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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2021
22. Jahrgang
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1. Die Vermögensabschöpfung nach dem Reformgesetz vom 13. April 2017 ist keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter (Fortführung von BVerfGE 110, 1 <13 ff.>). (BVerfG)
2. Die in Art. 316h Satz 1 EGStGB angeordnete Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist nicht an Art. 103 Abs. 2 GG, sondern an dem allgemeinen Rückwirkungsverbot zu messen. Sie ist hier ausnahmsweise zulässig. (BVerfG)
3. Die Vorschriften über die selbständige Einziehung in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung sind mit dem Grundgesetz vereinbar, auch soweit hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der Einziehungsbetroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung eingetreten war. (Bearbeiter)
4. Die Einziehung von Taterträgen ist nicht an dem spezifisch strafrechtlichen Rückwirkungsverbot zu messen, weil sie ungeachtet ihrer auch generalpräventiven Wirkung keine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG darstellt, mit der ein rechtswidriges, sozial-ethisches Fehlverhalten vergolten wird. Wie bereits der Verfall nach alter Rechtslage ist sie insbesondere keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter. Als Mittel der Störungsbeseitigung knüpft sie zwar an in der Vergangenheit begründete Zustände an, ist in ihrer Zielrichtung jedoch zukunftsbezogen. (Bearbeiter)
5. Die Qualifizierung der Vermögensabschöpfung als Maßnahme eigener Art und nicht als Strafe steht auch im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist. (Bearbeiter)
6. Art. 316h Satz 1 EGStGB ermöglicht im Nachhinein die Einziehung von Taterträgen in Fallkonstellationen, in denen nach altem Recht die Verjährung der Herkunftstat dem Verfall entgegenstand. Anders als eine lediglich tatbestandliche Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung) ist eine solche „echte“ Rückwirkung, bei der eine Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Rechtsnorm für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll, mit dem Vertrauensschutzgebot grundsätzlich nicht vereinbar. (Bearbeiter)
7. Verfassungsrechtlicher Maßstab für die Zulässigkeit einer Rechtsänderung, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpft und zugleich Rechtsfolgen in die Vergangenheit erstreckt, ist wegen des Schwergewichts der Regelung auf der Rechtsfolgenseite das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den von der Rechtsfolgenanordnung berührten Grundrechten – bei der Vermögensabschöpfung insbesondere dem Eigentumsgrundrecht. (Bearbeiter)
8. Die Grenzen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis ergeben sich aus einer Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl. Dabei erhöht sich die Bedeutung der berührten Vertrauensschutzbelange in Abhängigkeit von der Schwere des Eingriffs in das sachlich berührte Grundrecht. (Bearbeiter)
9. Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes indes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gilt nicht, soweit sich ausnahmsweise kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen nicht schutzwürdig war. Dies ist für Fälle anerkannt, in denen der Betroffene bereits mit der Änderung der gesetzlichen Regelung rechnen musste, weil etwa die Klärung einer unsicheren oder verworrenen Rechtslage zu erwarten war oder weil das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden. Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern, wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (sog. Bagatellvorbehalt). (Bearbeiter)
10. Die Anwendung des neuen Vermögensabschöpfungsrechts auf Sachverhalte, in denen bei Inkrafttreten des Reformgesetzes hinsichtlich der Erwerbstat bereits Verfolgungsverjährung eingetreten war, ist durch überragende Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Anordnung das Ziel, auch für verjährte Taten vermögensordnend einzugreifen und dem Täter den Ertrag seiner Taten – auch im Falle fehlender Strafverfolgung – nicht dauerhaft zu belassen. (Bearbeiter)
11. Das verfolgte Ziel ist überragend wichtig. Die Entziehung strafrechtswidrig erlangter Werte soll die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken. Von besonderer Bedeutung sind diese Gesichtspunkte im Bereich der Organisierten Kriminalität wie auch in Deliktsfeldern, in denen in Ermangelung eines unmittelbar Geschädigten nicht ohne Weiteres mit dem Entzug deliktisch erlangten Vermögens zu rechnen ist. (Bearbeiter)
12. Demgegenüber steht die Vertrauensschutzposition der von der Einziehung Betroffenen zurück. Die Bewertung eines Verhaltens als Straftat bringt zum Ausdruck, dass dieses in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist. Der Eintritt der Verfolgungsverjährung nimmt der begangenen Handlung ihren Unrechtscharakter nicht. Ein Vertrauen in den Fortbestand einer Vermögenszuordnung ist nicht schutzwürdig, wenn bereits zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser allgemein und anerkanntermaßen missbilligt war. Dies gilt für den Straftäter ebenso wie für den nicht gutgläubigen Drittbereicherten. (Bearbeiter)
1. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn nicht nachvollziehbar dargelegt ist, weshalb die zuständige Strafkammer über vier Monate nach Erhebung der Anklage noch keine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens getroffen hat. Entscheidungen über einen Haftprüfungsantrag und die Bestellung eines Pflichtverteidigers sind dabei regelmäßig nicht geeignet, ein Zuwarten mit der Eröffnung zu rechtfertigen.
2. Die Abstimmung von Terminen für eine Hauptverhandlung ab einem Zeitpunkt, zu dem sich der Beschuldigte bereits mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden haben wird und der Eingang der Akten beim Landgericht über acht Monate zurückliegt, ist mit Blick auf das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nur aus gewichtigen Gründen zu rechtfertigen. Solche sind nicht dargetan, wenn der Haftfortdauerbeschluss nicht erkennen lässt, inwieweit die durch ein von der Strafkammer verhandeltes Großverfahren bedingte Überlastung nur vorübergehend, unvorhersehbar und unvermeidbar war.
3. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.
4. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund.
5. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.
6. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen beansprucht auch für das gerichtliche Zwischenverfahren Geltung. Im Falle der Entscheidungsreife ist über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen.
7. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen. Eine erst bevorstehende, aber schon zum Entscheidungszeitpunkt deutlich absehbare Verfahrensverzögerung steht dabei bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen gleich.
8. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.
9. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.
Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Lettland zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 4 GRCh und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht im Einzelfall nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob der Verfolgte nach seiner Überstellung in einer lettischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, und wenn es keine eigene Gefahrenprognose angestellt hat, um die Belastbarkeit einer – ohnehin nicht ausreichend konkreten und nachvollziehbaren – Zusicherung der lettischen Behörden hinsichtlich der zu erwartenden Haftbedingungen einschätzen zu können.
1. Das Erfordernis einer ausreichenden Begründung der Verfassungsbeschwerde umfasst auch die Sachentscheidungsvoraussetzungen – wie insbesondere die Einhaltung der Frist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG –, soweit nicht aus sich heraus erkennbar ist, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.
2. Im Falle mehrfacher Bekanntmachung einer strafgerichtlichen Entscheidung beginnt der Lauf der verfassungsprozessualen Monatsfrist bereits mit der zuerst bewirkten Zustellung oder formlosen Mitteilung der den Rechtsweg beendenden Entscheidung. Zu berücksichtigen sind dabei Zustellungen an einen zustellungsbevollmächtigten Verteidiger und an den Beschuldigten sowie auch die Unterrichtungen nach § 145a Abs. 3 StPO über die Zustellung an eine andere Person.
3. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist die Angabe aller Zugangszeitpunkte oder die Klarstellung, dass nur eine einzige Bekanntgabe erfolgt ist, insbesondere dann erforderlich, wenn die Verfassungsbeschwerde über einen Monat nach dem Entscheidungsdatum der angegriffenen Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht eingeht und der Verteidiger einen Zugangszeitpunkt bei sich selbst angibt, wonach die Verfassungsbeschwerde nur kurz vor Ablauf der Monatsfrist erhoben wurde. Andernfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschuldigte die Entscheidung bereits zu einem früheren Zeitpunkt erhalten hat.
1. Macht ein Sicherungsverwahrter unter Benennung von Zeugen geltend, im Wege einer sanktionsähnlichen Einschränkung seiner Aufschlusszeiten über einen Zeitraum von zwei Monaten rechtswidrig von anderen Untergebrachten isoliert worden zu sein, so verletzt die Strafvollstreckungskammer seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie ein Feststellungsinteresse allein unter dem Gesichtspunkt einer mangelnden Wiederholungsgefahr verneint, ohne zu berücksichtigen, dass bei Zugrundelegung des substantiiert vorgetragenen Sachverhalts ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse aufgrund des im Raum stehenden gewichtigen Grundrechtseingriffs anzuerkennen ist.
2. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung vom Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses abhängig zu machen, sofern berücksichtigt wird, dass ausnahmsweise auch nach Erledigung des Verfahrensgegenstandes ein Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage bestehen kann.
3. Ein Rechtsschutzinteresse besteht trotz Erledigung unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann. Mit Blick auf den Strafvollzug wäre es nicht hinnehmbar, dass eine Vollzugsanstalt die Erledigung eines Rechtsstreits ohne Anerkennung der Rechtswidrigkeit selbst herbeiführt und sich so der gerichtlichen Kontrolle von grundrechtseingreifenden Maßnahmen entzieht.
4. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz erfordert eine zureichende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung. Die Fachgerichte dürfen auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind, nicht hingegen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint. Bestreitet ein Gefangener die Sachverhaltsdarstellung der Vollzugsanstalt, so darf das Gericht seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die Ausführungen der Anstalt zugrunde legen.
5. Das subjektive Recht auf Gleichbehandlung ist im Rahmen des Justizgewährungsanspruchs gerichtlich verfolgbar und Teil der Garantie effektiven Rechtsschutzes.
6. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leerläuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, etwa weil die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.
1. Die Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer wird den sich aus der Rechtsschutzgarantie ergebenden Anforderungen an die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens nicht gerecht, wenn sie davon ausgeht, ein Straf-
gefangener habe einen mit Gerichtskosten verbundenen Hauptsacheantrag nach § 109 StVollzG gestellt, obwohl dieser erklärtermaßen zunächst nur Beratungshilfe für eine Erstberatung bei einem Rechtsanwalt erhalten wollte.
2. Der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf grundsätzlich gleiche Chancen von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte besteht auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz. Die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der Behörde, gegen deren belastende Maßnahme um Rechtsschutz ersucht wird, ist demgegenüber keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit.