Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2020
21. Jahrgang
PDF-Download
Von Richterin Dr. Carolin Bannehr, Berlin[*]
Der deutsche Gesetzgeber hat die Richtlinie 2016/1919/EU[1] über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (i.F. PKH-RL) zum 13. Dezember 2019 – mehr als ein halbes Jahr verspätet – umgesetzt. Der Beschluss des BGH vom 14. August 2019, der die Frage der Pflichtverteidigung bei der Vorführung zur Entscheidung über eine Haft behandelt, beschäftigt sich somit zwar mit der inzwischen außer Kraft getretenen Norm des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. Die in diesem Beschluss behandelten Rechtsfragen, insbesondere das obiter dictum des BGH zur Frage eines Beweisverwertungsverbots bei unterbliebener Vorführung trotz notwendiger Verteidigung, sind jedoch weiterhin aktuell. Neben der Darstellung (sogl. u. I.) und der Besprechung des Beschlusses (sogl. u. II.) soll dieser Beitrag zudem einen Ausblick auf die reformierten Anforderungen der Pflichtverteidigung in der Situation der Haftvorführung geben und ihre Aktualität darstellen (sogl. u. III.).
Nach den Ausführungen des BGH zum Verfahrensgeschehen war der Angeklagte aufgrund eines vorherigen Haftbefehls am 25. Oktober 2017 ergriffen und der Ermittlungsrichterin vorgeführt worden. Die Beiordnung eines Verteidigers habe er bereits zuvor gegenüber der Polizei mehrfach abgelehnt. Die Versuche der Ermittlungsrichterin, vor der Vernehmung des Angeklagten einen (verteidigungsbereiten) Verteidiger zu erreichen, blieben erfolglos. Nach Verkündung des Haftbefehls wurde der Angeklagte nach § 136 Abs. 1 StPO belehrt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er sich der Unterstützung eines Verteidigers bedienen könne. Wiederum lehnte der Angeklagte ab, einen Rechtsanwalt zu kontaktieren. In der ermittlungsrichterlichen Vernehmung bestritt der Angeklagte seine Rolle an dem ihm vorgeworfenen Geschehen. Der Haftbefehl wurde am Ende des Termins aufrechterhalten. Erst daraufhin habe der Angeklagte erklärt, dass das Gericht ihm einen Rechtsanwalt aussuchen möge.[2]
Noch im Anschluss an den Verkündungstermin wurde der Angeklagte von der Bundespolizei erneut über seine Rechte belehrt und weiter vernommen. Diese Vernehmung wurde auch am folgenden Tag, den 26. Oktober 2017, fortgesetzt. Noch am gleichen Tag erreichte die Ermittlungsrichterin einen zur Übernahme des Mandats bereiten Rechtsanwalt und ordnete diesen dem Angeklagten als Pflichtverteidiger bei. Der Verteidiger widersprach der Verwertung der Angaben aus den Vernehmungen in der Hauptverhandlung. Das LG Kiel verwertete die Angaben des Angeklagten trotzdem im Rahmen seiner Beweiswürdigung teilweise zu seinen Lasten und verurteilte diesen wegen versuchter Schleusung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter banden- und gewerbsmäßiger Schleusung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren.[3] Der Angeklagte rügte in seiner daraufhin erhobenen Revision, dass seine Einlassung vor dem Ermittlungsrichter mangels Mitwirkung eines Verteidigers entgegen § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. unwirksam gewesen sei.[4]
Diese Verfahrensrüge verwarf der BGH als unbegründet. Gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. sollte das Gericht, bei dem eine richterliche Vernehmung durchzuführen ist, dem Beschuldigten einen Verteidiger bestellen, wenn die Staatsanwaltschaft dies beantragt oder wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint. Dieser Beiordnungsgrund sei zwar in der Literatur überwiegend dahingehend ausgelegt worden, dass ein Pflichtverteidiger nunmehr nicht erst bei Verkündung des Haftbefehls, sondern bereits vor jeder
richterlichen Vernehmung eines aufgrund Haftbefehls vorläufig Festgenommenen zu bestellen sei.[5]
Gegen eine solche Auslegung spräche hingegen sowohl die Historie als auch die Systematik von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F.[6] Systematisch ergäbe eine Neuregelung mit diesem Inhalt in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. keinen Sinn, wenn zugleich § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bestehen bliebe, der eine Beiordnung nicht bereits im Zeitpunkt der Vorführung, sondern erst nach Vollstreckung der Untersuchungshaft vorsehe.[7]
Historisch betrachtet sei zudem zu erwarten gewesen, dass der Gesetzgeber eine solche Abkehr von der aktuell herrschenden Rechtsprechungslinie in den Gesetzesmaterialien deutlicher zum Ausdruck gebracht hätte.[8] Dagegen habe sich der Gesetzgeber in Kenntnis der bestehenden Rechtsprechung zu § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO entschieden, notwendige Verteidigung weiterhin erst ab Aufrechterhaltung des Haftbefehls gem. § 115 Abs. 4 S. 1 StPO zur Verfügung zu stellen.[9] § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. sei ausweislich der Gesetzesbegründung nur eingefügt worden, um während der Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit des Beschuldigten die Zuziehung eines Verteidigers zu gebieten.[10]
Gleichsam absichernd fügte der BGH noch hinzu, dass "[j]edenfalls[…]aus einer Verletzung von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO nicht ohne Weiteres ein Beweisverwertungsverbot folgen" würde.[11] Ein solches läge insbesondere fern, "wenn sich die Ermittlungsrichterin […]erfolglos um das Erreichen eines zur Mandatsübernahme bereiten Verteidigers bemüht und der Beschuldigte nach Belehrung ausdrücklich auf die Hinzuziehung eines Verteidigers verzichtet" habe.[12] In der Abwägung zwischen der zeitigen Vorführung und Vernehmung des festgenommenen Beschuldigten und dem Gebot, noch zuvor einen Verteidiger zu bestellen, würde dem damit betrauten Richter ein nur "eingeschränkt überprüfbarer Wertungsspielraum" zustehen.[13] Wenn der Beschuldigte indes eindeutig auf das Recht auf einen Verteidiger bei der Vorführung verzichte, sei eine Vernehmung des unverteidigten Beschuldigten keine willkürliche oder unvertretbare Ausübung dieses Wertungsspielraums.[14]
Von Interesse ist der Beschluss des BGH insbesondere im Hinblick auf das obiter dictum zum Beweisverwertungsverbot, weil diese Frage auch nach der Neuregelung der Vorschriften zur notwendigen Verteidigung von Interesse bleibt. Gleichwohl § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. inzwischen in den § 140 Abs. 1 Nr. 10 i.V.m. § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO neu geregelt wurde, zeigt die Rechtsauffassung des BGH doch eine fehlende Rezeption der Inhalte von EMRK und GRCh, soweit es das Recht auf Zugang zu einem notwendigen Verteidiger betrifft.
Die vom BGH vorgeschlagene Auslegung ist weder in historischer noch in systematischer Hinsicht zwingend.
Nach Auffassung des BGH soll durch § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. keine Vorverlagerung des Zeitpunkts der Beiordnung auf die Haftprüfung erfolgt sein, weil gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO – systematisch abschließend – für den Fall der Untersuchungshaft Verteidigung erst ab deren Vollzug als notwendig gelte. Dies lässt sich gleichwohl auch anders beurteilen, wenn der jeweils intendierte zeitliche Geltungsbereich von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. und von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO betrachtet wird: Denn § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. sah lediglich eine ver-
fahrensabschnittbezogene Ergänzung der Beiordnungsregelungen in § 140 Abs. 1 StPO für richterliche Vernehmungen vor.[15] Davon ausgehend ist die Annahme einer Beiordnungspflicht bei Vorführungsterminen keinesfalls systemwidrig: Denn § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. sichert derart die Beiordnung für richterliche Vernehmungen, selbst wenn danach Verteidigung für das gesamte Verfahren notwendig wird, solange diese Vernehmungen besondere Bedeutung für den Beschuldigten haben. Im Fall der Verkündung eines Haftbefehls – und damit der Vollstreckung der Untersuchungshaft im bislang herrschend ausgelegten Sinn –,[16] erstreckt § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO i.V.m. 141 Abs. 3 S. 5 StPO a.F. die Beiordnung auf das gesamte Verfahren.[17] Dadurch wäre der Beschuldigte befähigt, über einen Verteidiger auf die Entscheidung über die Haft fachkundig Einfluss zu nehmen, die notwendige Verteidigung würde jedoch nicht über den Vorführungstermin hinaus erstreckt werden müssen, wenn der Haftbefehl nicht aufrecht erhalten wird.
Für die Auffassung des BGH in historischer Sicht spricht die erneute Novelle der StPO und damit der anscheinend vom Gesetzgeber ebenso erkannte Umsetzungsbedarf.[18] Tatsächlich formulierte die StPO-Novelle 2017 keine Abkehr von einer bisherigen Rechtsprechungslinie. Keinesfalls aber beschränkt sich die Gesetzesbegründung allein auf die vom BGH zitierte Konstellation, in der ein Belastungszeuge im Ermittlungsverfahren in Abwesenheit des Beschuldigten vernommen wird. Denn die Begründung nennt als weitere mögliche Konstellation gerade die richterliche Beschuldigtenvernehmung, der "vor dem Hintergrund des § 254 StPO besondere Bedeutung für den Schutz der Rechte des Beschuldigten zukommen" kann.[19] Wird zudem die zurückliegende Gesetzgebungshistorie von § 141 Abs. 3 StPO a.F. in Betracht gezogen – wie es der BGH auch in früheren Entscheidungen getan hat –, wurde jede Erweiterung und Ergänzung von § 141 StPO jeweils mit dem Ziel umgesetzt, "die Mitwirkung des Verteidigers im Vorverfahren stärker aus[zu]bauen".[20]
Bei der primär systematischen und historischen Auslegung des BGH wird indes übersehen, dass auch in dieser Konstellation, der Pflichtverteidigung im Rahmen der Haftvorführung, eine Rezeption der Vorgaben der EMRK erforderlich ist. Die Vorführung zur Entscheidung über Haft – insbesondere zur Entscheidung über Untersuchungshaft – verlangt nach den Vorgaben des Art. 5 Abs. 4 EMRK, dass der Beschuldigte angehört wird, er durch einen Rechtsbeistand vertreten ist und Zeugen geladen und vernommen werden können,[21] und dem Beschuldigten dazu spiegelbildlich strafrechtliche Prozesskostenhilfe im Rahmen dieser Anhörung zur Verfügung steht.[22] Entsprechende Vorgaben enthält auch Art. 48 Abs. 2 GRCh i.V.m. Art. 6 GRCh. Die Vorgaben der EMRK und spiegelbildlich die der Grundrechtecharta legen nahe, dass dem Beschuldigten bereits zur Haftvorführung Zugang zu einem Pflichtverteidiger gewährt wird. Dieser Punkt wurde im Rahmen des Beschlusses des BGH für die Auslegung von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. vernachlässigt.
Dabei wurde § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. erst in die StPO eingefügt, um die Rechtsprechung des BGH zur konventionskonformen Auslegung von § 141 Abs. 3 StPO a.F. bezüglich der Wahrnehmung des Konfrontationsrechts gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gesetzlich festzuschreiben. Bevor § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. eingefügt wurde, hatte die Rechtsprechung und der BGH dem Ermittlungsrichter eine Pflichtverteidigerbeiordnung von Amts wegen bei der Vernehmung des Belastungszeugen auferlegt, obwohl dies dem eindeutigen Wortlaut und der Fassung der vorherigen Vorschrift widersprach.[23] Diese Pflicht zur wortlautwidrigen, aber konventionskonformen Auslegung hatte der BGH damals gefordert, weil der Ermittlungsrichter – auch bei einer vorrangigen Prüfungsbefugnis der Staatsanwaltschaft – nicht davon entbunden werde, "für ein konventionsgerechtes Verfahren Sorge zu tragen".[24] Diese Anforderung an die Rechtsanwendung durch den Ermittlungsrichter gilt jedoch gleichermaßen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen der Haftvorführung.
§ 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. wäre somit entgegen der Auffassung des BGH dahingehend auszulegen gewesen, dass dem Beschuldigten bereits vor der Verkündung des Haftbefehls während der Vorführung zur Entscheidung über die Haft ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre. Unabhängig von der Frage eines – eigentlich systema-
tisch im deutschen Recht nicht angelegten – Verzichts auf die Pflichtverteidigerbeiordnung (dazu sogleich), wäre die Entscheidung des Landgerichts Kiel jedenfalls nach den Maßstäben der EMRK und der GRCh konventionskonform gewesen: Denn der Beschuldigte kann auch auf die Wahrnehmung seiner einzelnen Verteidigungsrechte, so auch auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers, verzichten.[25] Der ausdrücklich und mehrfach vom Angeklagten geäußerte Verzicht auf einen Pflichtverteidiger wäre eine nach der EMRK grundsätzlich zu respektierende Entscheidung des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen. Lediglich sah das deutsche Recht zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Möglichkeit vor auf die Pflichtverteidigung, deswegen gern auch "Zwangsverteidigung" genannt,[26] zu verzichten. Im Ergebnis begegnet der Beschluss des BGH, die Revision des Angeklagten zu verwerfen, somit keinen Bedenken. Lediglich der gewählte Lösungsweg vermag nicht zu überzeugen.
Der Beschluss des BGH ist vielmehr bezüglich der Anschlussfragestellung des Beweisverwertungsverbots problematisch, weil in diesem obiter dictum die Prämissen der Abwägungslehre und den Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbotes nicht konsequent fortgeführt werden.
Bei unterlassener Bestellung eines notwendigen Verteidigers unterfallen nach h.M. die durch diesen Verstoß gewonnenen Beweismittel nur dann einem Verwertungsverbot, wenn die unterlassene Bestellung auf Willkür der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen ist.[27] Diese Einschränkung erfolgte bislang auch deswegen, weil eine Beiordnung im Ermittlungsverfahren bzw. bei der Vorführung zur Haft zuvor gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben war, sondern lediglich im Ermessen der Staatsanwaltschaft stand.[28] Ist bereits die Beiordnung im Rahmen des Vorführtermins zwingend – wie in diesem Beitrag angenommen –, dann besteht grundsätzlich bei der Verletzung einer solchen zwingenden Norm kein Raum mehr für eine in die Abwägung einzustellende hypothetisch rechtmäßige Beweiserhebung.[29] Konsequent müsste dann, wenn die Beiordnung zwingend ist, daraus die Unverwertbarkeit solcher Beweise folgen, die entgegen dieser zwingenden Vorschrift gewonnen wurden.[30]
Es ist zugleich verständlich, dass dieses Ergebnis unbefriedigend erscheint, wenn der betroffene Angeklagte nachdrücklich und freiwillig auf die Anwesenheit eines Verteidigers verzichtet: Denn dadurch würde der Beschuldigte, der keinen Anspruch auf einen notwendigen Verteidiger hat, "schlechter gestellt", weil seine Vernehmung auch ohne einen Verteidiger fortgesetzt werden kann, wenn er auf einen Verteidiger verzichtet.[31] Um dies zu vermeiden, bemüht der BGH augenscheinlich einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Wertungsspielraum des Ermittlungsrichters zwischen dem Recht auf unverzügliche Vorführung und dem Gebot, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen. Dieser Wertungsspielraum werde jedenfalls dann nicht willkürlich oder unvertretbar ausgeübt, wenn der Angeklagte zuvor ausdrücklich auf die Hinzuziehung eines Verteidigers verzichtet habe.[32] Diese Ausnahme ist insofern verwunderlich, als die für den Beschluss maßgebliche Rechtslage einen solchen Verzicht auf Pflichtverteidigung nicht vorsah und auch der Wortlaut von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. einen Wertungsspielraum des zuständigen Gerichts auf Rechtsfolgenebene nicht vorsieht ("bestellt").
Zwar ließe sich argumentieren, dass dieser vom BGH beschriebene Wertungsspielraum und die Möglichkeit des Verzichts in die wertungsoffener formulierten Voraussetzungen von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. hineingelesen werden könnten ("wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint"). Zum damaligen Zeitpunkt war eine Verzichtsmöglichkeit oder eine sonstige Einschränkungsmöglichkeit des Zugangs zu einem notwendigen Verteidiger außerhalb der §§ 31 ff. EGGVG nicht vorgesehen. Würde nun eine ungeschriebene Verzichtsmöglichkeit auf einmal anerkannt, würde dies eigentlich einer Möglichkeit des Ermittlungsrichters gleichkommen, über die gesetzlich vorgesehenen Konstellationen hinaus Zugang zu ermöglichen oder beschränken. Die Entscheidung darüber, insbesondere von einer Abkehr der bislang indisponiblen Pflichtverteidigerbestellung, dürfte jedoch dem Gesetzgeber zufallen. Anderenfalls würde sich die Folgefrage stellen, in wel-
chen Konstellationen konfligierender Prozessinteressen der Angeklagte ebenso trotz entgegenstehendem Wortlaut auf einen notwendigen Verteidiger verzichten kann und welche Auswirkungen dies auf § 338 Nr. 5 StPO hätte.
Der Beschluss des BGH wirft damit insbesondere im Hinblick auf ein etwaiges Beweisverwertungsverbot auch weiterhin Fragen für die Zukunft auf, obwohl der Gesetzgeber § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. inzwischen in § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO neu geregelt und eine Verzichtsmöglichkeit des Beschuldigten in § 141a StPO ausdrücklich aufgenommen hat.
Nach § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO wird einem Beschuldigten , der noch keinen Verteidiger hat, unabhängig von einem Antrag in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald er einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorgeführt werden soll. Abweichend davon dürfen Vernehmungen nach § 141 Abs. 2 StPO – damit auch solche zur Entscheidung über eine Haft[33] – bereits vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers durchgeführt werden, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich oder zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens zwingend geboten ist (§ 141a S. 1 StPO). Dass ein Beschuldigter auf die ihm zustehende notwendige Verteidigung verzichten kann, soll nur möglich sein, wenn ihm auf seinen Antrag hin nach seiner Belehrung bereits ein Verteidiger bestellt wurde und dies zur Abwehr der soeben benannten Gefahren erforderlich ist. Dadurch hat sich der Gesetzgeber von einer unbeschränkten Disponibilität der Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren abgewandt und den Verzicht auf notwendige Verteidigung nur unter der besonderen Voraussetzung weiterer, zusätzlicher Gefahrmomente erlaubt.[34] Im Fall der Vorführung zur Entscheidung über Haft wäre nach § 141a StPO lediglich ein Verzicht des Beschuldigten – so wie im Fall des BGH geäußert – unerheblich.
Folglich könnte der Beschluss des BGH in seiner Bedeutung tatsächlich auf Konstellationen beschränkt bleiben, die sich noch nach der Vorschrift des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. richten. Allerdings hat sich auch das obiter dictum im Beschluss des BGH gerade mit der Konstellation befasst, dass selbst bei unterstelltem zwingenden Zugang zu einem notwendigen Verteidiger bei der Vorführung zur Prüfung über Haft das zuständige Gericht von der Beiordnung absieht. Auch zuvor war das Konzept des Verzichts auf den notwendigen Verteidiger gesetzlich nicht vorgesehen und wurde trotzdem vom BGH in Form eines am Gesetzeswortlaut nicht nachvollziehbaren Wertungsspielraums eingeführt. Diese Ansicht sollte sich spätestens mit der neuen gesetzgeberischen Fassung erledigt haben, immerhin hat sich der Gesetzgeber nunmehr ausdrücklich gegen eine umfassende Disponibilität der Pflichtverteidigung im Stadium des Ermittlungsverfahrens entschieden. Die notwendige Folge daraus wäre eigentlich ein Verwertungsverbot solcher Vernehmungen und Gegenüberstellungen, die – obwohl die Voraussetzungen von § 141a StPO nicht vorlagen, in Abwesenheit eines Verteidigers durchgeführt wurden. Ob der Gesetzgeber sich einen Gefallen damit getan hat, von einer Verzichtsmöglichkeit im Ermittlungsverfahren für die notwendige Verteidigung abzusehen, obwohl die PKH-RL den Mitgliedstaaten diese Möglichkeit ausdrücklich eingeräumt hat,[35] ist zunächst offen. Das Fehlen einer überzeugenden gesetzgeberischen Lösung wird jedoch voraussichtlich dazu führen, dass diese Überlegungen des BGH zur Verwertbarkeit entgegen §§ 140 ff. StPO gewonnener Beweismittel auch zukünftig von Bedeutung sein werden.
[*] Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wider.
[1] Rat/Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1.
[2] Vgl. BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 14.
[3] Ebd. Rn. 2, 14.
[4] Ebd. Rn. 12 ff.
[5] Vgl. pos. dazu Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger – Strafrechtliche Prozesskostenhilfe in nationalen und transnationalen Verfahren, Berlin 2020, S. 309 ff.; Satzger/Schluckebier/Widmaier-Beulke, StPO, 3. Aufl. 2018, § 141 StPO Rn. 19; Burhoff StraFo 2018, 405; Conen, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens, Rn. 3 (https://www.bundestag.de/resource/blob/501008/b715255fc54b4a735cc55e56fafd8306/conen-data.pdf, zuletzt überprüft am: 30.01.2020); BeckOK-Krawczyk, StPO, 30. Aufl. 2018, § 141 Rn. 8; Jahn/Zink StraFo 2019, 322, 324; Schiemann KriPoZ 2017, 344; Schlothauer StV 2017, 557; in diesem Sinne auch Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski HRRS 2018, 64; diesem hat sich z. T. die instanzgerichtliche Rspr. angeschlossen, vgl. AG Stuttgart, Beschluss v. 27.11.2017 – 26 Gs 8396/17, juris, Rn. 4 f.; LG Halle, Beschluss v. 26.3.2018 – 10a Qs 33/18, juris, Rn. 12 f.; LG Magdeburg, Beschluss v. 19.03.2018 – 25 Qs 14/18, 25 Qs 841 Js 85821/17 (14/18), juris, Rn. 24 f.; dem nunmehr entgegentretend BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 14 ff.; ebenso abl. zuvor bereits BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, S. 19 f. (https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_notwendige_Verteidigung.pdf, zuletzt überprüft am: 30.01.2020) sowie im finalen Gesetzgebungsentwurf BR-Drs. 364/19, S. 16, 26 f., 31 f., 35; auch Schoeller StV 2019, 193 f. lehnte anscheinend diese Reichweite von § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. ab.
[6] BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 16 m. Verweis auf Tully/Wenske NStZ 2019, 183; abl. zum Ansatz von Tully/Wenske: BeckOK-Krawczyk, StPO, 30. Aufl. 2018, § 141 Rn. 8 a.E.; ebenso keine systematischen Bedenken hegend: Burhoff StraFo 2018, 406.
[7] BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 16; st. Rspr. des BGH zum Begriff der "Vollstreckung" in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO: NStZ 2014, 722 (723); OLG Koblenz, BeckRS 2011, 4039; vgl. dazu auch die Diskussion zur Gesetzesfassung, BT-Drs. 16/13097, S. 16 f.; zust. Knauer NStZ 2014, 724; ebenso zust. Morgenstern, Die Untersuchungshaft, Baden-Baden 2018, S. 523 m.w.N.; abl. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 309 f.; ebenso abl. KK-Graf, StPO, 8. Aufl. 2019, § 115 Rn. 11a; krit. zu systematischen Friktionen dieser Auslegung sowohl Schlothauer, in: Joecks/Ostendorf u.a. (Hrsg.), FS Samson, Heidelberg u.a. 2010, S. 715 als auch KK-Willnow, StPO, 8. Aufl. 2019, § 140 Rn. 11.
[8] BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 16.
[9] Ebd. unter Verweis auf BGH NStZ 2014, 722 (723) und BT-Drs. 18/11277, S. 28 f.; vgl. zur ursprünglichen Reform im Jahr 2009: BT-Drs. 16/13097, S. 19.
[10] BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 16 mit Verweis auf BT-Drs. 18/11277, S. 28.
[11] BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 17.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Dies krit. als systemwidrig bewertend Tully/Wenske NStZ 2019, 184.
[16] Nach h.M. vgl. BGH NStZ 2014, 722 (723); OLG Koblenz, BeckRS 2011, 4039; zust. Knauer NStZ 2014, 724; ebenso zust. Morgenstern, Die Untersuchungshaft, a.a.O. Fn. 7, S. 523; abl. dagegen KK-Graf, StPO, 8. Aufl. 2019, § 115 Rn. 11a; Schlothauer, in: Joecks/Ostendorf u.a. (Hrsg.), FS Samson, Heidelberg u.a. 2010, S. 714 f.; ebenso abl. MüKo-Thomas/Kämpfer, StPO, 1. Aufl. 2014, § 140 Rn. 17; ebenso abl. und m.w.N. zum Streitstand: Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 309 ff.
[17] Burhoff StraFo 2018, 406 f.; ebenso Schiemann KriPoZ 2017, 344; a.A. Tully/Wenske NStZ 2019, 184 ("Fremdkörper im Regelungsgefüge des Rechts der notwendigen Verteidigung").
[18] BR-Drs. 364/19, S. 16 f. sowie zuvor dazu BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, a.a.O. Fn. 5 , S. 2 f., 19 f., 28 f., vgl. § 143 StPO-E; daraus ableitend, dass entweder § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. diese Fallgestaltung keinesfalls habe regeln wollen oder es sich andernfalls um eine "schlicht fernliegende[…]ministerialbürokratische Fehlleistung" handeln müsse: Tully/Wenske NStZ 2019, 185.
[19] BT-Drs. 18/11277, S. 28; diese Formulierung für einen Paradigmenwechsel als zu weich erachtend: Tully/Wenske NStZ 2019, 185.
[20] BGH NJW 2000, 3505 (3508).
[21] EGMR, Urteil v. 15.11.2005 – 67175/01, Reinprecht ./. AT, EMRK-Slg. 2005-XII, Rn. 31 lit. c; Urteil v. 13.2.2001 – 24479/94, Lietzow ./. DE, EMRK-Slg. 2001-I, Rn. 44; Urteil v. 21.2.1996 – 21928/93, Hussain ./. GB, EMRK-Slg. 1996-I, Rn. 60; Urteil v. 21.2.1996 – 23389/94, Singh ./. GB, EMRK-Slg. 1996-I, Rn. 68 ("an oral hearing in the context of an adversarial procedure involving legal representation and the possibility of calling and questioning witnesses"); vgl. m.w.N. dazu Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 77 ff.
[22] So auch Schlegel/Wohlers StV 2012, 310; m.w.N. Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, Berlin 2007, S. 571 ff.; vgl. m.w.N. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 112 f.
[23] BGH NJW 2000, 3505 (3508 f.).
[24] Ebd., 3508; darauf verweisend: BT-Drs. 18/11277, S. 29.
[25] Zur EMRK vgl.: EGMR, Urteil v. 6.7.2017 – 21987/05, Sadkov ./. UA, Rn. 128; Urteil v. 6.10.2016 – 37364/05, Jemeljanovs ./. LV, Rn. 44; Urteil v. 9.6.2016 – 2308/06, Saranchov ./. UA, S. 44; Urteil v. 15.11.2007 – 26986/03, Galstyan ./. AM, Rn. 90; Urteil v. 22.10.2009 – 35185/03, Raykov ./. BG, Rn. 63; Urteil v. 10.8.2006 – 54784/00, Padalov ./. BG, Rn. 47; zur GRCh vgl. EuGH, Urteil v. 26.2.2013 – C-399/11, Melloni, Rn. 49; Jarass, EuGRCh, 3. Aufl. 2016, Art. 48 Rn. 22; m.w.N. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 61 ff., 255 ff.
[26] Vgl. krit. Gercke/Julius/Temming/Zöller-Julius/Schiemann, StPO, 6. Aufl. 2019, § 141 Rn. 2, 8; ebenso krit. Leipold AnwBl. 2004, 684 f.; dazu ferner: Rieß StV 1981, 462; abl. Wächtler StV 1981, 469; vgl. grundlegend zur Terminologie Haffke StV 1981, 471 ff.
[27] BGH NStZ 2014, 722 (723 f.) m. krit. Anm. v. Knauer NStZ 2014, 725; 38, 214 (219 f.); abl. Kasiske HRRS 2015, 70 f.; abl. Wohlers JR 2015, 285.
[28] Vgl. so BGH NStZ 2014, 722 (723 Rn. 10).
[29] Vgl. zu diesem Faktor i.R.d. Abwägungslehre: BGH NStZ 2016, 551 (552 a.E.) m. krit. Anm. Schneider NStZ 2016, 553 ff.; grundlegend BGH NJW 1971, 1097 (1098); allerdings keine Anwendung bei willkürlichen oder bewussten Verfahrensverstößen vgl. BGH NJW 2017, 1332 (1335); 1971, 1097 (1098).
[30] Vgl. dazu ausführlich Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 340, 344 ff.; ebenso dann für ein Beweisverwertungsverbot plädierend: Burhoff StraFo 2018, 410; diese Konsequenz bei zwingender Ausgestaltung ebenso andeutend, jedoch keine Pflicht zur Beiordnung erkennend: Tully/Wenske NStZ 2019, 183.
[31] Vgl. dazu und zur demgegenüber drängenderen Aufwertung des Beweisverwertungsverbots bei unterbliebener Belehrung gem. § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 347 ff.; ebenso für eine verwertungsrechtliche Aufwertung der Belehrungspflicht plädierend: Ransiek StV 2019, 162.
[32] BGH HRRS 2019, Nr. 1056 Rn. 17.
[33] Vgl. § 141 Abs. 2 Nr. 1 StPO.
[34] Zur Kritik daran bereits im Vorgängerentwurf des BMJV vgl. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 343 ff. m. Verweis auf BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, a.a.O. Fn. 5 , S. 36 f. und auf BMJV, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, S. 65 f. (https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_Verfahrensrechte_Jugendstrafverfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=1, zuletzt überprüft am 30.01.2020); insg. krit. zu einem "Verzichtsmodell" auch nach der Vorgabe der PKH-RL, vgl. Jahn/Zink StraFo 2019, 326 ff.
[35] Vgl. Rat/Europäisches Parlament, Richtlinie v. 26.10.2016 – 2016/1919/EU, PKH-RL, ABl. L 297, 1, Erwägungsgrund (9); eingeführt durch Europäisches Parlament, Standpunkt v. 4.10.2016 – EP-PE_TC1-COD(2013)0409, RL-E-EP, Erwägungsgrund (9); krit. zur Verzichtsmöglichkeit: Mevis/Verbaan Erasmus L. Rev. 7 (2014), 181; abl. zur Auslegung, dass die PKH-RL überhaupt eine Verzichtsmöglichkeit einräumt: Jahn/Zink StraFo 2019, 326 ff.; m.w.N. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, a.a.O. Fn. 5, S. 255 ff.