HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2021
22. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

610. EuGH C-505/19 – Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 12. Mai 2021 (WS)

Außenwirkungen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Reichweite des unionsrechtlichen Doppelverfolgungsverbots bei einer durch Interpol herausgegebenen Red Notice betreffend ein Strafverfahren in einem Drittstaat; Recht auf Freizügigkeit in der EU; Vorabentscheidungsverfahren

Art. 21 AEUV; Art. 50 GRC; Art. 54 SDÜ; RL (EU) 2016/680, insbes. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1; Interpol’s Rules on the Processing of Data (Interpol-Vorschriften für die Verarbeitung von Daten, im Folgenden RPD)

1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist, und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sind dahin auszulegen, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer auf Antrag eines Drittstaats von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Inter-

pol) herausgegebenen Red Notice ist, durch die Behörden eines Vertragsstaats des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, es sei denn, mit einer in einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung wird festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist. (EuGH)

2. Die Vorschriften der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und Art. 50 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass sie der Verarbeitung der in einer von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegenstehen, solange nicht mit einer in einem Vertragsstaat des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung bei den Taten, auf die sich die betreffende Red Notice bezieht, greift, und sofern die Verarbeitung der Daten die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie (EU) 2016/680 erfüllt, insbesondere im Sinne von deren Art. 8 Abs. 1 für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde wahrgenommenen wird. (EuGH) 3. Das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung gilt in ständiger Rechtsprechung auch für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren wie das Verfahren gemäß § 153a StPO, in denen die Staatsanwaltschaft eines Vertragsstaats ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in dem Vertragsstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat (Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge, C?187/01 und C?385/01), sofern die Entscheidung der Staatsanwalt auf einer Prüfung in der Sache beruht (Miraglia, C?469/03). (Bearbeiter) 4. Was das mit Art. 54 SDÜ verfolgte Ziel angeht, geht aus der Rechtsprechung hervor, dass das in dieser Vorschrift aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern soll, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird, um Rechtssicherheit zu gewährleisten, indem bei fehlender Harmonisierung oder Angleichung der strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten unanfechtbar gewordene Entscheidungen staatlicher Stellen beachtet werden. In diesem Zusammenhang ist Art. 54 SDÜ nämlich im Licht von Art. 3 Abs. 2 EUV auszulegen, wonach die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen bietet, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen u. a. in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C?486/14). Insbesondere geht aus der Rechtsprechung hervor, dass eine Person, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können muss, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat befürchten zu müssen (Urteil vom 28. September 2006, Gasparini u. a., C?467/04). (Bearbeiter) 5. Die Behörden eines Vertragsstaats sind nur dann verpflichtet, von der strafrechtlichen Verfolgung einer Person wegen bestimmter Taten oder der Unterstützung eines Drittstaats bei der Verfolgung der betreffenden Person durch deren vorläufige Festnahme abzusehen, wenn feststeht, dass die Person wegen derselben Tat bereits von einem anderen Vertragsstaat im Sinne von Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt worden ist, so dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. Solange nicht feststeht, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift, sind mithin sowohl die Behörden eines Vertrags- als auch die eines Mitgliedstaats befugt, eine Person, die Gegenstand einer von Interpol herausgegebenen Red Notice ist, vorläufig festzunehmen. (Bearbeiter)

6. Sobald die Behörden eines Vertrags- oder Mitgliedstaats, in den sich diese Person begibt, davon Kenntnis erlangen, dass in einem anderen Vertrags- oder Mitgliedstaat eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung in Bezug auf die von der genannten Red Notice erfassten Taten greift – gegebenenfalls nach Einholung der erforderlichen Informationen bei den zuständigen Behörden des Vertrags- oder Mitgliedstaats, in dem der Strafklageverbrauch eingetreten sein soll –, stehen sowohl das gegenseitige Vertrauen der Vertragsstaaten, das Art. 54 SDÜ impliziert (siehe oben, Rn. 80), als auch die in Art. 21 Abs. 1 AEUV in Ver-

bindung mit Art. 50 der Charta garantierte Freizügigkeit einer vorläufigen Festnahme bzw. Inhafthaltung der betreffenden Person durch diese Behörden entgegen. In diesen Fällen wäre die mit der vorläufigen Festnahme der Person, die Gegenstand der Red Notice ist, verbundene Beschränkung von deren Freizügigkeit in diesen Fällen nicht durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit gerechtfertigt, da die Person wegen der von dieser Red Notice erfassten Taten bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist. (Bearbeiter)

7. Um in solchen Fällen die praktische Wirksamkeit von Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, zu gewährleisten, obliegt es den Mitglied- und Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, die es den betroffenen Personen ermöglichen, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu erwirken, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. (Bearbeiter) 8. Nach Art. 87 RPD sind die Mitgliedstaaten von Interpol, wenn eine Person, die Gegenstand einer Red Notice ist, in ihrem Hoheitsgebiet gefunden wird, nur dann verpflichtet, die gesuchte Person vorläufig festzunehmen, wenn eine solche Maßnahmen „nach [ihren] Rechtsvorschriften und den geltenden internationalen Verträgen zulässig“ ist. In Fällen, in denen die vorläufige Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, weil die betreffende Red Notice Taten betrifft, bei denen das Verbot der Doppelbestrafung greift, verstößt ein Mitgliedstaat von Interpol, wenn er die betreffende Person nicht vorläufig festnimmt, daher nicht gegen seine Verpflichtungen als Mitglied von Interpol. (Bearbeiter) 9. Die von den Behörden eines Mitgliedstaats auf der Grundlage des nationalen Rechts vorgenommene Speicherung der in einer Red Notice von Interpol enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken dieses Mitgliedstaats stellt eine Verarbeitung dieser Daten dar, die unter die Richtlinie 2016/680 fällt. (Bearbeiter)

10. Die Speicherung der in einer Red Notice von Interpol enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten ist nicht mehr erforderlich, wenn die betreffende Person wegen dieser Taten bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, so dass die betroffene Person gemäß Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 von dem Verantwortlichen verlangen können muss, sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen. Werden die Daten jedoch weiter gespeichert, müssen sie mit dem Hinweis versehen werden, dass die betreffende Person in einem Mitglied- oder Vertragsstaat aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung wegen derselben Taten nicht mehr verfolgt werden darf. (Bearbeiter)


Entscheidung

523. BVerfG 2 BvR 1543/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. April 2021 (BGH / LG Lüneburg)

Verständigung im Strafverfahren (Erfordernis einer ausdrücklichen Zustimmung zum gerichtlichen Verständigungsvorschlag; konkludente Zustimmung nicht ausreichend; keine Heranziehung des Verfahrensablaufs zur Auslegung sonstiger Prozesserklärungen der Staatsanwaltschaft als Zustimmungserklärung; kein strukturelles Regelungsdefizit der Vorschriften über die Verständigung; Transparenz- und Dokumentationspflichten; effektive Kontrolle des Verständigungsgeschehens; regelmäßiges Beruhen des Urteils auf fehlender Zustimmung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Darlegungen zur Einhaltung der Monatsfrist; Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten der strafgerichtlichen Entscheidung in Zweifelsfällen).

Art. 20 Abs. 3 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 37 Abs. 2 StPO; § 257c Abs. 2 Satz 2 StPO; § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO

1. Die allgemeine Begründungslast des § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG verlangt von einem Beschwerdeführer im Zweifelsfall die schlüssige Darlegung, dass die einmonatige Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde eingehalten ist. (BVerfG)

2. In Strafsachen werden Entscheidungen regelmäßig sowohl dem Verteidiger als auch dem Beschuldigten bekanntgegeben. Daher ist substantiierter Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten – oder die Klarstellung, dass der Beschluss nur einem der Beteiligten bekanntgegeben wurde – jedenfalls dann erforderlich, wenn sich die Einhaltung der Monatsfrist nicht ohne weiteres aus den vorgelegten Unterlagen ergibt. Die Regelung des § 37 Abs. 2 StPO findet im verfassungsgerichtlichen Verfahren keine Anwendung. (BVerfG)

3. Die Vorgaben an die Transparenz des Verständigungsverfahrens erfordern, dass Angeklagter und Staatsanwaltschaft einem gerichtlichen Verständigungsvorschlag ausdrücklich – und nicht lediglich konkludent – zustimmen. Nur in Ausnahmefällen wird ein Urteil nicht darauf beruhen, dass das erkennende Gericht bei einer verfahrensrechtswidrig nur konkludent erklärten Zustimmung von einer wirksamen Verständigung ausgegangen ist. (BVerfG)

4. Der noch immer defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt jedenfalls derzeit noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelungen. Deren wissenschaftliche Evaluation im Jahre 2020 hat kein strukturelles Regelungsdefizit aufgezeigt, sondern ergeben, dass die Transparenz- und Dokumentationsvorschriften jedenfalls in Verfahren vor den Landgerichten mehrheitlich beachtet werden. (Bearbeiter)

5. Die Zustimmungserklärungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft sind für die Verständigung konstituierend. Wie alle wesentlichen Elemente einer Verständigung sind sie deshalb zum Gegenstand der öffentlichen Hauptverhandlung zu machen und zu protokollieren, um der Öffentlichkeit, der Staatsanwaltschaft und dem Rechtsmittelgericht eine effektive Kontrolle des Verständigungsgeschehens zu ermöglichen. Daraus folgt auch das Gebot einer ausdrücklichen Zustimmung. Eine nur konkludente Zustimmung wäre mit den Transparenz- und Dokumentationspflichten nicht in Einklang zu bringen, könnte zu Unsicherheiten über Form und Inhalt der Erklärung führen und ließe Raum für verfassungsrechtlich unzulässige informelle Absprachen. (Bearbeiter)

6. Auf einer fehlenden ausdrücklichen Zustimmung zur Verständigung wird ein Urteil regelmäßig beruhen, da das Erfordernis einer ausdrücklichen Zustimmung zum Kern des dem Verständigungsgesetz zugrundeliegenden Schutzkonzepts gehört und in engem Zusammenhang mit den Transparenz- und Dokumentationspflichten steht. Die für einen Verstoß gegen diese Pflichten entwickelten Maßstäbe gelten somit auch für Verfahrensfehler

bei Abgabe und Dokumentation der erforderlichen Zustimmung. (Bearbeiter)

7. Auch zum Schutz des Angeklagten ist es unzulässig, den Verfahrensablauf heranzuziehen, um sonstige Prozesserklärungen der Staatsanwaltschaft als Zustimmungserklärung zu einer Verständigung zu werten, wenn die Prozesserklärungen zeitlich erst nach dem im Rahmen der Verständigung abgelegten Geständnis abgegeben wurden. (Bearbeiter)

8. Die Verwerfung einer Revision des Angeklagten begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Revisionsgericht für eine wirksame Verständigung eine konkludente Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft ausreichen lässt, welche daraus hergeleitet wird, dass die Staatsanwaltschaft nach dem verständigungsbasierten Geständnis des Angeklagten einer Verfahrensabtrennung zugestimmt und im Schlussvortrag eine Strafe beantragt hatte, die sich im Rahmen des Verständigungsvorschlags hielt. (Bearbeiter)


Entscheidung

520. BVerfG 2 BvR 156/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. April 2021 (Hanseatisches OLG)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Auslieferung an Lettland zum Zwecke der Strafverfolgung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (unionsgrundrechtliches Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung; gerichtliche Aufklärungspflicht; zweistufiges Prüfprogramm; unzureichende Sachaufklärung bei Beschränkung auf die Untersuchungshaftanstalt; Gesamtwürdigung der konkret zu erwartenden Haftbedingungen; Ersuchen um Übermittlung der notwendigen Zusatzinformationen innerhalb angemessener Frist; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; Zusicherungen des Ausstellungsmitgliedstaats; Überprüfung der Belastbarkeit durch gerichtliche Gefahrenprognose).

Art. 4 GRCh; Art. 3 EMRK; Art. 15 Abs. 2 RbEuHb; Art. 17 RbEuHb

1. Eine Entscheidung, mit der eine Auslieferung nach Lettland aufgrund eines europäischen Haftbefehls für zulässig erklärt wird, berücksichtigt die Bedeutung und Tragweite von Art. 4 GRCh und die damit verbundenen Aufklärungspflichten nicht in ausreichendem Maße, wenn das Oberlandesgericht bei der Überprüfung der konkret zu erwartenden Haftbedingungen lediglich die Haftanstalt der Untersuchungshaft in den Blick nimmt und dabei außer Acht lässt, dass die lettischen Behörden von einer späteren Unterbringung im geschlossenen oder halboffenen Vollzug ausgehen. Bezüglich der erfragten Haftbedingungen darf sich das Gericht nicht mit einer nicht auf den konkreten Fall zugeschnittenen Mitteilung der lettischen Behörden begnügen, der sich keine Informationen zu den fraglichen Aspekten der Aufschlusszeiten, der Belüftung und des ausreichenden Tageslichts entnehmen lassen (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 2. Februar 2021 [= HRRS 2021 Nr. 281]).

2. Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten – zunächst mit Blick auf systemische Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat, sodann hinsichtlich der für die Situation des Verfolgten maßgeblichen materiellen Haftbedingungen – von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der zu Überstellende nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Der zweite Prüfungsschritt erfordert eine Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen und darf nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden.

3. Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit dem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Dieses muss sich zunächst auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder Haftanstalten betreffender Mängel belegen können.

4. Das Gericht muss den Ausstellungsmitgliedstaat sodann um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die zu erwartenden Haftbedingungen bitten. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm gesetzten Fristen zu übermitteln. Kann die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.

5. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den europäischen Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll.

6. Auf eine konkrete Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats muss sich das mit dem Überstellungsersuchen befasste Gericht zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können.


Entscheidung

521. BVerfG 2 BvR 320/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 22. April 2021 (OLG Naumburg / LG Stendal)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Freiheitsgrundrecht; Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung; verfassungsrechtliches Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Pflicht zur regelmäßigen Heranziehung eines neuen externen Sachverständigen gerade auch bei Entscheidung nach Aktenla-

ge wegen fehlender Mitwirkungsbereitschaft des Untergebrachten; Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtsschutzbedürfnis; Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 66 StGB; § 67d Abs. 3 StGB; Art. 316e Abs. 1 EGStGB; Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB; § 463 Abs. 3 Satz 3 StPO; § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO; § 454 Abs. 2 StPO

1. Die Anordnung der Fortdauer einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, wenn die Strafvollstreckungskammer auf der Grundlage des Gutachtens eines externen Sachverständigen entscheidet, der innerhalb von zweieinhalb Jahren bereits zum vierten Mal mit der Begutachtung des langjährig Untergebrachten beauftragt worden war und der sein Gutachten mangels Mitwirkungsbereitschaft des Untergebrachten lediglich nach Aktenlage erstellt hat, so dass die Gefahr einer repetitiven Routinebeurteilung auf der Hand liegt.

2. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, die auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert, ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben.

3. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die prognostische Begutachtung von im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten gelten auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung. Danach ist es bei einer langjährigen Unterbringung in der Regel geboten, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden Sachverständigen hinzuzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Anstalt oder der Beziehung zwischen Untergebrachtem und Therapeuten das Gutachten beeinflussen. Aus denselben Gründen kann es angezeigt sein, den Untergebrachten von einem Sachverständigen begutachten zu lassen, der im Vollstreckungsverfahren noch überhaupt nicht mit dem Untergebrachten befasst war.

4. Auch wenn ein neuer Sachverständiger sein Gutachten ohne Exploration des Untergebrachten allein auf der Grundlage der Akten, der Vorgutachten sowie der Unterbringungsunterlagen erstellt hat, erhöht dies regelmäßig die Prognosesicherheit des Gerichts, weil der Gutachter die Feststellungen und Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtung einer eigenständigen Bewertung zuführen wird, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können.

5. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen ist.


Entscheidung

522. BVerfG 2 BvR 1344/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. März 2021 (OLG Dresden / LG Chemnitz)

Verlegung eines Strafgefangenen in eine andere Justizvollzugsanstalt (Beeinträchtigung des Resozialisierungsanspruchs; Abbruch sozialer Bindungen; Verlust von Arbeitsmöglichkeit oder Ausbildungsplatz; Erfordernis einer Rechtfertigung der Verlegungsentscheidung bei entgegenstehendem Willen des Gefangenen; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Rückverlegung nach Fehlverhalten trotz bereits verhängter Disziplinarmaßnahmen); Absehen von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung (Recht auf effektiven Rechtsschutz; kein Leerlaufen des Rechtsmittels; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 8 StVollzG; § 16 Abs. 1 SächsStVollzG

1. Die (Rück-)Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt verletzt den Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen, wenn die Strafvollstreckungskammer ohne weitere Sachaufklärung davon ausgeht, der Gefangene wünsche seine Verlegung, obwohl dieser dem entsprechenden Vortrag der Anstalt im gerichtlichen Verfahren detailliert entgegengetreten ist.

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist verletzt, wenn die Strafvollstreckungskammer nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Verlegung für den Gefangenen den Verlust des Ausbildungsplatzes nach sich zieht und dass das Fehlverhalten des Gefangenen, welches Anlass der Verlegung war, bereits mit Disziplinarmaßnahmen geahndet worden ist.

3. Wird ein Strafgefangener gegen seinen Willen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt, so greift dies – insbesondere wegen des Abbruchs aller in der Anstalt entwickelten sozialen Beziehungen – in sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein und kann auch seinen Resozialisierungsanspruch beeinträchtigen. Eine zusätzliche erhebliche Beeinträchtigung ergibt sich, wenn der Wechsel der Anstalt mit dem Verlust einer Arbeitsmöglichkeit verbunden ist.

4. Verlegungen, die nicht ihrerseits durch Resozialisierungsgründe bestimmt sind, bedürfen einer Rechtfertigung und müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden.

5. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG (teilweise) von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit der Rechtsschutzgarantie nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leerläuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, etwa weil die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.