HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 66
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 223/20, Beschluss v. 17.11.2020, HRRS 2021 Nr. 66
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 16. Dezember 2019 dahin geändert, dass der Angeklagte im Fall II. 43. der Urteilsgründe der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen schuldig ist und zu einer Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wird.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Der Angeklagte trägt die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen der Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in sieben Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes, wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes in zwölf Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Übergriff, und wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 30 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf zwei Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verfahrensrügen dringen nicht durch.
a) Auf die Beanstandung, der von der Strafkammer für den Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Zeugenvernehmung der Ehefrau des Angeklagten angenommene Ausschlussgrund des § 171b Abs. 1 GVG habe tatsächlich nicht vorgelegen, kann die Revision nicht gestützt werden. Denn die gerichtliche Entscheidung, ob die in § 171b Abs. 1 GVG normierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen, ist nach § 171b Abs. 5 GVG unanfechtbar und daher gemäß der Regelung des § 336 Satz 2 StPO der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 ? 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273, 275; Beschluss vom 19. Dezember 2006 ? 1 StR 268/06, NJW 2007, 709; vgl. Wickern in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 171b GVG Rn. 25). Dem Revisionsgericht ist insoweit eine inhaltliche Überprüfung der Begründung der Ausschließungsentscheidung verwehrt.
b) Die Verfahrensrüge, mit welcher ? nach der Klarstellung des Verteidigers in seiner Gegenerklärung zum Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts ? geltend gemacht wird, die durch die Nebenklägerin erklärte Entbindung von der Schweigepflicht hätte der unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Zeugin vernommenen Psychotherapeutin in öffentlicher Sitzung mitgeteilt werden müssen, ist unbegründet. Der für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen angeordnete Ausschluss der Öffentlichkeit umfasst alle Verfahrensvorgänge, die ? wie etwa die Belehrung des Zeugen, die Verhandlung über seine Entlassung und Vereidigung sowie die Entlassung oder Vereidigung des Zeugen selbst ? mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln und die daher zu diesem Verfahrensabschnitt gehören (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 12. November 2015 ? 5 StR 467/15, NStZ 2016, 118 mwN; vom 20. September 2005 ? 3 StR 214/05, NStZ 2006, 117; Urteile vom 14. Mai 1996 ? 1 StR 51/96, NJW 1996, 2363; vom 17. Dezember 1987 ? 4 StR 614/87, BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1; vom 10. Juli 1984 ? 5 StR 246/84, bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1985, 204, 206; vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 172 GVG Rn. 17 mwN). Zu den in engem Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung stehenden Verfahrensvorgängen gehört auch die Information des Zeugen über eine vorliegende Entbindung von seiner Schweigepflicht. Für die Mitteilung der Schweigepflichtsentbindung hat es daher entgegen der Ansicht der Revision keiner Wiederherstellung der Öffentlichkeit bedurft.
2. Die materiellrechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der erhobenen Sachrüge führt im Fall II. 43. der Urteilsgründe zu einer Änderung des Schuldspruchs.
Bei der rechtlichen Bewertung dieser Tat, bei welcher der Angeklagte nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen das Opfer unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage dazu zwang, Berührungen an der Scheide und am Gesäß unterhalb der Kleidung sowie die Vornahme eines Zungenkusses zu dulden, hat das Landgericht übersehen, dass es sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei einem Zungenkuss zwar um eine erhebliche sexuelle Handlung, nicht aber um eine beischlafähnliche Handlung im Sinne des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB handelt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. April 2011 ? 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223; vom 28. Juni 2016 ? 3 StR 154/16 Rn. 2). Für die Strafvorschrift der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB bzw. § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB aF gilt nichts Anderes (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 177 Rn. 135).
Auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen tatsächlichen Feststellungen hat sich der Angeklagte indes der sexuellen Nötigung nach § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen strafbar gemacht. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend. § 265 StPO steht nicht entgegen. Die Schuldspruchänderung entzieht der bisherigen Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten die Grundlage. Der Senat entscheidet entsprechend § 354 Abs. 1 StPO selbst über die neu zu verhängende Einzelstrafe und erkennt auf die in § 177 Abs. 1 StGB aF gesetzlich vorgesehene Mindeststrafe von einem Jahr. Angesichts der gewichtigen von der Strafkammer berücksichtigten Strafschärfungsgründe ist auszuschließen, dass das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Würdigung zur Annahme eines minder schweren Falles nach § 177 Abs. 5 StGB aF gelangt wäre. Die Gesamtfreiheitsstrafe wird durch die Herabsetzung der Einzelfreiheitsstrafe für die Tat II. 43. der Urteilsgründe nicht berührt.
3. Der geringfügige Teilerfolg der Revision rechtfertigt es nicht, den Angeklagten teilweise von den durch sein Rechtsmittel veranlassten Kosten und Auslagen freizustellen (§ 473 Abs. 4 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 66
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner