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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2021
22. Jahrgang
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1. Der Neuerlass und Vollzug eines Haftbefehls nach Anklageerhebung genügt den sich aus dem Freiheitsgrundrecht ergebenden Anforderungen nicht, wenn er sich hinsichtlich der Fluchtgefahr im Wesentlichen auf dieselben Umstände stützt wie ein im Ermittlungsverfahren ergangener Haftbefehl, der später außer Vollzug gesetzt und sodann aufgehoben worden war, ohne dass sich der Beschuldigte in der Folge dem Verfahren entzogen hatte.
2. Die Erhöhung der Schadenssumme oder der Anzahl der Fälle – hier: des Vorenthaltens und Veruntreuens von
Arbeitsentgelt und der Steuerhinterziehung – kann eine erneute Inhaftierung nur dann rechtfertigen, wenn sie auch nach der Vorstellung des Beschuldigten zu einer erheblichen Steigerung der Straferwartung und damit der Fluchtgefahr führt. Bei der gebotenen Abwägung ist es gesondert zu würdigen, wenn der Beschuldigte in der Zeit der Verschonung allen ihm erteilten Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen und von ihm gestatteten Reisen sogar in Staaten außerhalb der Europäischen Union zurückgekehrt war.
3. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz maßgebliche Bedeutung zu.
4. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände gegenüber dem Zeitpunkt der Haftverschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten freiheitssichernden Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht. § 116 Abs. 4 StPO kommt auch dann zur Anwendung, wenn ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufgehoben wird und in der Folge ein neuer Haftbefehl erlassen und in Vollzug gesetzt wird.
5. Der erneute Vollzug eines Haftbefehls aufgrund neu hervorgetretener Umstände (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO) kommt nur in Betracht, wenn – auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene – schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Verschonung veranlasst hätten. Entscheidend ist, ob die Vertrauensgrundlage für die Aussetzungsentscheidung entfallen ist. Vorzunehmen ist insoweit eine sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Abwägung zwischen dem Gewicht der neuen Erkenntnisse und des mit der Haftverschonung entstandenen Vertrauenstatbestandes. Dabei ist das Gericht an die Beurteilung der für die Aussetzung maßgeblichen Umstände grundsätzlich gebunden.
6. Die neu hervorgetretenen Tatsachen müssen sich auf die Haftgründe beziehen, während Umstände auf der Ebene des Tatverdachts – wie insbesondere ein gesteigerter Verdachtsgrad nach einer Anklageerhebung oder Verurteilung – als solche nicht herangezogen werden dürfen. Letztere können eine Wiederinvollzugsetzung nur dann rechtfertigen, wenn zugleich ein Haftgrund betroffen ist, etwa weil die Straferwartung von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich hieraus ein gesteigerter Fluchtanreiz ergibt. Die Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO erfordert allerdings nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausgegangen ist; bloße Mutmaßungen genügen insoweit nicht.
7. Ebenso wie Haftfortdauerentscheidungen unterliegen auch Entscheidungen über die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.
1. Eine Strafkammer betreibt das Zwischenverfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung, wenn sie an den mit der psychiatrischen Begutachtung des Angeklagten beauftragten Sachverständigen über einen Zeitraum von vier Monaten lediglich zwei Sachstandsanfragen richtet und dabei verkennt, dass es im Verantwortungsbereich des Gerichts liegt, durch geeignete Maßnahmen eine zügige Gutachtenerstattung sicherzustellen.
2. Das Ausstehen eines schriftlichen Sachverständigengutachtens rechtfertigt das Zuwarten mit der Eröffnung des Hauptverfahrens über nahezu sechs Monate von vornherein nicht, wenn lediglich eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Raum stehen, die für die Eröffnungsentscheidung ohne Belang sind und über die zudem allein auf der Grundlage der Vernehmung des Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu entscheiden ist.
3. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz maßgebliche Bedeutung zu.
4. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund.
5. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.
6. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen beansprucht auch für das gerichtliche Zwischenverfahren Geltung. Im Falle der Entscheidungsreife ist über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.
7. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.
1. Beanstandet ein Strafgefangener unter Benennung mehrerer Zeugen, während seiner Unterbringung in einem Gemeinschaftshaftraum hätten Justizvollzugsbeamte in zahlreichen Fällen ohne konkreten Anlass durch ein Sichtfenster Einsicht in den Haftraum genommen, so verletzt die Strafvollstreckungskammer den Anspruch des Gefangenen auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückweist, ohne aufgeklärt zu haben, wie häufig tatsächlich Einsichtnahmen stattgefunden haben, ob jeweils ein Anlass hierfür bestand und ob eine weniger eingriffsintensive Ausgestaltung möglich war.
2. Soweit das Gericht von einer weiteren Aufklärung absieht, weil es allein aufgrund der erhöhten Gefährdung der Gefangenen bei der Unterbringung in Gemeinschaftshafträumen jede mögliche Einsichtnahme pauschal für rechtmäßig erachtet, verkennt es, dass die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme nur dann tragfähig beurteilt werden kann, wenn ihre konkrete Häufigkeit und Ausgestaltung bekannt sind.
3. Der Haftraum bietet für den Gefangenen regelmäßig die einzige Möglichkeit, sich eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein. Die Justizvollzugsanstalt hat die Privat- und Intimsphäre des Gefangenen als Ausdruck seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu wahren. Hinsichtlich der Einsichtnahme in den Haftraum ist sie an das Willkürverbot und an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, die ein schonendes Vorgehen gebieten.
4. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leerläuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, etwa weil die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – hier: zur gerichtlichen Sachaufklärungspflicht – abweicht.