HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2021
22. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

31. BGH 5 StR 197/20 – Beschluss vom 11. November 2020 (LG Hamburg)

BGHSt; regelmäßig kein Beruhen des Urteils bei unterlassener Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren (gleichwertige Alternative zum Verlesen der Urkunde; Verstoß gegen Verfahrensrecht; „Widerspruchslösung“).

§ 249 Abs. 2 StPO; § 238 Abs. 2 StPO; § 337 StPO

1. Auf dem Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen, weil dieses Verfahren eine gleichwertige Alternative zum Verlesen einer Urkunde ist (Aufgabe von BGHSt 57, 306). (BGHSt)

2. Der Inhalt einer Urkunde erschließt sich gerade bei umfangreicheren Schriftstücken durch Selbstlesen regelmäßig besser als durch Zuhören beim Vorlesen. Beim Selbstlesen besteht die Möglichkeit, Pausen einzulegen, vor- und zurückzublättern, Passagen mehrfach zu lesen, diese zu markieren und sinnstiftende Zusammenhänge hervorzuheben. Da der Urkundenbeweis der Ermittlung des durch Lesen erfassbaren gedanklichen Inhalts eines Schriftstücks, sonstigen Schriftträgers oder einer elektronischen Urkunde dient, ist mit dem Selbstleseverfahren keine Einbuße an Qualität hinsichtlich des Beweiserhebungsvorgangs verbunden. (Bearbeiter)

3. Für den Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO gilt – wie bei § 238 Abs. 2 StPO –, dass das Unterlassen eines Gerichtsbeschlusses nach Anrufung des Gerichts die Revision regelmäßig nur begründet, wenn die beanstandete Maßnahme des Vorsitzenden gegen das Verfahrensrecht

verstoßen hat. Dabei muss sich im Fall des § 249 Abs. 2 S. 2 StPO dieser Verstoß nicht auf die Einführung des Urkundeninhalts überhaupt („ob“), sondern auf die Einführung gerade im Wege des Selbstleseverfahrens („wie“) beziehen. (Bearbeiter)

4. Ein Rechtsfehler bei dieser Wahl ist nur in seltenen Ausnahmefällen denkbar, weil sich die Unterschiede in der Form der Beweiserhebung regelmäßig nicht in einem anderen Beweisinhalt niederschlagen und die Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten in beiden Fällen gewahrt bleiben. Anderes kann lediglich gelten, wenn sich gerade die besondere Form der Urkundeneinführung auswirkt, etwa weil der Angeklagte nicht lesen kann, er nicht auf die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt verzichtet hat und dieses Defizit auch nicht kompensiert worden ist. (Bearbeiter)

5. Ein Widerspruch gegen die Verwertung von Beweisen ist grundsätzlich zur Geltendmachung gesetzlich nicht geregelter disponibler Beweisverwertungsverbote erforderlich (sog. „Widerspruchslösung“, vgl. dazu aus neuerer Zeit BGH HRRS 2018 Nr. 637). Beschränkt sich der Widerspruch darauf, die Unverwertbarkeit eines Beweismittels geltend zu machen, bedarf es keiner Bescheidung in der Hauptverhandlung; die Frage der Verwertbarkeit kann der Schlussberatung vorbehalten bleiben. Anders kann es sein, wenn ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Anordnung des Vorsitzenden, einen Beweis zu erheben, vor Durchführung der Beweisaufnahme unter Verweis auf dessen Unverwertbarkeit beanstandet und der Vorsitzende nicht abhilft. (Bearbeiter)


Entscheidung

59. BGH 4 StR 118/20 – Beschluss vom 18. November 2020 (LG Gera)

BGHSt; Aussetzung und Unterbrechung; Höchstdauer einer Unterbrechung (mehrmalige Hemmung der Unterbrechungsfristen bei wiederholter Erkrankung); absolute Revisionsgründe (Geltendmachung der Verhandlungsunfähigkeit eines Richters: Einschlägigkeit der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts).

§ 229 Abs. 1 StPO: § 229 Abs. 2 StPO; § 229 Abs. 3 StPO; § 338 Nr. 1 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

1. Die Hemmung der Unterbrechungsfristen nach § 229 Abs. 1 und Abs. 2 StPO kann bei wiederholter Erkrankung einer oder mehrerer der in § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO genannten Personen grundsätzlich mehrmals eintreten. Ausreichend ist, wenn zwischen zwei Unterbrechungen nach § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO mindestens an einem Tag verhandelt worden ist. (BGHSt)

2. Ob es der Konzentrationsgrundsatz gebietet, in Ausnahmefällen häufiger und langer Unterbrechungen mit jeweils nur wenigen Zwischenterminen die Hauptverhandlung auszusetzen, obwohl alle Fristen des § 229 StPO eingehalten sind, braucht der Senat nicht zu entscheiden. (Bearbeiter)

3. Wird mit der Revision die Verhandlungsunfähigkeit eines Richters geltend gemacht, ist als Revisionsgrund nicht § 338 Nr. 5 StPO, sondern § 338 Nr. 1 StPO einschlägig. Vorzutragen sind Tatsachen, aus denen sich die Verhandlungsunfähigkeit in einem konkret bestimmten Zeitraum der Hauptverhandlung ergibt. Insoweit ist außerdem der Gegenstand der Verhandlung anzugeben, um die Prüfung zu ermöglichen, ob wesentliche Verfahrensvorgänge betroffen waren. (Bearbeiter)


Entscheidung

84. BGH 4 StR 431/20 – Beschluss vom 19. November 2020 (LG Bielefeld)

BGHR; Hemmung der Unterbrechungsfristen wegen Infektionsschutzmaßnahmen (Anwendbarkeit bei ärztlich angeratener Kontaktvermeidung eines Prozessbeteiligten zum Schutz von dessen Ehegatten vor einer Ansteckung durch das SARS-CoV-2-Virus).

§ 229 Abs. 1 StPO; § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO

1. Zur Anwendbarkeit des Hemmungsgrundes des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO bei ärztlich angeratener Kontaktvermeidung eines Prozessbeteiligten zum Schutz von dessen Ehegatten vor einer Ansteckung durch das SARS-CoV-2-Virus. (BGHR)

2. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO tritt kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss nach § 229 Abs. 1 StPO hat nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt. (Bearbeiter)

3. Die Schutzmaßnahme muss nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 EGStPO enthält insoweit keine Einschränkung. Es genügt, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus dienen soll. (Bearbeiter)

4. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, sind auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem. (Bearbeiter)

5. Dass ein Schöffe nur mittelbar durch eine Schutzmaßnahme betroffen ist, ist unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruht. (Bearbeiter)


Entscheidung

41. BGH StB 34/20 – Beschluss vom 12. November 2020 (OLG Stuttgart)

BGHR; Entscheidung über den Pflichtverteidigerwechsel nach Anklageerhebung (Zuständigkeit; Ermittlungsrichter; erkennendes Gericht).

§ 142 StPO

1. Zur Entscheidung über den Pflichtverteidigerwechsel ist nach Anklageerhebung ausschließlich der Vorsitzende des erkennenden Gerichts zuständig; nicht erledigte Beschwerden gegen insoweit ergangene Beschlüsse des Ermittlungsrichters sind ihm deshalb zur weiteren Entscheidung vorzulegen. (BGHR)

2. Unter anderem aus § 162 Abs. 3 S. 1 StPO und § 126 Abs. 2 S. 1 StPO ergibt sich der Grundsatz, dass die Erhebung der öffentlichen Klage einen Verfahrenseinschnitt

bildet, mit dem die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters endet und auf das erkennende Gericht übergeht. Eine noch nicht erledigte Beschwerde gegen einen Beschluss des Ermittlungsrichters wird deshalb nach Anklageerhebung regelmäßig umgedeutet in einen (neuen) Antrag auf Erlass der begehrten oder Aufhebung der beanstandeten Maßnahme und ist als solche dem Gericht der Hauptsache vorzulegen. (Bearbeiter)


Entscheidung

27. BGH 3 StR 291/20 – Beschluss vom 11. November 2020 (LG Wuppertal)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags (Alibi; Behauptung „ins Blaue hinein“; Ausschöpfung des Beweisantrags; unzulässige Beweisausforschung).

§ 244 Abs. 3 StPO

1. Bei der Entscheidung über die Ablehnung eines Beweisantrages muss der Inhalt des Antrags tatsächlich ausgeschöpft werden. Die Ablehnung muss zudem einen konkreten Ablehnungsgrund benennen.

2. Einzelfall einer unzureichenden Ablehnung mit der Begründung, dem Antrag gehe es allein um eine Beweisausforschung.


Entscheidung

69. BGH 4 StR 249/20 – Beschluss vom 19. November 2020 (LG Stuttgart)

Besorgnis der Befangenheit (Ablehnung eines Richters bei Selbstanzeige und von Amts wegen: Nebenklagevertreter als Ehemann der Vorsitzenden Richterin).

§ 24 Abs. 2 StPO; § 30 1. Alt. StPO

1. Gemäß § 30 1. Alt. StPO hat das Gericht über die Frage der Befangenheit eines Richters gemäß § 24 Abs. 2 StPO auch dann zu entscheiden, wenn ein Befangenheitsgesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte. Maßstab für die Beurteilung, ob Grund zu der Annahme besteht, dass der betreffende Richter gegenüber dem Beschuldigten eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann, ist ein vernünftiger bzw. verständiger Angeklagter.

2. Im Zivilverfahren ist anerkannt, dass bei einem Richter, der Ehegatte eines Prozessbevollmächtigten ist, regelmäßig von einer Besorgnis der Befangenheit auszugehen ist.

3. Ein verständiger Angeklagter wird ein Misstrauen in die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin hegen, ohne dass dieser Eindruck tatsächlich ihrer inneren Haltung entsprechen muss, wenn ein Vertreter der Nebenklage, der einen Adhäsionsantrag des Nebenklägers angebracht hat, der Ehemann der Vorsitzenden Richterin ist. Die Prozesslage entspricht insoweit der Situation im Zivilprozess.


Entscheidung

25. BGH 1 ARs 3/20 – Beschluss vom 16. Oktober 2020

Verweisung auf einen anderen Rechtsweg (Bindungswirkung für das Gericht, an das verwiesen wurde: keine Bindungswirkung hinsichtlich der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit); Begriff des Justizverwaltungsakt (nicht Maßnahmen, die auf die Einleitung, Durchführung, Gestaltung und Beendigung eines Ermittlungsverfahrens gerichtet sind).

§ 17a Abs. 2 Satz 1, Satz 3 GVG; § 23 EGGVG

1. Ist der beschrittene Rechtsweg nicht eröffnet, spricht das Gericht dies nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG nach Anhörung der Parteien von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs, wobei dieser Beschluss nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, nur hinsichtlich des Rechtswegs bindend ist. Innerhalb einer Gerichtsbarkeit bewirkt § 17a Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 GVG hinsichtlich der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit keine Bindungswirkung.

2. Maßnahmen, die auf die Einleitung, Durchführung, Gestaltung und Beendigung eines Ermittlungsverfahrens gerichtet sind, so wie Maßnahmen der Staatsanwaltschaft oder des Strafgerichts im Strafverfahren, keine den Einzelfall regelnden Justizverwaltungsakte, sondern Prozesshandlungen und Entscheidungen des Gerichts im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit. Diese sind dem Rechtsweg nach den §§ 23 ff EGGVG entzogen. Unerheblich ist, ob das Gericht im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit die Maßnahme selbst vornimmt oder sie durch Staatsanwaltschaft oder Polizei vornehmen lässt.


Entscheidung

85. BGH 4 StR 541/19 – Beschluss vom 3. Dezember 2020 (LG Weiden)

Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten (zulässige Gegenstände einer Verständigung: Ausschluss von Sicherungsverwahrung, Maßregeln der Besserung und Sicherung); Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (kombinierte Persönlichkeitsstörung: Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung).

§ 257c Abs. 2 Satz 3 StPO; § 20 StGB; § 61 StGB

1. Nach § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO dürfen der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Gegenstand einer Verständigung sein. Über die bisherige Rechtsprechung hinaus hat der Gesetzgeber nicht nur die Sicherungsverwahrung, sondern sämtliche Maßregeln der Besserung und Sicherung aus den vereinbarungsfähigen Rechtsfolgen herausgenommen.

2. Da schon die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einen unzulässigen Verständigungsinhalt darstellt, kann der Senat offenlassen, ob das Verbot des § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO auch für Folgeentscheidungen gilt.

3. Bei einer diagnostizierten kombinierten Persönlichkeitsstörung ist für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung maßgebend, ob es im Alltag der Beschuldigten außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist.


Entscheidung

9. BGH 1 StR 33/19 – Urteil vom 14. Oktober 2020 (LG Potsdam)

Beweiswürdigung (besonders vorsichtige Würdigung belastender Zeugenaussagen ohne Konfrontationsmöglichkeit des Angeklagten); Vorenthalten von Arbeitsentgelt (faktischer Geschäftsführer als Täter; Verjährungsbeginn).

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 261 StPO; § 266a Abs. 1 StGB; § 14 Abs. 3 StGB; § 74a Satz 1 StGB

Eine ohne Konfrontationsmöglichkeit des Angeklagten in die Hauptverhandlung eingeführte belastende Zeugenaussage ist besonders sorgfältig und kritisch zu würdigen. Es müssen regelmäßig weitere Beweismittel hinzutreten, die diese Aussage bestätigen, wenn hierauf die gerichtliche Überzeugung gestützt werden soll. Eine belastende Aussage muss bei fehlender Konfrontationsmöglichkeit des Angeklagten aber nicht in allen Einzelheiten durch andere Beweismittel bestätigt sein muss, damit das Tatgericht seine Überzeugung auf sie stützen kann. Die Anforderungen an die Beweisführung sind in einem solchen Fall auch davon abhängig, ob die Einschränkung des Konfrontationsrechts der Justiz zuzurechnen ist.


Entscheidung

44. BGH 2 StR 225/20 – Beschluss vom 4. November 2020 (LG Mühlhausen)

Recht auf ein faires Verfahren („offenkundiger Mangel“ der Verteidigung; keine gerichtliche Überprüfung der Führung der Verteidigung).

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK

Die Führung der Verteidigung ist allein Sache des Angeklagten und seines Verteidigers und unterliegt nicht der gerichtlichen Überprüfung.


Entscheidung

66. BGH 4 StR 223/20 – Beschluss vom 17. November 2020 (LG Bielefeld)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (Zungenkuss als erhebliche sexuelle Handlung, nicht aber beischlafähnliche Handlung); Ausschluss der Öffentlichkeit (Unanfechtbarkeit der Entscheidung; Erstreckung auf alle Verfahrensvorgänge, die mit der Vernehmung eines Zeugen in enger Verbindung stehen; keine Wiederherstellung der Öffentlichkeit für die Mitteilung der Schweigepflichtsentbindung).

§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 171b Abs. 1 GVG; § 171b Abs. 5 GVG; § 172 GVG; § 336 Satz 2 StPO

1. Die gerichtliche Entscheidung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen, ist unanfechtbar und daher der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen.

2. Der für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen angeordnete Ausschluss der Öffentlichkeit umfasst alle Verfahrensvorgänge, die ? wie etwa die Belehrung des Zeugen, die Verhandlung über seine Entlassung und Vereidigung sowie die Entlassung oder Vereidigung des Zeugen selbst ? mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln und die daher zu diesem Verfahrensabschnitt gehören. Zu den in engem Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung stehenden Verfahrensvorgängen gehört auch die Information des Zeugen über eine vorliegende Entbindung von seiner Schweigepflicht. Für die Mitteilung der Schweigepflichtsentbindung bedarf es daher entgegen der Ansicht der Revision keiner Wiederherstellung der Öffentlichkeit.

3. Bei einem Zungenkuss handelt es sich zwar um eine erhebliche sexuelle Handlung, nicht aber um eine beischlafähnliche Handlung.


Entscheidung

67. BGH 4 StR 242/20 – Beschluss vom 15. Juli 2020 (LG Paderborn)

Urteil (kein offenkundiges Fassungsversehen bei Widerspruch zwischen der Urteilsformel sowie den Gründen bei rechtlich einwandfreien Strafzumessungserwägungen).

§ 260 Abs. 1 StPO

Enthalten die Urteilsgründe rechtlich einwandfreie Strafzumessungserwägungen, kann ein die Strafhöhe betreffender Widerspruch zwischen der Urteilsformel sowie den Gründen des schriftlichen Urteils nicht als offenkundiges, für alle klar zu Tage tretendes Fassungsversehen aufgefasst werden.


Entscheidung

26. BGH 3 StR 287/19 – Urteil vom 24. Juni 2020 (LG Hannover)

Prozessuale Tat (Einheitlichkeit des Lebensvorgangs; in der Hauptverhandlung zu Tage getretene Umstände; Identität; erhebliche Abweichung); Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (Bestimmtheit; Klarstellung der Strafbewehrung unmittelbar im Führungsaufsichtsbeschluss).

§ 264 StPO; § 145a StGB; Art. 103 Abs. 2 GG

1. Zur Tat als Prozessgegenstand (§ 264 StPO) gehört nicht nur der Geschehensablauf, der dem Angeklagten in der Anklage zur Last gelegt worden ist, sondern darüber hinaus dessen gesamtes festgestelltes Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet. Die Frage der Einheitlichkeit des Vorgangs beurteilt sich dabei nach den Umständen des Einzelfalles auf der Grundlage des Ergebnisses der Hauptverhandlung und der darin durchgeführten Beweisaufnahme. Das Gericht hat seine Untersuchung mithin auf diejenigen Tatumstände zu erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung zu Tage getreten sind.

2. Selbst wenn das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken muss, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden, darf die Umgestaltung der Strafklage nicht dazu führen, dass die Identität der von der Anklage umfassten Tat nicht mehr gewahrt ist, weil das ihr zugrunde liegende Geschehen durch ein anderes ersetzt wird. Dies ist der Fall, wenn das Gericht Umstände feststellt, die von den die angeklagten Taten individualisierenden Tatmodalitäten in erheblicher Weise abweichen.

3. Ein in § 145a Satz 1 StGB mit Strafe bedrohter Verstoß gegen eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht setzt unter Berücksichtigung von Art. 103 Abs. 2 GG stets voraus, dass betreffende Weisung eindeutig und so fest umrissen ist, wie dies von dem Tatbestand einer Strafnorm zu verlangen ist. Da der Führungsaufsichtsbeschluss auch nicht strafbewehrte Weisungen enthalten

kann (§ 68b Abs. 2 StGB), muss sich, aus dem Beschluss selbst ergeben, dass es sich bei den in Rede stehenden Weisungen um solche nach § 68b Abs. 1 StGB handelt, die gemäß § 145a Satz 1 StGB strafbewehrt sind. Wegen der Gefahr von Missverständnissen und Unklarheiten kann die Klarstellung des Charakters der Weisungen im Führungsaufsichtsbeschluss nicht durch eine mündliche Belehrung (§ 268a StPO bzw. §§ 453a, 463 Abs. 1 StPO) ersetzt werden. Der Umstand, dass eine Weisung strafbewehrt ist, muss vielmehr in dem Führungsaufsichtsbeschluss unmissverständlich klargestellt sein.