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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2021
22. Jahrgang
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Von Rechtsanwalt Dr. Ali B. Norouzi, Berlin[*]
Auch in einem Rechtssystem, dessen Rechtsentwicklung nicht allein auf Richterrecht ruht und das keine strenge Präjudizienbindung kennt, horcht man auf, wenn der BGH seine Rechtsprechung ändert. Geschieht dies innerhalb kurzer Zeit, so liegt die Vermutung nahe, dass der Wandel seinen Ursprung entweder in einem gerichtsinternen Dissens zwischen den (nunmehr sechs) Strafsenaten des höchsten Strafgerichts hat (vgl. § 132 Abs. 3 GVG) oder auf externe Impulse (durch BVerfG, EGMR oder EuGH) zur Angleichung an höherrangige Normen zurückgeht. Nicht so hier. Es ist der 5. Strafsenat, der nur acht Jahre nachdem er in BGHSt 57, 306 erstmals etwas zur revisionsrechtlichen Bedeutung der unterbliebenen Befassung mit einem Widerspruch gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO gesagt hatte, nunmehr eo ipso das Gegenteil dessen vertritt, was ihm vormals richtig erschien.
Solch offene Selbstkorrekturen sind in obergerichtlichen Entscheidungen, die ihrer Natur nach in Stil und Duktus autoritativ sein müssen, selten. Denn sie "begründen Zweifel an den Rationalitätsansprüchen gerichtlichen Begründens".[1] Es wäre daher zu einfach und würde die Bedeutung einzelner Senatsmitglieder in einem nach dem Kollegialprinzip verfassten Spruchkörper – die Entscheidung erging schließlich einstimmig[2] – überbewerten, würde man die Rechtsprechungsumkehr nur mit einem Wechsel im Senatsvorsitz[3] oder damit erklären, dass ein dezidierter Kritiker[4] von damals nunmehr als Bundesrichter im Senat an der neuen Entscheidung mitwirken konnte. Darum lohnt die Begründung des Senats für seine Rechtssprechungsabkehr binnen so kurzer Zeit – ohne Änderung der Sach- und Rechtslage – der näheren Befassung.[5]
Urkundeninhalte fließen in die strafgerichtliche Beweisaufnahme ein, indem man sie verliest (§ 249 Abs. 1 StPO), das bedeutet: laut in der öffentlichen Hauptverhandlung den übrigen Verfahrensbeteiligten vorliest. So etwas kostet Zeit und kann bei längeren (z. B. Vertragstexten), inhaltsgleichen (z. B. Standardbriefen), umständlich oder schwer verlesbar formulierten Schriftstücken (z. B. mehrspaltigen Tabellen) den Vorleser anstrengen, die Zuhörer ermüden und für alle Beteiligten das Gegenteil einer konzentrierten Durchführung der Hauptverhandlung sein. Darum hat der Gesetzgeber 1979 – die (R)StPO feierte den 100. Jahrestag ihres Inkrafttretens und der Fotokopierer auch hierzulande seinen Siegeszug durch die Büroräume[6] – eine Alternative zur mündlichen Verlesung in der Hauptverhandlung geschaffen. Danach genügt es, wenn das Gericht, also jeder Richter für sich, den Urkundeninhalt außerhalb der Hauptverhandlung gelesen hat und die übrigen Verfahrensbeteiligten Gele-
genheit zur Kenntnisnahme der fraglichen Urkunden hatten. Man nennt dies das Selbstleseverfahren. Aus dem Gerichtsalltag ist es heute nicht mehr fortzudenken, nicht nur in den seit jeher "urkundsbeweislastigen" Wirtschaftsstrafverfahren. Die fortlaufende Digitalisierung der Lebenswirklichkeit mag vielleicht zu einem weniger an Papier führen, aber nicht zu einer Minderung verlesbarer Beweisinhalte (wie etwa E-Mails, WhatsApp-Chatverläufe oder PDF-Dokumente). Wer all dem Herr werden möchte, kommt im Interesse einer konzentrierten Durchführung der Hauptverhandlung am Selbstleseverfahren kaum noch vorbei.
Seine sachliche Zweckmäßigkeit ändert aber nichts daran, dass das Selbstleseverfahren im Strafprozessrecht geregelt wird und sein Ablauf so formale Strukturen erfährt. Er ist in drei Phasen untergliedert. Die Selbstlesung wird zunächst (1) vom Vorsitzenden angeordnet; es werden sodann (2) die betreffenden Urkunden außerhalb der Hauptverhandlung durch alle Mitglieder des gerichtlichen Spruchkörpers gelesen; und es wird (3) nach der tatsächlichen Durchführung des Selbstleseverfahrens zu Protokoll (§ 249 Abs. 2 Satz 3 StPO) festgestellt, dass alle Mitglieder des Gerichts die Urkunden gelesen (das Gesetz spricht etwas umständlich von "vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen") haben und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Mehr verlangt das Gesetz nicht.[7] Beachtet das Gericht diesen Dreischritt, so werden die fraglichen Urkunden so behandelt, als seien sie in der Hauptverhandlung (öffentlich, unmittelbar und laut) verlesen worden. Sie sind damit Inbegriff der Hauptverhandlung und Gegenstand der gerichtlichen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO), mag über ihren Inhalt auch zu keinem Zeitpunkt gesprochen worden sein.
Den vorstehenden Dreischritt kann man als "Normalfall" der Durchführung des Selbstleseverfahrens bezeichnen. Im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung von 1979, die die Statthaftigkeit des Selbstleseverfahrens vom ausdrücklichen Verzicht von Staatsanwaltschaft, Angeklagten und Verteidiger auf mündliche Verlesung abhängig gemacht hat (und den Beteiligten so ein Vetorecht einräumte), geht das Gesetz seit 1987 einen anderen Weg. Die Anordnung des Selbstleseverfahrens liegt zunächst im freien Ermessen des Vorsitzenden. Er entscheidet darüber, welche Urkunden in der Hauptverhandlung verlesen und welche außerhalb der öffentlichen Beweisaufnahme eigenständig gelesen werden sollen – aber nur solange niemand widerspricht. Dann greift der im Zentrum der zu besprechenden Entscheidung stehende § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO ein, der vorsieht:
"Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, so entscheidet das Gericht."
Diese spezielle Widerspruchsmöglichkeit, der Anordnung des Vorsitzenden entgegenzutreten, war seinerzeit im Gesetzgebungsverfahren, wie der Senat zutreffend feststellt,[8] erst aufgrund der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses eingefügt worden, der die im ursprünglichen Regierungsentwurf sehr weitgehende Gestaltungsmacht des Vorsitzenden bewusst eindämmen und den übrigen Verfahrensbeteiligten zumindest eine formale Einflussmöglichkeit belassen wollte. Bei einem Widerspruch sollte die Anordnungskompetenz vom Vorsitzenden auf das gesamte Gericht verlagert werden.[9] Nicht ein einzelner Richter, sondern das gesamte Kollegialorgan sollte darüber entscheiden, ob von einer Verlesung der Urkunden in der Hauptverhandlung abgesehen werden konnte. Das Gesetz kennt solche formalen Sicherungen durch die Aktivierung der gesamten Spruchkörperkompetenz auch an anderer Stelle, wenn die materielle (so in § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO) oder formelle (so in § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO) Unmittelbarkeit durchbrochen wird. Dort entscheidet der Spruchkörper von Amts wegen, bei § 249 Abs. 2 StPO nur auf unverzüglichen Widerspruch. Das aus einer anderen Zeit stammende Konzept der "schützenden Formen"[10] scheint hier wie dort durch.
Welche Konsequenzen hat es aber, wenn der erklärte Widerspruch übergangen wird, die Anordnung des Selbstleseverfahrens also nicht auf einem Beschluss der Kammer, sondern weiterhin allein auf der kompetenzwidrigen Anordnung des Vorsitzenden beruht?
Dass es sich um einen Verfahrensfehler handelt, ist in Anbetracht der zwingenden gesetzlichen Vorgabe ("so entscheidet das Gericht") unstrittig. Nur gibt das Strafverfahrensgesetz, wie meistens, keine Antwort darauf, welche Folgen der Rechtsfehler für das weitere Verfahren und insbesondere für das Urteil, das es gebiert, haben soll. Das ist eine Frage des Revisionsrechts und ihre Beantwortung hängt davon ab, welche Bedeutung man
dem Widerspruchserfordernis zumisst und wie man das Selbstleseverfahren, gemessen an den geltenden Maximen der Beweisaufnahme, bewerten möchte.
Eine radikale, aber konsequente Lösung wäre es, mit Ventzke[11] zum revisionsrechtlichen Holzhammer zu greifen und ein solchermaßen fehlerhaft initiiertes Selbstleseverfahren in Gänze für bedeutungslos zu erklären. Der Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO begründet dann zugleich die Inbegriffsrüge. Die Urkunden gelten als nicht eingeführt. Verwertet das Gericht ihren Inhalt gleichwohl im Urteil, so muss es sich, wie auch sonst bei der Verwertung hauptverhandlungsfremden Beweisstoffes,[12] vorwerfen lassen, seine Überzeugungsbildung nicht mehr aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft und dadurch § 261 StPO verletzt zu haben. Auf die weitere Funktion des Widerspruchs und eine Bewertung des Selbstleseverfahrens im Vergleich zur unmittelbaren Urkundenverlesung kommt es dann nicht an.
In BGHSt 57, 306 spielte diese Option für den 5. Strafsenat keine Rolle.[13] Und auch jetzt wickelt er sie mit dem gleichen Satz ab: Der Widerspruch betreffe "lediglich die Art und Weise der Beweiserhebung – Verlesung oder Selbstlesung – und nicht die Verwertung der Urkunden als solche".[14] Das beschreibt den Widerspruchsgegenstand richtig, nicht aber seine Wirkung: Wenn der Widerspruch die Anordnungskompetenz dem Vorsitzenden entzieht und in die Hände des Gerichts legt, fehlt es an einer wirksamen Anordnung des Selbstleseverfahrens. Warum Fehler an dessen Anfang anders behandelt werden sollen als Fehler an dessen Ende bei der Feststellung seiner Durchführung, bleibt unklar. So begründet es nach der gefestigten revisionsgerichtlichen Rechtsprechung die Inbegriffsrüge, wenn das Tatgericht die Feststellung des Abschlusses des Selbstleseverfahrens gänzlich versäumt[15] oder unsorgfältig dokumentiert hat.[16] Solche Protokollierungsmissgeschicke werden formenstreng sanktioniert, sodass auch Urkunden, die nach ordentlicher Anordnung zur Kenntnis aller außerhalb der Hauptverhandlung gelesen worden sind, keine Berücksichtigung finden dürfen. Man darf mit Fug anzweifeln, warum die fehlerhafte Anordnung der Selbstlesung durch den hierfür nach dem unverzüglichen Widerspruch nicht mehr zuständigen Vorsitzenden nicht die gleichen revisionsrechtlichen Konsequenzen haben soll.
Anstelle des Holzhammers verwendet der Senat lieber Operationsbesteck, denkt über Sinn und Zweck des Widerspruchserfordernisses und das Verhältnis von Selbstlesung zur mündlichen Verlesung nach und kommt dabei zu ganz anderen Ergebnissen als acht Jahre zuvor.
Sie lauten: Ordne trotz Widerspruchs der Vorsitzende und nicht das Gericht das Selbstleseverfahren an, bleibe das revisionsrechtlich fast immer folgenlos. Auf solch einem Verfahrensfehler beruhe das Urteil regelmäßig nicht. Denn die unterbliebene Entscheidung der Kammer betreffe nicht, ob etwas mit Urkunden bewiesen werden soll, sondern nur, wie diese eingeführt werden. Nach der gesetzgeberischen Wertung seien das Verlesen von Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO gleichwertig. Wenn aber mit Blick auf den Beweisinhalt beide Formen der Beweiserhebung sich entsprechen, könne in der Entscheidung des Vorsitzenden für das Selbstleseverfahren kein Verfahrensfehler bestehen, der mit dem Widerspruch als hauptverhandlungsinternen Rechtsbehelf korrigiert werden müsse. So denkt sich der Senat als Revisionsgericht in die Rolle der Kammer, die über die Entscheidung des Vorsitzenden für das Selbstleseverfahren zu entscheiden gehabt hätte und kommt zu dem Schluss:
"Ein Rechtsfehler bei dieser Wahl ist nur in seltenen Ausnahmefällen[17] denkbar, weil sich die Unterschiede in der Form der Beweiserhebung regelmäßig nicht in einem anderen Beweisinhalt niederschlagen und die Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten in beiden Fällen gewahrt bleiben."[18]
Der Senat betont stattdessen die Vorteile des Selbstleseverfahrens: Man erfasse beim Selbstlesen den Inhalt von Schriftstücken mitunter sogar besser als beim bloßen Zuhören und es trage zu einer beschleunigten Durchführung des Verfahrens bei.[19] Er gesteht zwar Einschränkungen des Mündlichkeitsgrundsatzes zu, sieht aber Verteidigungsbelange des Angeklagten ansonsten nicht berührt, insbesondere das Erklärungsrecht nach § 257 StPO bleibe umfänglich gewahrt.[20] Für diese Einschätzung kann der Senat auf die Begründung des ursprünglichen Regierungsentwurfs verweisen.[21]
Wie anders sah die Welt bei gleicher Quellenlage für denselben Senat noch in BGHSt 57, 306 aus. Auch damals blickte er in die Materialien des Gesetzgebungsverfahrens, erkannte aber in der Regelungstechnik nach der Intervention des Rechtsausschusses den Willen des Gesetzgebers, am "Ausnahmecharakter" des Selbstleseverfahrens festzuhalten.[22]
Zitate aus den Materialien des Gesetzgebungsverfahrens tendieren zur argumentativen Beliebigkeit. Ob man, wie der Senat heute, maßgeblich auf die ursprüngliche Entwurfsbegründung der Bundesregierung oder, wie der Senat damals, auf die Auswirkungen der Intervention des Rechtsausschusses abstellt, hängt von der Einstellung ab, mit der man dem Selbstleseverfahren begegnet. Die Überbewertung der Materialien läuft stets Gefahr, die weitere Rechtsentwicklung, die der historische Gesetzgeber noch nicht vorhersehen konnte, aus den Augen zu verlieren. Daher muss sich der Senat kritisch fragen lassen, warum er es unerwähnt lässt, dass das Selbstleseverfahren mit Blick auf seinen Gegenstand weder 1979 noch 1987 rechtlich die Verlesung in der Hauptverhandlung ersetzen konnte. Es betraf nicht alle Urkunden. Damals waren nicht nur, wie heute, Urkundenverlesungen nach §§ 253 und 254 StPO von der Selbstlesung ausgenommen, sondern auch solche nach §§ 251 und 256 StPO, welche die Ersetzung der persönlichen Vernehmung durch Urkundensurrogate gestatten und in der Praxis besonders bedeutsam sind.[23] Wo bereits die materielle Unmittelbarkeit durchbrochen wurde, sollte nicht auch noch der Mündlichkeitsgrundsatz geschwächt werden. Inzwischen ist das anders. Die Beschränkung wurde 1994 aufgehoben,[24] und die Ausnahmetatbestände zulässiger, den Personalbeweis ersetzender Urkundenverlesungen nach §§ 251 und 256 StPO wurden kontinuierlich erweitert.[25] Diese Entwicklung konnte der historische Gesetzgeber schwerlich voraussehen.
Über die Vorteile des Selbstleseverfahrens muss mit dem Senat nicht gestritten werden. Es spart Zeit und Nerven, ermöglicht mitunter eine konzentriertere Wahrnehmung des Urkundeninhalts als es über das (für manche ungewohnte) Zuhören[26] möglich ist und entlastet so die Hauptverhandlung. Doch bei Licht besehen beschreiben seine Vorteile nichts anderes als die dem Mündlichkeitsgrundsatz inhärenten Nachteile.[27] Mündlichkeit ist ein ambivalentes Prinzip. Schon Eberhard Schmidt hat darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf das gesprochene Wort nicht unbedingt zur besseren Informationsverarbeitung beiträgt:
"Mißverständnisse können durch unbeholfene Ausdrucksweise, durch Hörfehler oder Aufmerksamkeitsmängel entstehen und möglicherweise unentdeckt bleiben. Bei Verhandlungen, die sich lange hinziehen, besteht die Gefahr der Erinnerungsmängel. Erhebliche geistige Konzentrationsfähigkeit ist u. U. erforderlich, um eine komplizierte Verhandlung zu verstehen und in allem Wesentlichen zu behalten." [28]
Daran ändert sich nichts, solange von Amts wegen keine inhaltliche Dokumentation der Hauptverhandlung erfolgt, die eine objektive Kontrolle des Beweisinhalts ermöglicht.[29] So besehen gilt das, was der Senat für Urkunden feststellt, für vieles, was in der Hauptverhandlung geschieht. Würde etwa ein schriftlicher Schlussvortrag nicht rhetorische Eskamotagen besser entlarven, Sprecher, die weniger talentiert oder geschult, weniger benachteiligen und eine konzentrierte Wahrnehmung der inhaltlichen Argumente für und gegen den Angeklagten sicherstellen?
Und doch gibt es Gründe, nicht vorbehaltlos mit dem Senat und anderen[30] in den Chor der Selbstleseeuphorie einzustimmen. Der Senat belässt es vage bei "Einschränkungen des Mündlichkeitsgrundsatzes", geht aber nicht näher darauf ein, was das bedeutet.[31] Vor acht Jahren war er an dieser Stelle weniger wortkarg:
"Eine Verlesung in der Hauptverhandlung kann den Verfahrensbeteiligten eine Chance geben, eher zu erkennen, welchen Urkunden oder Urkundeninhalten das Gericht besondere Bedeutung beimisst. Insbesondere ergibt sich durch die Verlesung die Gelegenheit für Erörterungen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Einführung des jeweiligen Beweismittels" .[32]
Und genau hier liegt das zentrale Problem des Selbstleseverfahrens: in seiner Intransparenz.[33] Sie wird deutlich,
wenn man zunächst den Sinn der Mündlichkeit in den Blick nimmt.
Die Mündlichkeit der Beweisaufnahme ist gerade das Wesensmerkmal der tatgerichtlichen Hauptverhandlung. Hierdurch unterscheidet sich die Arbeit des Tatgerichts wesensmäßig von der eines Revisionsgerichts, das sich mit Rechtsfragen beschäftigt, die in einem schriftlichen Verfahren ausreichend geklärt werden können.[34] Bei tatsächlichen Beweisfragen ist das anders. Auch wenn sie, wie Urkunden, vermeintlich objektivierte Beweisinhalte verkörpern, gingen die Väter der RStPO davon aus, und daran hat sich bis heute wenig geändert, diese Inhalte müssten ebenfalls laut zur Sprache gebracht werden, um ihren objektiven Sinn zu ermitteln. Kurz: Ohne Mündlichkeit gibt es keine formelle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme.[35] Der hiergegen gerne bemühte Einwand, bei massenhaft zu verlesenden Urkunden versage der Mündlichkeitsgrundsatz,[36] trägt nur auf den ersten Blick. Denn das Mündlichkeitsprinzip reguliert sich selbst. Massenhafte Urkundenverlesungen verhindert die praktische Vernunft des Gerichts. Sie funktionieren schon deshalb nicht, weil sie niemand aushalten würde. So geht es nicht darum, ob alle Urkunden besser in der Hauptverhandlung verlesen werden müssen, weil das Gericht schon nach Maßgabe von § 244 Abs. 2 StPO darüber zu befinden hat, welche Urkunden in der Hauptverhandlung erörtert und welche nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden können. Idealtypisch wird dann entschieden, besonders exemplarische, besonders "knallende" oder besonders zu Missverständnissen Anlass gebende Urkunden im Einzelnen zu verlesen. Die Wahrung der Mündlichkeit verlangt so eine genaue Vorbereitung der Hauptverhandlung und strukturiert sie zugleich. In der notwendigen Vorauswahl des wesentlichen Urkundsbeweisstoffes liegt eine Stärke der herkömmlichen Verlesung. Sie stellt auch sicher, dass die Hauptverhandlung nicht an der Öffentlichkeit und den Beteiligten "vorbeiläuft".[37]
Die inzwischen gelebte Praxis sieht anders aus. Das Selbstleseverfahren geschieht "leitzordnerweise". In herkömmlichen Wirtschaftsstrafverfahren werden gleich zu Beginn (meist mehrere) Selbstleseordner (im Jargon: "SLO") an die Beteiligten ausgegeben, nicht selten mehrere tausend Seiten stark. Was davon für das Gericht besonders relevant ist, weiß niemand, wenn es dies nicht irgendwann verrät. Materiell wird die Beweisaufnahme so mehr und mehr vom Akteninhalt dominiert.[38] Das Selbstleseverfahren trägt damit zum Bedeutungsverlust der Hauptverhandlung bei. Für das Tatgericht kann das bequem sein.[39] Zunächst finden Urkunden in großer Zahl Eingang in die Beweisaufnahme; ihre Relevanz für Schuld und Strafe muss erst im (schriftlichen) Urteil offengelegt werden. Bildlich gesprochen generiert das Selbstleseverfahren so "Vorratskammern" des Inbegriffs der Hauptverhandlung. Gewiss mögen hier für das Gericht gelegentlich revisionsrechtliche Risiken[40] lauern, wenn es sich mit auf diese Weise eingeführten Urkundeninhalten im Urteil nicht auseinandersetzt, obgleich aus diesen beweisrelevante Schlussfolgerungen (zu Lasten oder zum Vorteil des Angeklagten) gezogen werden können.[41] Aber das ist kein Argument für das Selbstleseverfahren, sondern Beleg seiner Schwächen.
Der Hinweis, das Erklärungsrecht des Angeklagten nach § 257 StPO werde vom Selbstleseverfahren nicht tangiert,[42] ist formal richtig. Natürlich wird dem Angeklagten nicht das Recht genommen, zu den fraglichen Urkunden eine Erklärung abzugeben. Aber wie effektiv ist diese Erklärung, wenn er faktisch nicht zu sämtlichen Urkunden etwas sagen kann? Wenn er nicht weiß, auf welchen Urkunden aus Sicht des Gerichts der Fokus liegt, welche nur "Hintergrundrauschen" sind? Und wenn die Erklärung nicht unmittelbar nach der Einführung der Urkunde in der Hauptverhandlung erfolgt, sondern der tatsächliche Zeitpunkt des Selbstlesens und damit der sinnlichen Wahrnehmung möglicherweise schon Wochen zurückliegt?[43] Der Mündlichkeitsgrundsatz stellt eben sicher, dass der Beweisstoff von allen gleichzeitig sinnlich zur Kenntnis genommen werden kann. Auch darin zeigt sich sein Wert.
Die folgenreichste Kernaussage der Entscheidung liegt aber nicht in der Beschreibung der Vorteile des Selbstleseverfahrens, sondern in der revisionsrechtlichen Bedeutung, die das Übergehen des Widerspruchs haben soll. Der Senat meint nämlich, es sei für das Urteil unerheblich, ob es die Kammer bei der Anordnung des Selbstleseverfahrens belassen oder von ihm (teilweise) abgesehen hätte. Auf dem übergangenen Widerspruch beruhe regelmäßig nichts (vgl. § 337 Abs. 1 StPO). Selbstleseverfahren und mündliche Verlesung blieben nämlich beweisrechtlich gleichwertig, Verlesung und Selbstlesung führten fast immer zu identischen Beweisinhalten. Dazu zwei Bemerkungen:
Zum Ersten: Der Sache nach überlegt der Senat, wie eine Kammer wohl entschieden hätte, wäre der Widerspruch nicht übergangen worden. Schon die Einnahme dieser Perspektive ist revisionsdogmatisch nicht unproblematisch. Wie der Senat an anderer Stelle zutreffend feststellt,[44] bezieht sich der Widerspruch auch auf die Zweckmäßigkeit des Selbstleseverfahrens. Das ist aber
eine klassische Beurteilung, die dem Tatgericht, das den gesamten Beweisstoff und die Akteure der Beweisaufnahme kennt, vorbehalten bleiben muss. Wie kann ein Revisionsgericht so etwas verlässlich beurteilen?
Zum Zweiten: Revisionsdogmatisch ist es immer heikel, Aussagen zum Beruhenszusammenhang zu generalisieren. Das Gesetz tut dies nur in § 338 StPO. Jenseits dessen bleibt die Beruhensfrage ihrem Wesen nach etwas einzelfallbezogenes und ergebnisorientiertes.[45] Mittels ihr soll gerade geprüft werden, ob sich der festgestellte Rechtsfehler auf das konkrete Urteil ausgewirkt haben kann. Kommt das Revisionsgericht zu dem Ergebnis, auf einem Verfahrensfehler könne nicht nur im konkreten Fall, sondern über ihn hinaus in (fast) allen Fällen nichts beruhen, wertet es damit zugleich die Geltungskraft der Norm im Verfahren ab. Bleibt ihre Nichtbeachtung ohne revisionsrechtliche Konsequenzen, ist der Druck gegenüber dem Normadressaten, vulgo dem Tatgericht, sich im Verfahren an das Gesetz zu halten (man kann das auch "prozessuale Compliance" nennen), spürbar gemindert. Das Verfahrensrecht verliert dann seine disziplinierende, genauer: machteinhegende Wirkung.[46] Fasst man die Kernaussage des Beschlusses zusammen, so lautet seine Botschaft an die Tatgerichte: "Ob ihr auf einen unmittelbaren Widerspruch als Kammer prüft, ob das Selbstleseverfahren angeordnet werden soll oder nicht, bleibt euch überlassen." Damit nivelliert das Revisionsgericht zugleich die wohl überlegte Entscheidung des Gesetzgebers, die Anordnung des Selbstleseverfahrens zu formalisieren und im Falle eines Widerspruchs in die Hände der Kammer zu legen. Die Geltungskraft des Rechtssatzes "Widerspricht …, so entscheidet das Gericht", wird indirekt über den Umweg des Revisionsrechts durch den Rechtssatz "Auf einer unterlassenen Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen" neutralisiert. Die Beachtung des Widerspruchs durch eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers wird so faktisch zu nicht mehr als einer bloßen Höflichkeitsgeste seitens des Gerichts.
Nun ist auch ein Revisionsverteidiger nicht geneigt, die frühere Senatsentscheidung in BGHSt 57, 306 zu verklären. Indem sie mit einer fragwürdigen Begründung das Beruhen im konkreten Fall "ausnahmsweise" verneinte,[47] zeugte auch sie von einem Denkstil der Revisionsrechtsprechung, der die Erfolgsquote von Verfahrensrügen ergebnisbezogen marginalisierte.[48] Auf dieser Bahn geht der nun vorliegende Beschluss, mag er auch als Rechtsprechungsaufgabe firmieren, nur einen Schritt weiter, wenn er den Beruhenszusammenhang negativ determiniert. Die Entwicklungslinie, auf der beide Entscheidungen mit unterschiedlicher Gewichtung stehen, kann als die "Materialisierung des Verfahrensrechts" bezeichnet werden.[49] Es wird weniger auf den Eigenwert der Formwahrung geachtet, als auf das in der Sache produzierte und für angemessen befundene Ergebnis. Wenn es stimmig erscheint, verlieren Verfahrensverstöße an Bedeutung.
Was haben sich die Zeiten geändert! Nachdem das Selbstleseverfahren 1979 Eingang in die StPO gefunden hatte, nannte es Karl Peters, der große und durchaus konservative Prozessrechtsgelehrte der Bonner Republik, "eine gesetzliche Fehlleistung", die "möglichst bald wieder gestrichen werden[sollte]"[50]. Und Geppert, frisch habilitiert und als Prozessualist ebenso wenig unter Radikalen-Verdacht stehend, sah in ihm "ein[en](partielle[n]) Rückfall in Zeiten von Geheimverfahren und Geheimjustiz".[51] Das eine war eine naive Forderung, das andere eine drastische Zuspitzung. So würde heute niemand mehr sprechen. Vergleicht man diese Kassandrarufe mit den praxisgesättigten Lobesgesängen, die das Selbstleseverfahren nunmehr beim Senat erfährt, merkt man, etwas ist anders geworden. Nur was genau? Meine Vermutung ist: das Vorverständnis.[52]
Wer Recht im Kontext betrachtet,[53] blendet nicht aus, dass Rechtsprechung von Richtern gemacht wird und fragt auch danach, was sich im Senat verändert hat, denn "[h]äufig erklären Änderungen in der personellen Zusammensetzung eines Spruchkörpers eine Rechtsprechungsänderung jenseits veränderter Sach- und Rechtslage, zumal wenn sie sich in kurzen Abständen vollzieht."[54] Es ist keiner der Richter, die an BGHSt 57, 306 beteiligt waren, mehr da.[55] Vielleicht drückt die eindeutige Distanzierung des Senats von seiner nur acht Jahre zurückliegenden Entscheidung mehr aus, als nur eine geänderte Spruchkörperbesetzung. Vergleicht man beide Spruchgruppen als Alterskohorten nach Geburtsjahrgängen, darf man nämlich von einem Generationenwechsel sprechen: Vier der Richter von BGHSt 57, 306 sind zwischen 1947 und 1956 geboren.[56] Dagegen entstammen vier Mitglieder der nun mit der Sache befassten Spruchgruppe den Geburtsjahrgängen 1966 bis 1968.[57]
Es liegt nahe, nach dem Zusammenhang zwischen Rechtserkenntnis und tatrichterlicher Sozialisation zu fragen.[58]
Wer bereits in den 1990er Jahren Bundesrichter wurde,[59] hatte seine tatrichterlichen Erfahrungen zuvor in den 1970er und 1980er Jahren in einer anderen Verfahrensrealität gesammelt. Damals waren die Hauptverhandlungen vor den Landgerichten im Durchschnitt noch etwas kürzer und der Beweisstoff weniger umfangreich als heute.[60] Das gerade erst eingeführte Selbstleseverfahren spielte in der Praxis der Tatgerichte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre nur eine marginale Rolle[61] (vielleicht dachten noch mehr Beteiligte ähnlich wie Peters). Wer dagegen erst in den späten 1990er und 2000er Jahren in die Tatsacheninstanz kam, lernte eine andere Verfahrenswirklichkeit kennen. Die Verfahren nahmen an Umfang und Dauer zu. Diese Tatrichtergeneration kennt das Selbstleseverfahren aus dem Prozessalltag weniger als Fremdkörper, sondern als eine Selbstverständlichkeit zur effektiven Bewältigung der Hauptverhandlungslast.[62] In Verfahren vor den Wirtschaftsstrafkammern ist es inzwischen nicht mehr wegzudenken,[63] auch um rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen zu verhindern, die ansonsten mit einem Vollstreckungsabschlag kompensiert werden müssten. Entsprechend praxisfern muss dessen Abwertung durch BGHSt 57, 306 in ihren Augen erschienen sein. Der Vorwurf, die Verfahrenswirklichkeit aus dem Blick verloren zu haben, klingt jedenfalls an, wenn Mosbacher den an dieser Entscheidung beteiligten
"BGH-Richtern geradezu die Teilnahme an einer Hauptverhandlung in einer großen Zoll- oder Steuerstrafsache wünschen[möchte], in der wirklich – weil nach dem BGH vorzugswürdig – alle Urkunden (Leitzordner voller Rechnungen, Buchhaltungsunterlagen, Zollbelege) nach § 249 I StPO monatelang Tag für Tag ermüdend verlesen würden. Ob sie dann noch zu dem Ergebnis kämen, die Schwächen des Selbstleseverfahrens würden auch nicht durch denkbare Vorteile gegenüber dem Verlesen ausgeglichen, erscheint mehr als zweifelhaft."[64]
Dieser Einschätzung hat sich der Senat nunmehr angeschlossen.
Ein anderes Thema bleibt, wieviel tatrichterliches Erfahrungswissen für die Arbeit eines Revisionsgerichts notwendig ist und wann es seiner Aufgabenwahrnehmung schadet. Strafprozessuale Regelungen sind einerseits darauf angewiesen, in der Praxis zu funktionieren. Darum müssen Revisionsrichter auch die Folgen ihrer Rechtsauslegung von Prozessnormen für den forensischen Gebrauch im Blick behalten. Andererseits entspricht eine gewisse Sperrigkeit gerade dem Wesen und der Eigenart von Verfahrensrecht: Formen sind nicht pragmatisch.[65] Soll die Rechtserkenntnis im Revisionsverfahren diesen Aspekt des Verfahrensrechts gegenüber einer vorschnell ergebnisorientierten Anwendungspraxis in der Tatsacheninstanz stabilisieren, schadet ihr ein wenig Distanz zum tatrichterlichen Alltag nicht, und das meint auch Selbstdistanz zur eigenen tatrichterlichen Vergangenheit.
* Ich danke meinen Mitarbeiter:innen Laura Diederichs, Anna-Julia Egger und Paul Hoffmann für ihre Unterstützung bei der Recherche und hilfreiche Kommentare zum Manuskript.
[1] Treffend Möllers in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht (2011), S. 281, 320.
[2] Das ergibt sich aus § 349 Abs. 2 StPO, der nur bei Einstimmigkeit eine Revisionsverwerfung, wie hier geschehen, durch Beschluss gestattet.
[3] Warum der tendenziell ein autoritäres Richterbild begünstigende "richtungsgebende Einfluss" des Vorsitzenden (dazu schon BGHSt 2, 71; vgl. auch Schünemann ZIS 2012, 1, 4) nicht überwertet werden sollte, hat BVerfG Beschl. v. 23. Mai 2012 – 2 BvR 610/12 – ("Doppelvorsitz") Rdn. 22 ff. klargestellt.
[4] Mosbacher NStZ 2013, 199; ders. in: LR-StPO 27. Aufl. (2019), § 249 Rdn. 56 f., der dort bereits relativierend mit Bezug zu BGHSt 57, 306 von der "(bisherigen) Auffassung des 5. Strafsenats" spricht.
[5] Der Transparenz wegen: Ich war in der Sache 5 StR 251/12, die in BGHSt 57, 306 mündete, gemeinsam mit Gunter Widmaier Revisionsverteidiger des Revisionsführers. Die gegenständliche Verfahrensrüge zu § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO hatte ich seinerzeit konzipiert und verfasst. Inwieweit diese Vorbefassung die Validität meiner Argumente gegen den nun zu besprechenden Senatsbeschluss beeinflusst, müssen die Leser:innen entscheiden.
[6] Dieser Kontext ist kein Zufall. Medien wirken auf das Recht und seine Entwicklung ein; vgl. Vesting Rechtstheorie, 2. Aufl. (2015), Rdn. 277 ff.
[7] Was aber nicht bedeutet, dass mehr unzulässig wäre: Einer transparenten und kommunikativen Verhandlungsführung entspricht es, wenn Gerichte häufig noch vor der förmlichen Anordnung des Selbstleseverfahrens eine Liste mit den vorgesehenen Urkunden ausgeben, die vorgesehene Anordnung auf diese Weise ankündigen und den Beteiligten bereits im Vorfeld Gelegenheit zur Stellungnahme geben (vgl. Mosbacher in: LR-StPO, 27. Aufl. (2019), § 249 Rdn. 67a). Und besonders fürsorglich ist es, wenn der Abschluss des Selbstleseverfahrens, wie man es ab und an in Hauptverhandlungsprotokollen lesen kann, mit belehrungsähnlichen Hinweisen an den Beschuldigten und seine Verteidigung verbunden wird, dass nunmehr der gesamte außerhalb der Hauptverhandlung verarbeitete Urkundenstoff Gegenstand der Urteilsberatung werden kann. Das Gesetz verlangt das alles nicht. Es schadet aber auch nicht, es zu tun.
[8] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 7.
[9] So ausdrücklich BT-Drs. 10/65942, S. 23.
[10] Gemeinhin wird die Begriffsbildung Zachariä (Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens[1846], S. 93) zugeschrieben. Rezeptionen dieses Gedankens finden sich u. a. bei Eb. Schmidt Lehrkommentar I, 2. Aufl. (1964), Rdn. 22. Eindrücklich im Hinblick auf die (Rück-)Besinnung hin zu diesem Konzept in der Nachkriegszeit Jungfer in: FS für Friebertshäuser (1997), S. 21 ff.
[11] Ventzke StV 2014, 114, 117; so auch ders. NStZ 2021, 249, 250.
[12] Vgl. dazu BGH NStZ 2004, 279; NStZ 2010, 409; NStZ-RR 2012, 257; Beschl. v. 13.10.2020 – 5 StR 296/20.
[13] BGHSt 57, 306, 307.
[14] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 5.
[15] BGH NStZ 2000, 47; NStZ 2005, 160; NStZ 2014, 224; dazu auch Ventzke StV 2014, 114, 117.
[16] Etwa wenn in der Feststellung nicht alle Berufsrichter und Schöffen Erwähnung finden (BGH StV 2010, 225; Beschl. v. 29.06.2011 – 4 StR 56/11, Rdn. 3) oder wenn anstelle der eigentlich einfachen Orientierung am gesetzlichen Wortlaut festgestellt wird, die Richter hätten "Gelegenheit zur Kenntnisnahme" gehabt (vgl. BGH StV 2011, 426).
[17] Ein solcher sei etwa der nicht lesekundige Angeklagte.
[18] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 18.
[19] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 15 f.
[20] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 17.
[21] Vgl. BT-Drs. 10/1313, S. 28.
[22] BGHSt 57, 306, 309.
[23] Vgl. BT-Drs. 10/1313, S. 29.
[24] Durch das sog. Verbrechensbekämpfungsgesetz v. 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186); krit. dazu Dahs NJW 1995, 253, 255 f.
[25] Das sog. 1. Justizmodernisierungsgesetz v. 24.8.2004 (BGBl. I 2198) dehnte die Verlesbarkeit nichtrichterlicher Protokolle in § 251 Abs. 1 StPO erheblich aus und schuf in § 256 Nrn. 1b, 4 und 5 StPO neue Verlesungstatbestände; das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17.8.2017 (BGBl. I S. 3202) führte den neuen Verlesungstatbestand zur Bestätigung eines Geständnisses des Angeklagten in § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein und gestattete die Verlesbarkeit von ärztlichen Körperverletzungsattesten nach § 256 Nr. 2 StPO "unabhängig vom Tatvorwurf".
[26] Wobei auch hier die fortlaufende Digitalisierung von Akteninhalten und die verbesserten technischen Möglichkeiten Modifikationen bei der Durchführung der Urkundenverlesung ermöglichen. In manchen Strafverfahren ist es während der Verlesung üblich, die Urkunde als digitalisierte PDF-Datei auf einen großen Bildschirm im Gerichtssaal zu projizieren, so dass alle Beteiligten (und sogar die Öffentlichkeit) mitlesen können.
[27] Vgl. Heger in: Handbuch des Strafrechts VII (2020), § 13 Rdn. 60; vgl. Ferner auch Norouzi in: FS Fischer (2018), S. 767 dazu, dass die Rückkopplung der Argumentation mit den Prozessmaximen topischen Charakter hat.
[28] Eb. Schmidt Lehrkommentar I, 2. Aufl. (1964), Rdn. 431.
[29] Vgl. zur aktuellen Reformdiskussion Schmitt NStZ 2019, 1; Mosbacher ZRP 2019, 158; Wehowsky NStZ 2018, 177; Bartel StV 2018, 678; Serbest StraFo 2018, 94, 97.
[30] Arnoldi NStZ 2013, 474, 475; Mosbacher in: LR-StPO, 27. Aufl. (2019), § 249 Rdn. 57; Ventzke StV 2014, 114, 118; ders. NStZ 2021, 249; differenziert Feldmann wistra 2020, 1, 3.
[31] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 17.
[32] BGHSt 57, 306, 310.
[33] Dahs NJW 1995, 553, 555. Das Transparenzdefizit räumt auch Mosbacher (in: LR-StPO, 27. Aufl.[2019], § 249 Rdn. 59) ein, weist aber darauf hin, dem könne der Vorsitzende im Rahmen offener Verhandlungsführung begegnen. Das kann man sich wünschen, das Gesetz selbst setzt es nicht voraus; zum Transparenzdefizit auch Feldmann wistra 2020, 1, 3.
[34] Vgl. Fezer StV 2007, 40, 46 f.; Norouzi StV 2015, 773, 775 f.
[35] Eb. Schmidt Lehrkommentar I, 2. Aufl. (1964), Rdn. 432.
[36] Vgl. Mosbacher NStZ 2013, 201, 202; Ventzke StV 2014, 114, 118.
[37] Vgl. Dahs NJW 1995, 553, 555.
[38] Manche sehen darin eine Tendenz zur Angleichung an den Zivilprozess (so auch Dahs NJW 1995, 553, 556).
[39] Treffend Scheffler in: Handbuch zum Strafverfahren (2008), VII Rdn. 737.
[40] Und für revisionsgeneigte Verfahrensbeteiligte spiegelbildlich Chancen
[41] Solche in Wirtschaftsstrafsachen zwar gängigen, aber fast nie erfolgreichen ("positiven") Inbegriffsrügen haben nur dann Chancen, wenn der fragliche Beweisinhalt sich auch dem Revisionsgericht ohne nähere Würdigung ("auf einen Blick") aufdrängt; dazu Widmaier/Norouzi in: MAH Strafverteidigung, 3. Aufl. (im Erscheinen), § 9 Rdn. 125 ff.; Wehowsky NStZ 2018, 177, 178, 179.
[42] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 17.
[43] So auch Dahs NJW 1995, 553, 555 f.
[44] BGH HRRS 2021 Nr. 31, Rdn. 11.
[45] Frisch in: SK-StPO 5. Aufl. (2017), § 337 Rdn. 186, 191 ff. Zum Wesen der Beruhensfrage eingehend auch ders. in: FS Rudolphi (2004), S. 609 ff.; Schlüchter in: FS Krause (1990), S. 485 ff.
[46] Zu dieser Funktion von Verfahrensrecht Kühne in: LR-StPO, 27. Aufl. (2016), Einleitung G Rdn. 38.
[47] Das war in der Sache sehr zweifelhaft. In seiner Urteilsanmerkung hielt Gössel (JR 2013, 382, 383) die Revision für offensichtlich begründet.
[48] Dazu Widmaier StraFo 2010, 310, 313.
[49] Sie ist an anderer Stelle bereits beschrieben oder beklagt worden; vgl. nur Dallmeyer Beweisführung im Strengbeweisverfahren (2002), S. 184 ff.
[50] Peters Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), S. 323.
[51] Geppert Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im Deutschen Strafverfahren (1979), S. 193.
[52] Grundlegend zur Bedeutung des Vorverständnisses für die juristische Begründungstechnik Esser Vorverständnis und Methodenwahl (1970), S. 133 ff.
[53] Dazu etwa Grimm/Kemmerer/Möllers in: dies. (Hrsg.), Gerüchte vom Recht (2015), S. 11 ff.; Lepsius JZ 2019, 793.
[54] Lepsius JZ 2019, 793, 800.
[55] Drei sind heute im Ruhestand, die beiden anderen haben den Senat gewechselt.
[56] Nämlich 1947, 1949, 1952 und 1956; der fünfte Richter ist Jahrgang 1960.
[57] Nämlich 1966, 1967, 1967 und 1968; der fünfte Richter ist Jahrgang 1956.
[58] Zur subjektiven Betroffenheit des Richters als Norminterpret im Verfahrensrecht Norouzi in: FS Fischer (2018), S. 768 f.
[59] Drei Richter der ersten Spruchgruppe wurden 1990, 1999 bzw. 2000 zu Richtern am Bundesgerichtshof ernannt.
[60] Allein von 2009 bis 2014 sind nach einer Erhebung vom OLG Celle zu 11.753 erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht die Verfahren mit mehr als 600 Blatt von 46 % auf 63 % gestiegen (Ferber Strafkammerbericht. Fakten und Folgerungen aus einer rechtstatsächlichen Untersuchung landgerichtlicher Strafverfahren[2009–2014], 2017, S. 85 f.).
[61] Gerade damit argumentierte auch der Gesetzgeber der Reform von 1987 bzw. 1994, der durch eine Vereinfachung der formalen Voraussetzungen (so 1987) und Erweiterung des materiellen Anwendungsbereichs (so 1994) einem zurückhaltenden Gebrauch unter den Tatrichtern entgegentreten wollte (vgl. BT-Drs. 10/1313, S. 28; BT-Drs. 12/6853, S. 33 f.).
[62] Diese Tendenz gilt auch jenseits der Wirtschaftsstrafverfahren. Wurde im Jahre 2009 nach einer repräsentativen Erhebung noch in 5,5 % der erstinstanzlichen Verfahren in Haftsachen vor dem Landgericht vom Selbstleseverfahren Gebrauch gemacht, hat sich die Anzahl bis 2014 bereits auf 11 % verdoppelt (Ferber Strafkammerbericht – Fakten und Folgerungen aus einer rechtstatsächlichen Untersuchung landgerichtlicher Strafverfahren[2009-2014], 2017, S. 119 ff.).
[63] Dort stieg sein prozentualer Anteil zwischen 2009 bis 2014 von 46,7 % auf 68,8 % (Ferber Strafkammerbericht – Fakten und Folgerungen aus einer rechtstatsächlichen Untersuchung landgerichtlicher Strafverfahren[2009-2014], 2017, S. 121).
[64] Mosbacher NStZ 2013, 201, 202.
[65] Vgl. Hassemer in: FS Volk (2009), S. 207; s. auch Barton in: FS Mehle (2009), S. 17, 29 ff.; U. Neumann ZStW 101 (1989), S. 52, 55 ff.