HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2020
21. Jahrgang
PDF-Download


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

652. BVerfG 1 BvR 362/18 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2020 (LG Mönchengladbach / AG Viersen)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerungen eines Rechtsanwalts über den Abteilungsleiter einer Kommunalbehörde; zulässige Kritik an Amtsträgern; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; kein genereller Vorrang der Meinungsfreiheit; Würdigung von Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung; Absehen von einer Abwägung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; Schmähung durch grundloses Verächtlichmachen; Anonymität des Internets; Formalbeleidigung wegen Verwendung einer absolut missbilligten und tabuisierten Begrifflichkeit; Angriff auf die Menschenwürde durch Absprechen des Persönlichkeitskerns).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB; § 192 StGB; § 193 StGB

1. Die Verurteilung eines Rechtsanwalt wegen Beleidigung, der in einem Genehmigungsverfahren einen Tierschutzverein vertreten und in einem Schreiben das Verhalten des zuständigen Abteilungsleiters des Veterinäramtes unter anderem als „persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial“ bezeichnet hatte, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar, wenn die Strafgerichte die gebotene Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht nicht vornehmen, sondern lediglich den herabsetzenden Gehalt der Äußerungen hervorheben und es an einer Auseinander-

setzung mit Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Ehrverletzung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gänzlich fehlen lassen.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Bei dessen Anwendung ist grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung erforderlich, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

3. Eine Verurteilung wegen Beleidigung kann ausnahmsweise auch ohne Abwägung gerechtfertigt sein, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, als Formalbeleidigung oder als Schmähung darstellt. An diese Fallkonstellationen sind jedoch jeweils strenge Kriterien anzulegen. Die Strafgerichte haben eine entsprechende Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Einzelfalles bezogenen, gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen Weise zu begründen. In Grenzfällen kann sich eine hilfsweise Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz anbieten.

4. Den Charakter einer Schmähung nimmt eine Äußerung erst dann an, wenn sie keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr letztlich nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa in Fällen der Privatfehde oder der grundlosen Verunglimpfung und Verächtlichmachung im Schutze der Anonymität des Internets. Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient.

5. Um eine Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinne, die terminologisch nicht mit der Formalbeleidigung im Sinne des § 192 StGB gleichzusetzen ist, handelt es sich bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern etwa aus der Fäkalsprache. Kriterium ist nicht der fehlende Sachbezug der Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifische Form der Äußerung.

6. Die Meinungsfreiheit muss auch dann stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt; denn diese ist als Wurzel aller Grundrechte mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Eine Menschenwürdeverletzung kommt allerdings nur in Betracht, wenn sich die Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht.


Entscheidung

653. BVerfG 1 BvR 1094/19 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2020 (OLG Düsseldorf / LG Wuppertal / AG Wuppertal)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerungen über den ehemaligen Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen; zulässige Kritik an Amtsträgern und Politikern; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; kein genereller Vorrang der Meinungsfreiheit; Absehen von einer Abwägung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; Würdigung von Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung; Verbreitung im Internet; „Kampf ums Recht“; besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik; weitere Grenzziehung bei höherer Position des Adressaten; Schutz von Amtsträgern vor Verächtlichmachung und Herabwürdigung; konventionskonforme Auslegung).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 10 Abs. 2 EMRK; § 185 StGB; § 193 StGB

1. Die Verurteilung eines Bürgers wegen Beleidigung, der in einem Schreiben an die Finanzbehörden den damaligen Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen als „Null“ und „dilettierend“ bezeichnet hatte, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar, wenn die Strafgerichte nicht hinreichend würdigen, dass die Äußerungen in einem sachlichen Bezug zu einer konkreten Auseinandersetzung über den Rundfunkbeitrag standen, lediglich einem kleinen Personenkreis zugänglich waren und sich in ihrem Gesamtzusammenhang vorrangig nicht auf die Person des Finanzministers, sondern auf dessen politisches und öffentlichkeitsbezogenes Handeln abzielten.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Bei dessen Anwendung ist grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung erforderlich, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

3. Eine Verurteilung wegen Beleidigung kann ausnahmsweise auch ohne Abwägung gerechtfertigt sein, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, als Formalbeleidigung oder als Schmähung darstellt. An diese Fallkonstellationen sind jedoch jeweils strenge Kriterien anzulegen.

4. Für die Abwägung bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den im konkreten Einzelfall relevanten Umständen und der Situation, in der die betreffende Äußerung erfolgte. Insbesondere können Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten zu berücksichtigen sein.

5. Mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung ist insbesondere abwägungsrelevant, welcher konkrete ehrschmälernde Gehalt ihr zukommt, ob sie die betroffene Person als ganze oder nur einzelne ihrer Verhaltensweisen betrifft und ob durch die strafrechtliche Sanktionierung die Freiheit berührt wird, bestimmte Inhalte und Wertungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen.

6. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.

7. Bei der Gewichtung der grundrechtlichen Interessen ist dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik Rechnung zu tragen. Hierzu gehört die Freiheit der Bürger, Amtsträger ohne Furcht vor Strafe grundsätzlich auch in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen zu können. Die Grenzen zulässiger Kritik an mit eigenen Wortmeldungen bewusst in die Öffentlichkeit getretenen Politikern sind daher weiter zu ziehen als bei Privatpersonen. Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen, hängt dabei auch davon ab, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.

8. Auch gegenüber Amtsträgern oder Politikern erlaubt die Verfassung allerdings nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung oder Verächtlichmachung, sondern erfordert eine Abwägung dahingehend, ob eine Äußerung zum öffentlichen Meinungskampf beiträgt oder ob die Herabwürdigung der betreffenden Personen im Vordergrund steht. Es ist auch im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft notwendig, Amtsträger und Politiker vor solchen Angriffen zu schützen.

9. Bezüglich der Form und der Begleitumstände einer Äußerung kann von Bedeutung sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder mit Vorbedacht gefallen ist, ob dem Äußernden aufgrund seiner beruflichen Stellung, Bildung oder Erfahrung die Wahrung der äußerungsrechtlichen Grenzen auch in besonderen Situationen zuzumuten ist und ob für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand. So ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Anliegen zu unterstreichen (sogenannter „Kampf ums Recht“).

10. Bei der Abwägung ist außerdem die konkrete Verbreitung und Wirkung einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung in Rechnung zu stellen. Maßgeblich ist, welcher Kreis von Personen von der Äußerung Kenntnis erhält, ob die Äußerung schriftlich oder anderweitig perpetuiert wird und ob sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium wie dem Internet getätigt wird.

11. Mit Blick auf die eine gleichberechtigte Beteiligung aller an der öffentlichen Kommunikation gewährleistende Dimension der Meinungsfreiheit (vgl. BVerfGE 12, 113, 125) darf die Handhabung des § 185 StGB zugleich nicht dazu führen, Anstands- und Ehrvorstellungen eines Teils der Gesellschaft allen übrigen Mitgliedern aufzuzwingen; in diesem Sinn kann auch eine gegebenenfalls beschränkte Ausdrucksfähigkeit und sonstige soziale Bedingtheit des jeweiligen Sprechers in Rechnung zu stellen sein.


Entscheidung

654. BVerfG 1 BvR 2397/19 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2020 (OLG Stuttgart / LG Stuttgart / AG Stuttgart-Bad Cannstatt)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerungen über die Richter eines Umgangsstreits in einem Weblog; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; kein genereller Vorrang der Meinungsfreiheit; Absehen von einer Abwägung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; Schmähung durch grundloses Verächtlichmachen; Anonymität des Internets; Formalbeleidigung wegen Verwendung einer absolut missbilligten und tabuisierten Begrifflichkeit; Angriff auf die Menschenwürde durch Absprechen des Persönlichkeitskerns; Erfordernis der Würdigung von Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung; Verbreitung im Internet; „Kampf ums Recht“; besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik; weitere Grenzziehung bei höherer Position des Adressaten; Schutz von Amtsträgern vor Verächtlichmachung und Herabwürdigung).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 10 Abs. 2 EMRK; § 185 StGB; § 192 StGB; § 193 StGB

1. Die Verurteilung des Beteiligten eines familiengerichtlichen Verfahrens wegen Beleidigung, der die mitwirkenden Richter und den Oberlandesgerichtspräsidenten in einem Internet-Weblog unter namentlicher Nennung unter anderem als „rechtsradikal, asoziale Justizverbrecher und Kindesentfremder“ bezeichnet hatte, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Strafgerichte im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten letzteren den Vorrang eingeräumt und dabei insbesondere die öffentliche und anprangernde Form der Äußerungen berücksichtigt haben, bei denen die persönliche Kränkung einen Verfahrensbezug und den Aspekt der Machtkritik nahezu vollständig überlagert.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Bei dessen Anwendung ist grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung erforderlich, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

3. Eine Verurteilung wegen Beleidigung kann ausnahmsweise auch ohne Abwägung gerechtfertigt sein, wenn

sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, als Formalbeleidigung oder als Schmähung darstellt. An diese Fallkonstellationen sind jedoch jeweils strenge Kriterien anzulegen. Die Strafgerichte haben eine entsprechende Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Einzelfalles bezogenen, gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen Weise zu begründen. In Grenzfällen kann sich eine hilfsweise Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz anbieten.

4. Den Charakter einer Schmähung nimmt eine Äußerung erst dann an, wenn sie keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr letztlich nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa in Fällen der Privatfehde oder der grundlosen Verunglimpfung und Verächtlichmachung im Schutze der Anonymität des Internets. Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient.

5. Um eine Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinne, die terminologisch nicht mit der Formalbeleidigung im Sinne des § 192 StGB gleichzusetzen ist, handelt es sich bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern etwa aus der Fäkalsprache. Kriterium ist nicht der fehlende Sachbezug der Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifische Form der Äußerung.

6. Die Meinungsfreiheit muss auch dann stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt; denn diese ist als Wurzel aller Grundrechte mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Eine Menschenwürdeverletzung kommt allerdings nur in Betracht, wenn sich die Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht.

7. Für die Abwägung bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den im konkreten Einzelfall relevanten Umständen und der Situation, in der die betreffende Äußerung erfolgte. Insbesondere können Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten zu berücksichtigen sein.

8. Mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung ist insbesondere abwägungsrelevant, welcher konkrete ehrschmälernde Gehalt ihr zukommt, ob sie die betroffene Person als ganze oder nur einzelne ihrer Verhaltensweisen betrifft und ob durch die strafrechtliche Sanktionierung die Freiheit berührt wird, bestimmte Inhalte und Wertungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen.

9. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.

10. Bei der Gewichtung der grundrechtlichen Interessen ist dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik Rechnung zu tragen. Hierzu gehört die Freiheit der Bürger, Amtsträger ohne Furcht vor Strafe grundsätzlich auch in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen zu können. Die Grenzen zulässiger Kritik an mit eigenen Wortmeldungen bewusst in die Öffentlichkeit getretenen Politikern sind daher weiter zu ziehen als bei Privatpersonen. Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen, hängt dabei auch davon ab, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.

11. Auch gegenüber Amtsträgern oder Politikern erlaubt die Verfassung allerdings nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung oder Verächtlichmachung, sondern erfordert eine Abwägung dahingehend, ob eine Äußerung zum öffentlichen Meinungskampf beiträgt oder ob die Herabwürdigung der betreffenden Personen im Vordergrund steht. Es ist auch im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft notwendig, Amtsträger und Politiker vor solchen Angriffen zu schützen.

12. Bezüglich der Form und der Begleitumstände einer Äußerung kann von Bedeutung sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder mit Vorbedacht gefallen ist, ob dem Äußernden aufgrund seiner beruflichen Stellung, Bildung oder Erfahrung die Wahrung der äußerungsrechtlichen Grenzen auch in besonderen Situationen zuzumuten ist und ob für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand. So ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Anliegen zu unterstreichen (sogenannter „Kampf ums Recht“).

13. Bei der Abwägung ist außerdem die konkrete Verbreitung und Wirkung einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung in Rechnung zu stellen. Maßgeblich ist, welcher Kreis von Personen von der Äußerung Kenntnis erhält, ob die Äußerung schriftlich oder anderweitig perpetuiert wird und ob sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium wie dem Internet getätigt wird.


Entscheidung

655. BVerfG 1 BvR 2459/19 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2020 (OLG Stuttgart / LG Ellwangen (Jagst) / AG Aalen)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerungen über eine kommunale Amtsträgerin in einer verwaltungsgerichtlichen Klageschrift; grundsätzliches Erfordernis

einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; kein genereller Vorrang der Meinungsfreiheit; Absehen von einer Abwägung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik; Schutz von Amtsträgern vor Verächtlichmachung und Hetze).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB; § 193 StGB

1. Die Verurteilung des Klägers in einem Verwaltungsrechtsstreit wegen Beleidigung, der in seiner Klageschrift betreffend die Benutzungsordnung einer Stadtbibliothek die zuständige Leiterin des Rechtsamts unter anderem als „geisteskrank und persönlichkeitsbedingt zur Begehung erheblicher Straftaten bereit“ bezeichnet hatte, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Strafgerichte im Rahmen der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten berücksichtigt haben, dass die Äußerung sich zwar einerseits auf dienstliche Handlungen einer Amtsträgerin bezog und nur einem kleinen Personenkreis bekannt wurde, dass ihr jedoch ein erheblicher ehrschmälernder Gehalt zukam und sie lediglich einen schwach ausgeprägten Sachbezug aufwies.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Bei dessen Anwendung ist grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung erforderlich, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

3. Eine Verurteilung wegen Beleidigung kann ausnahmsweise auch ohne Abwägung gerechtfertigt sein, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, als Formalbeleidigung oder als Schmähung darstellt. An diese Fallkonstellationen sind jedoch jeweils strenge Kriterien anzulegen.

4. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.

5. Bei der Gewichtung der grundrechtlichen Interessen ist dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik Rechnung zu tragen. Allerdings setzt die Verfassung gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträger nicht aus.


Entscheidung

657. BVerfG 2 BvR 483/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. Mai 2020 (LG München I)

Terminsladung zur strafrechtlichen Hauptverhandlung und Schutz vor dem neuartigen Corona-Virus (Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; ausnahmsweise Anfechtbarkeit gerichtlicher Zwischenentscheidungen bei erheblichen Gesundheitsgefahren; staatliche Schutzpflicht; Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege; Abwägung im Einzelfall; erheblicher Einschätzungsspielraum; kein absoluter Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr).

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 216 StPO

1. Gerichtliche Zwischenentscheidungen können nur dann selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn ein dringendes schutzwürdiges Interesse daran besteht, dass über die Verfassungsmäßigkeit sofort und nicht erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte.

2. Drohen dem Angeklagten durch die Hauptverhandlung erhebliche Gesundheitsgefahren, so sind die Pflichten des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einerseits und zum Schutz der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Grundrechte andererseits gegeneinander abzuwägen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern. Den staatlichen Stellen kommt insoweit allerdings ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

3. Wendet sich ein Angeklagter unter Berufung auf die Infektionsgefahr hinsichtlich des neuartigen Corona-Virus gegen eine Ladung zur Hauptverhandlung, so ist insoweit zwar eine unmittelbare verfassungsgerichtliche Überprüfung eröffnet. Die Verfassung gebietet jedoch keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren einhergehender Gesundheitsgefahr, zumal ein gewisses Infektionsrisiko mit dem Corona-Virus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört.


Entscheidung

658. BVerfG 2 BvR 1905/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Mai 2020 (BGH / LG Hanau)

Frist zum Stellen von Beweisanträgen (Wirksambleiben nach erneutem Eintreten in die Beweisaufnahme; Rechtsstaatsprinzip; Recht auf ein faires Verfahren); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Notwendigkeit der Einlegung von Rechtsbehelfen im Erkenntnisverfahren).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 238 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 6 StPO

1. Es erscheint zweifelhaft, ob die Auslegung des § 244 Abs. 6 StPO, wonach eine Frist zum Stellen von Beweisanträgen wirksam bleibt, auch wenn das Gericht nach der Fristsetzung erneut in die Beweisaufnahme eintritt, dem Anspruch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren genügt.

2. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die unter Ablehnung des Beweisantrages ergangene Verurteilung wahrt jedoch nicht den Grundsatz der Subsidiarität, wenn die Beschwerdeführerin im Erkenntnisverfahren weder einen Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO eingelegt noch im Wege der Glaubhaftmachung nach § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO geltend gemacht hat, aus welchen Gründen ihr die Stellung des Beweisantrags vor der Fristsetzung nicht möglich war.


Entscheidung

659. BVerfG 2 BvR 2054/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Mai 2020 (AG Heidelberg)

Willkürliches Absehen von einer Adhäsionsentscheidung (umfassende Missachtung der Sonderregelung für Schmerzensgeldforderungen; Absehen nur wegen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit der Forderung; Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde; Rechtswegerschöpfung; Grundsatz der Subsidiarität; kein Vorrang des Zivilrechtswegs).

Art. 3 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 406 Abs. 1 StPO; § 406a Abs. 1 StPO; § 253 Abs. 2 BGB

1. Sieht das Strafgericht von einer Entscheidung über einen Adhäsionsantrag ab und steht dem Adhäsionskläger insoweit weder ein Rechtsmittel nach § 406a Abs. 1 StPO noch die Berufung (§ 400 Abs. 1 StPO) offen, so kann er die Absehensentscheidung in zulässiger Weise unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde angreifen. Der Grundsatz der Subsidiarität gebietet es nicht, vorrangig den prozessual weniger vorteilhaften Zivilrechtsweg zu beschreiten.

2. Das Absehen von einer Adhäsionsentscheidung ist objektiv willkürlich, wenn das Gericht sich allein auf eine mögliche Verzögerung des Strafverfahrens beruft und dabei umfassend missachtet, dass für die geltend gemachte Schmerzensgeldforderung eine einschränkende Sonderregelung besteht (§ 406 Abs. 1 Satz 6 i. V. m. Satz 3 StPO), nach welcher das völlige Absehen nur wegen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit der Forderung zulässig ist, nicht aber wegen mangelnder Eignung zur Erledigung im Strafverfahren.


Entscheidung

656. BVerfG 2 BvQ 26/20 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. Mai 2020 (AG Augsburg / LG Augsburg)

Durchsuchung wegen des Verdachts der Geldwäsche (Erfordernis eines „doppelten Anfangsverdachts“; Herrühren des Vermögensgegenstands aus einer bestimmten Katalogvortat im Sinne des Geldwäschetatbestandes; Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis der Erhebung einer Anhörungsrüge).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB

1. Eine Durchsuchung wegen des Verdachts der Geldwäsche setzt voraus, dass ein Anfangsverdacht nicht nur für eine Geldwäschehandlung, sondern auch dafür besteht, dass der Vermögensgegenstand aus einer bestimmten Katalogvortat im Sinne von § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB herrührt (sog. doppelter Anfangsverdacht), die zu konkretisieren ist, die allerdings nicht bereits in ihren Einzelheiten bekannt sein muss.

2. Macht ein der Geldwäsche Beschuldigter geltend, es sei nicht erkennbar, welche Katalogvortat einem gegen ihn ergangenen Durchsuchungsbeschluss zugrunde liege, so liegt eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nahe, wenn sich das Beschwerdegericht mit diesem Kernargument überhaupt nicht befasst. Unterlässt es der Beschwerdeführer in diesem Fall, gegen die Beschwerdeentscheidung eine Anhörungsrüge zu erheben, so ist seine Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität unzulässig.