu beurteilen, ob der Patient dies (mutmaßlich) will und diese Frage kann eben in aller Regel nur ein Arzt beantworten. In solchen Fällen ist die "subjektive Behandlungsbezogenheit" aber ein geeignetes und auch ausreichendes Kriterium, um eigenmächtige Entscheidungen Unbefugter "ins Blaue hinein" auszuschließen.[34]
Eine weitere materielle Begrenzung ergibt sich daraus, dass sich der (mutmaßliche) Patientenwille auch auf die Modalität des Behandlungsabbruchs beziehen muss.[35] Lässt sich beispielsweise im vorliegenden Fall feststellen, dass durch Hinzuziehung eines Arztes eine frühere oder effektivere Schmerzlinderung möglich gewesen wäre, steht (zusätzlich) eine vollendete Körperverletzung durch Unterlassen im Raum.
In diesem Sinne ist es zu begrüßen, dass der 2. Senat kürzlich – wenn auch in etwas anderem Zusammenhang[36] – eine mögliche Strafbarkeit nicht an der personellen Unzuständigkeit festmachte, sondern die maßgebenden Kriterien aus dem Prinzip der Patientenautonomie ableitete.[37]
Ist in dem rechtspolitisch sensiblen Bereich der Sterbehilfe durch das Institut des rechtfertigenden Behandlungsabbruchs auch weitgehend Klarheit geschaffen worden, so wirft der vorliegende Fall das Licht auf eine noch offene Frage, nämlich die nach der strafrechtlichen Beurteilung eigenmächtigen Vorgehens Angehöriger oder medizinischer Hilfspersonen. Folgt man der hier vertretenen Ansicht, dass sich die Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts nicht allein mit einer Kompetenzanmaßung begründen lässt, gibt der Fall Anlass, über die Einführung eigenständiger Verfahrensvorschriften nachzudenken. In diesem Zusammenhang könnte es durchaus überlegenswert sein, die Zuständigkeit für den Behandlungsabbruch auf ärztliches Personal zu beschränken, um missbräuchlichen oder vorschnellen Behandlungsabbrüchen durch medizinische Laien vorzubeugen.
[*] Der Verfasser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Lutz Eidam (Universität Bielefeld).
[1] BGH NJW 2017, 3249 = HRRS 2017 Nr. 968.
[2] Vgl. BGH NJW 2017, 3249, 3254.
[3] Vgl. nur Greco GA 2018, 539 ff.; Haas HRRS 2016, 384 ff.; Hoven NStZ 2017, 707 f.; Rissing-van Saan/Verrel NStZ 2018, 57 ff.
[4] Vgl. Hoven NStZ 2017, 707, 708.
[5] So auch Haas HRRS 2016, 384, 395 sowie Rissing-van Saan/Verrel, NStZ 2018, 57, 66.
[6] Ausführlich dazu Engländer JuS 2001, 958, 960 f.
[7] Vgl. Hoven NStZ 2017, 707.
[8] Zur Anwendung dieses vorsatzkritischen Kriteriums in der Rspr. vgl. BGH NStZ-RR 2006, 100, 101; BGH NStZ 2003, 259, 260 sowie BGH NStZ 2002, 316, 317; krit. dazu Puppe , in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 15 Rn. 42, die darin eine unverdiente Privilegierung ggü. dem von vornherein eine geringere Gefahr setzenden Täter sieht.
[9] Vgl. Puppe a.a.O. (Fn. 8), § 15 Rn. 91 m. zahlr. Nachw. aus der Rspr.
[10] BGH NJW 2011, 2895, 2897 = HRRS 2011 Nr. 978.
[11] BGH NStZ 2004, 35, 36.
[12] So auch Kudlich NJW 2011, 2856, 2858 in Kritik an BGH NJW 2011, 2895.
[13] Vgl. BGH NStZ 2017, 22 = HRRS 2016 Nr. 604 sowie BGH NStZ 2016, 670, 671.
[14] BGH NJW 1992, 583, 584.
[15] So auch Knauer/Brose , in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, StGB §§ 211, 212 Rn. 15f. ; Kudlich NJW 2011, 2856, 2857.
[16] HRRS 2009 Nr. 671; insoweit nicht abgedruckt in BGH NStZ 2010, 87.
[17] Für eine Begehbarkeit durch Unterlassen z.B. Fischer, StGB, 67. Aufl. (2020), § 211 Rn. 44b; Berster ZIS 2011, 255, 259 ff.; Zorn, Die Heimtücke im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB – ein das vortatliche Opferverhalten berücksichtigendes Tatbestandsmerkmal? (2013), S. 107 f.; dagegen: Arzt, Festschrift für Roxin (2001), S. 855 ff.; Bachmann/Goeck NStZ 2010, 510, 511; Rauber, Mord durch Unterlassen? (2008), S. 61 ff.
[18] Vgl. Rauber, a.a.O. (Fn. 17), S. 63 m.w.N.
[19] Kritisch dazu Schneider, in: Münchner Kommentar zum StGB, Band 4, 3 Aufl. (2017), § 211 Rn. 275.
[20] So auch Berster ZIS 2011, 255, 260.
[21] Vgl. nur Fischer, a.a.O. (Fn. 17), § 32 Rn. 5a m.w.N.
[22] Vgl. Arzt, a.a.O. (Fn. 17), S. 859; ihm folgend Rauber, a.a.O. (Fn. 17), S. 81 ff.
[23] In diesem Sinne auch Berster ZIS 2011, 255, 259.
[24] So auch Mitsch NJW 2021, 330.
[25] BGH NJW 2010, 2963 = HRRS 2010 Nr. 704.
[26] BGH NJW 2010, 2963, 2966.
[27] BGH NStZ 2011, 274 = HRRS 2010 Nr. 1078.
[28] BGH NStZ 2011, 274, 276.
[29] Vgl. nur Schneider, a.a.O. (Fn. 19), vor § 211 Rn. 179 m.w.N.
[30] In diesem Sinne auch die h.M., vgl. nur Schneider, a.a.O. (Fn. 19), vor §§ 211 Rn. 180; Engländer JZ 2011, 513, 518; Hirsch JR 2011, 37, 39; Rissing-van Saan ZIS 2011, 545, 548; a.A. Dölling ZIS 2011, 345, 348; Walter, ZIS 2011, 76, 79.
[31] BGH NJW 2010, 2963, 2968.
[32] So aber die wohl überwiegende Interpretation, vgl. Engländer, JZ 2011, 513, 519; Walter, ZIS 2011, 76, 79; wie hier Rissing-van Saan ZIS 2011, 545, 550.
[33] So auch Rissing-van Saan ZIS 2011, 545, 550.
[34] In diese Richtung auch Rosenau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 7, 12. Aufl. (2018), vor §§ 211 ff. Rn. 66.
[35] Vgl. auch Verrel NStZ 2010, 671, 675.
[36] BGH NJW 2019, 3253 = HRRS 2019 Nr. 1006: Eine Pflegekraft verabreichte einem Sterbenden eine die ärztliche Verordnung überschreitende Menge Morphin.
[37] In diese Richtung auch die Anmerkung von Lorenz JR 2020, 69, 74.