Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2020
21. Jahrgang
PDF-Download
Von Prof. Dr. Christian Jäger und wiss. Mit. Tina Bönig, Erlangen[*]
Am 23. April 2020 wird der Berliner Raser-Fall erneut vor dem BGH verhandelt.[1] Nachdem die 35. Kammer des Berliner Landgerichts in ihrer Entscheidung vom 27. Februar 2017[2] zu einer Bestrafung der Angeklagten wegen mittäterschaftlichen Mordes gelangt war und der 5. Senat des BGH diese Entscheidung mit Urteil vom 1. März 2018[3] kassiert hatte, musste nunmehr die 32. Kammer des LG Berlin über die Taten der Angeklagten befinden. Mit Urteil vom 26. März 2019 kam es dabei erneut zu einer Verurteilung wegen mittäterschaftlichen Mordes.[4]
Was die Einstufung des "Ku’damm-Raser"-Falls als Mord anbelangt, so zeigt sich in der Literatur ein weites Meinungsspektrum, das von ausdrücklicher Ablehnung[5] bis dezidierter Zustimmung[6] reicht. Letztlich spiegelt sich dieses ambivalente Bild aber auch in der Rechtsprechung wieder. So sind das LG Deggendorf[7] sowie das LG Stuttgart[8] in Raserfällen mit tödlichem Ausgang zu einer Verneinung des § 211 StGB gelangt, während das LG Kleve[9] eine Strafbarkeit wegen Mordes bei dem unmittelbaren Unfallverursacher bejahte und den Mitbeteiligten aus
§ 315d Abs. 5 StGB verurteilte. Bei aller Unterschiedlichkeit der Fallgestaltungen darf man daher gespannt sein, wie sich der BGH im hier zu besprechenden "Ku’damm-Raser"-Fall (endgültig?) positionieren wird.
Das LG Berlin stellt fest, dass die beiden Angeklagten an der Kreuzung Kurfürstendamm/Brandenburgische Straße/Lewishamstraße an einer Ampel aufeinandertrafen.[10] Bereits hier ließ der Angeklagte H. den Motor seines Fahrzeugs aufheulen. Als die Ampel grün wurde, fuhren die beiden Angeklagten los. Kurz hinter dieser Kreuzung blieben die beiden Angeklagten stehen. Hier unterhielten sie sich durch die geöffneten Seitenscheiben. Der Angeklagte H. teilte dem Angeklagten N. mit, "er sei noch mit einigen Kumpels am Wittenbergplatz verabredet." Der Angeklagte N. sah in dem vorgehenden Aufheulenlassen des Motors zutreffend eine Aufforderung zu einem Stechen. Als das Gespräch der Angeklagten beendet war, nahm der Angeklagte N. die vor dem Gespräch erfolgte Aufforderung an. Beide führten ein kurzes Stechen durch. Dieses endete an einer roten Ampel an der Kreuzung Kurfürstendamm/Olivaer Platz/Leibnizstraße. Der Angeklagte N. gewann das Stechen. Der Angeklagte H. ließ an dieser Ampel erneut den Motor aufheulen, was der Angeklagte N. als abermalige Aufforderung zu einem Stechen interpretierte und weshalb er die Aufforderung annahm. Das zweite Stechen ging bis zur Kreuzung Kurfürstendamm/Schlüterstraße. Der Angeklagte N. erreichte die rote Ampel wiederum als erster und blieb stehen.[11] Der Angeklagte H. hingegen blieb nicht stehen, sondern fuhr über die rote Ampel weiter, um den Anklagten N. zu einem Rennen herauszufordern. Dies erkannte der Angeklagte N. und fuhr daraufhin los. Das nun folgende Rennen ging entlang des Kurfürstendamms in östliche Richtung. An der Kreuzung mit der Joachimsthaler Straße überholte der Angeklagte N. den Angeklagten H.[12] Bis zu diesem Zeitpunkt überfuhren die beiden Angeklagten zwei Kreuzungen mit roten Ampeln.[13] Der Angeklagte N. durchfuhr als erster die Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einer Geschwindigkeit von etwa 90-100 km/h.[14] Der Angeklagte H. durchfuhr die Kurve mit 120-130 km/h, was im Bereich der Kurvengrenzgeschwindigkeit lag. Der Angeklagte H. beschleunigte sein Fahrzeug ab dem Kurvenausgang maximal, um den Angeklagten N. noch einholen und das Rennen gewinnen zu können.[15] Der Angeklagte N. realisierte, dass der Angeklagte H. nun Vollgas gab und beschleunigte ebenfalls. Ca. 90 Meter vor der Unfallkreuzung ging er kurz vom Gas und gab dann ebenfalls Vollgas.[16] Die beiden Angeklagten fuhren mit hoher Geschwindigkeit auf die Unfallkreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße zu, wobei die dortige Ampel – bereits seitdem die Angeklagten durch die Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gefahren waren – für beide erkennbar rot war.[17] Der Angeklagte H. kollidierte in der Kreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße mit einem von rechts kommenden Fahrzeug. Nach der Kollision mit dem querenden Fahrzeug kollidierte der Angeklagte H. seitlich mit dem Angeklagten N.[18] Ob es zu einer Kollision zwischen dem Angeklagten N. und dem kreuzenden Fahrzeug gekommen wäre, wenn der Angeklagte H. nicht bereits zuvor mit dem kreuzenden Fahrzeug kollidiert wäre, konnte nicht festgestellt werden.[19]
Das LG Berlin geht in seinem Urteil davon aus, dass der Angeklagte H. spätestens ab dem Ausgang der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, als er sein Fahrzeug maximal beschleunigte und seine Fahrt bis zum späteren Kollisionsort, an dem er mit dem von dem Geschädigten W. gesteuerten Jeep kollidierte, kontinuierlich mit Vollgas fortsetzte. Unter Bezugnahme auf das Urteil des BGH vom 1. März 2018[20] wiederholt das LG Berlin dabei noch einmal die Rechtsprechungsgrundsätze, wonach bedingter Vorsatz in ständiger Rechtsprechung gegeben sei, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (kognitives Vorsatz- element) und dies billigt oder sich damit abfindet (voluntatives Vorsatzelement).[21] Bedingter Vorsatz erfordere dabei keine emotional positive Einstellung des Täters gegenüber dem Taterfolg. Er könne vielmehr auch dann vorliegen, wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges gleichgültig oder gar unerwünscht sei.[22] Demgegenüber liege bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden sei und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraue, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.[23] Dabei betont das LG nochmals, dass nach der Rechtsprechung des BGH für die Abgrenzung eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände erforderlich sei, wobei vor allem bei Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich sei, sich mit der Persönlichkeit des Täters auseinanderzusetzen und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivation und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht zu ziehen.[24] In diesem Zusammenhang, so das LG Berlin wiederum unter Berufung auf das Urteil des BGH vom 1. März 2018, sei die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willens-
element des bedingten Vorsatzes. Andererseits, so das LG weiter, seien die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr komme es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an.
Sodann aber begründet das LG Berlin das Vorliegen bedingten Tötungsvorsatzes dennoch praktisch ausschließlich mit der dem Angeklagten bekannten Gefährlichkeit der Tathandlung und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts, wenn es im Urteil heißt:[25] "Dem Angeklagten H. war bewusst, dass er bei seiner Fahrt mit maximaler Beschleunigung aus dem Kurvenausgang in Richtung der Kreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße beim Einfahren in diese Kreuzung bei für ihn Rot abstrahlendem Licht der dortigen Lichtzeichenanlage eine Geschwindigkeit erreicht haben werde, die noch deutlich über seiner bei Kurvenausgang gefahrenen Geschwindigkeit von 120-135 km/h liegen und bei der ihm eine kollisionsvermeidende Reaktion nicht mehr möglich sein würde. Zudem waren ihm die dortigen baulichen Gegebenheiten aufgrund seiner Ortskenntnis vertraut. Er wusste daher, dass die Sicht nach rechts in die Nürnberger Straße durch die Bebauung und eine Litfaßsäule stark eingeschränkt ist. Er erkannte also, dass er ein von rechts aus der Nürnberger Straße in die Kreuzung einfahrendes Auto entsprechend spät erst wahrnehmen und er in diesem Fall ungebremst frontal in die Seite des querenden Fahrzeugs fahren würde."
Bemerkenswert ist sodann aber der (vermeintliche) Beleg des LG Berlin für das Vorliegen eines auch voluntativen Vorsatzelements: Gegründet wird dieses auf die Äußerung des Angeklagten gegenüber der Verkehrspsychologin, wonach er das Risiko von Wettrennen tagsüber meide, nachts jedoch eingehe.[26] Das LG schließt daraus, dass der Angeklagte das Risiko kannte. Dabei bemerkt das Gericht in Wahrheit nicht, dass über die Kenntnis des Risikos hinaus auch ein "Sichabfinden" mit dem Erfolg erforderlich ist.[27] Und gerade dieses "Sichabfinden" wäre nach der Äußerung des Angeklagten eigentlich in Frage zu stellen. Schon an dieser Stelle wird jedoch eine Argumentationslinie des Gerichts erkennbar, die sich durch das gesamte Urteil zieht und den unbefangenen Leser mit einem unguten Gefühl zurücklässt. Das Gericht wählt aus bestimmten Gegebenheiten stets diejenige Schlussfolgerung, die sich zum Nachteil der Angeklagten wendet. Besonders deutlich wird dies noch bei den Darlegungen zur Mittäterschaft zu zeigen sein.[28] Aber auch schon hier wird aus der Risikomeidung tagsüber auf eine nächtliche Erfolgsakzeptanz geschlossen. Natürlich spürt das LG Berlin, dass es etwas zu dieser möglichen gewollten Risikominderung sagen muss. Dabei flüchtet es sich in Ausführungen zu den dem Angeklagten bekannten Örtlichkeiten:[29] Es handele sich um eine zentrale innerstädtische Hauptverkehrsader, auf der auch zu dieser Zeit noch Straßenverkehr stattfand, was der Angeklagte auch erkannte, da er kurz zuvor in der Kurve an der Gedächtniskirche an dem an der roten Ampel wartenden Taxi vorbeigefahren sei. Auch sei dem Angeklagten bewusst gewesen, dass querender Verkehr aus der Nürnberger Straße drohte, da die Lichtzeichenanlage an der dortigen Kreuzung in Betrieb und nicht etwa aus Gründen mangelnden Verkehrsaufkommens abgeschaltet war. Und schließlich sei dem Angeklagten auch bewusst gewesen, dass es durch einen mit der von ihm gefahrenen Geschwindigkeit zu erwartenden frontalen Anprall seines Fahrzeugs auf die relativ ungeschützte Fahrerseite eines von rechts querenden Fahrzeugs zu einem tödlichen Zusammenstoß kommen konnte.[30] Hier wird ersichtlich, dass das LG Berlin allein von den dem Angeklagten bekannten Umständen (zentrale Verkehrsader, nächtlicher Verkehr, in Betrieb befindliche Lichtzeichenanlage) und damit aus kognitiven Gesichtspunkten auf das voluntative Vorsatzelement schließt. Kein Wort verliert das LG Berlin dagegen dazu, dass die Äußerung des Angeklagten, dass er das Risiko nur nachts eingehen wollte, als Vermeidewille[31] für einen als möglich erkannten Unfall zu verstehen sein könnte. Denn gerade wenn der Angeklagte das Risiko nur bei Nacht einging, so sollte dies eigentlich dafür sprechen, dass es ihm bei der nächtlichen Durchführung in Wahrheit doch um die Vermeidung von (möglich tödlichen) Kollisionen ging und dass er sich gerade nicht um jeden Preis – wie das LG Berlin an mehreren Stellen äußert[32] – mit dem Erfolg abgefunden hat.
Zwar sieht das LG Berlin in der unmittelbar darauffolgenden Passage auch, dass der BGH in seinem Urteil vom 1. März 2018[33] darauf hingewiesen hatte, dass es zwar keine Regel gebe, wonach es einem Tötungsvorsatz entgegensteht, wenn mit der Vornahme einer fremdgefährlichen Handlung auch eine Eigengefährdung einhergeht, dass aber andererseits bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen kann, dass er auf einen
guten Ausgang vertraut hat.[34] Gerade an dieser Stelle hätte sich das LG Berlin zwingend mit der Äußerung des Angeklagten auseinandersetzen müssen, derzufolge er das Risiko nur nachts eingehe. Eine solche Auseinandersetzung bleibt aber aus.
Wieder greift das Gericht stattdessen zu einer Schlussfolgerung, nach der es dem Angeklagten keinesfalls um eine Erfolgsvermeidung gehen konnte, weil er das verminderte Risiko für die eigene Person erkannt habe. Im Urteil[35] heißt es dazu, dass das Risiko erheblicher Verletzungen für den Fahrer des anprallenden Fahrzeugs wesentlich geringer als das des querenden Pkw gewesen sei, zumal im nächtlichen Verkehr nur mit querenden Pkw und nicht mit querenden Lkw zu rechnen gewesen sei. Die Möglichkeit, dass es dem Angeklagten bei der Eingehung des Risikos um eine vollständige Vermeidung eines Zusammenpralls gegangen sein konnte, blendet das LG Berlin damit praktisch aus. Dass das Gericht auch die wiederholte Äußerung des Angeklagten im Anschluss an die Tat "Wie konnte das nur passieren?"[36] nicht als zusätzliches Indiz zu seinen Gunsten wertet, passt dabei in das Gesamtbild des Urteils.[37]
Besonders bemerkenswert sind die Ausführungen des LG Berlin zu der Tatsache, dass der Angeklagte H. selbst bei Durchführung von Rennen niemals einen Sicherheitsgurt anlegte. Eigentlich würde auch dies – abgesehen davon, dass dies sicherlich auch als Imponiergehabe in der Raserszene verstanden werden muss[38] – wiederum dafürsprechen, dass der Angeklagte bei den Rennen stets auf einen guten Ausgang vertraut hat. Aber erneut wischt das Gericht diese Möglichkeit unter Heranziehung der Ausführungen des dazu gehörten Sachverständigen beiseite. Danach würden Unfallkonstellationen der hiesigen Art als "Projektilfälle" bezeichnet, da das anprallende Fahrzeug einem Projektil gleich zunächst in das querende Fahrzeug eindringe und dieses sodann vor sich her schleudere. Die Gefahr erheblicher Verletzungen für den Fahrer des anprallenden Fahrzeugs sei dabei äußerst gering. Dessen Risiko nehme zudem ab, je höher die Geschwindigkeit beim Anprall sei, da bei höherer Geschwindigkeit die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsveränderung nicht so erheblich sei. Das querende Fahrzeug stelle nämlich keine feste Barriere dar, sondern werde – nach dem anfänglichen Eindringen des anprallenden Fahrzeuges in die Struktur des querenden Fahrzeugs – nach vorne weggeschleudert. Dabei spiele auch grundsätzlich keine Rolle, wenn der Fahrer des anprallenden Fahrzeugs – wie hier der Angeklagte H. – nicht angeschnallt sei, denn durch den Anprall löse der Fahrerairbag in Sekundenbruchteilen aus und der Fahrer falle in "ein weiches Kissen". Dabei "erkenne" die Airbagsteuerung sogar, ob der Insasse den Sicherheitsgurt angelegt hat oder nicht und löse bei Nichtanlegen desselben dementsprechend früher die Airbagzündung aus.[39]
Natürlich merkt das LG Berlin, dass der Angeklagte über das Fachwissen des Sachverständigen nicht verfügen konnte und räumt dies auch ein. Jedoch wird dennoch die Schlussfolgerung gezogen, dass für ihn ein Risiko bei einer derartigen Kollision zu Tode zu kommen, im Gegensatz zu Insassen querender Pkw praktisch nicht bestanden habe, sondern dass er – auch im Hinblick auf seinen mit Airbags ausgestatteten Audi – im Falle einer solchen Kollision eher leichtere Blessuren wie Prellungen und/oder Schnittverletzungen davontragen würde.[40] Man fragt sich, wie der Angeklagte dies annehmen konnte, obgleich er – wie das LG Berlin auch anerkennt – nicht über das Fachwissen des Sachverständigen verfügen konnte. Die Ausführungen sind daher an dieser Stelle sogar widersprüchlich.
Zudem hatte der BGH in seinem Urteil vom 1. März 2018[41] ausgeführt, dass eine erkannte Eigengefährdung dafür sprechen könne, dass der Angeklagte auf einen guten Ausgang vertraut hat. Keineswegs hatte der BGH bei dieser Eigengefährdung nur einen tödlichen Ausgang im Blick, wie es das LG Berlin unterstellt.[42] Gerade weil der Angeklagte nicht über die Kenntnisse des Sachverständigen verfügte, musste er zumindest mit erheblichen Verletzungen auch bei einer seitlichen Frontalkollision rechnen. Selbst wenn zu nächtlicher Stunde nicht mehr mit querendem Lkw-Verkehr zu rechnen gewesen wäre, so hätte zumindest eine Kollision mit einem schweren Kastenwagen, mit einem Reisebus oder ein Aufprall im Bereich der Räder und damit auf Höhe der seitlichen Fahrzeugachse drohen können – Möglichkeiten, die das LG Berlin freilich nicht einmal in Erwägung zieht und bei denen der Aufprall für den Angeklagten H. sicherlich weniger glimpflich verlaufen wäre. Jedenfalls ist die Annahme, dass der Angeklagte ohne die Kenntnisse des Sachverständigen auf einen Unfall mit für ihn selbst nur marginalen Verletzungen vertraut haben könnte, im Ergebnis nahezu abwegig. Vielmehr hätte die Annahme nahegelegen, dass der Angeklagte angesichts des Ausmaßes seiner Selbstüberschätzung insgesamt auf einen guten Ausgang vertraut hat. Es ist und bleibt eben doch ein Unterschied, ob jemand mit Fremdschädigungstendenz blindlings einen schweren Gegenstand ohne Steuerungsmöglichkeit aus dem Fenster im 10. Stock seines Hauses auf eine belebte Straße wirft oder ob jemand mit für sich selbst in Anspruch genommenem Steuerungspotential auf eine Kreuzung zurast, um ein Rennen zu gewinnen. Die Ausführungen des LG Berlin wirken daher
auch an dieser Stelle wie ein "Es kann nicht sein, was nicht sein darf!".
Eine Fortsetzung finden die einseitigen Schlussfolgerungen des Gerichts bei den Vorsatzerwägungen zur Person des N. Maßgeblich für die Bejahung eines entsprechenden Tötungsvorsatzes war hier für das Gericht, dass es auch dem Angeklagten N. nach Durchfahren der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wegen kontinuierlichen Schrumpfens seines Vorsprungs darum gegangen sei, das Rennen fortzusetzen und um jeden Preis zu gewinnen. Das Gericht sieht dies dadurch als bestätigt, dass der Angeklagte sein Fahrzeug nach dieser Kurve maximal beschleunigte.[43] Dass nicht das Schrumpfen des Vorsprungs Grund für die Beschleunigung gewesen sein könnte, sondern die nachvollziehbare Tatsache, dass eine Geschwindigkeitserhöhung erst nach dem Kurvenausgang möglich und daher den örtlichen Gegebenheiten geschuldet war, zieht das Gericht dagegen von vornherein nicht in Erwägung. Dass dieses Verhalten in Wahrheit vier Interpretationsmöglichkeiten auch mit Blick auf die Mittäterschaft zulässt, wird noch zu zeigen sein (dazu näher sogleich unter IV.). Angemerkt sei an dieser Stelle allerdings, dass der Wille, das Rennen zu gewinnen, keineswegs belegt, dass dies um jeden Preis erfolgen sollte. Gerade weil der Angeklagte auf einen Gewinn des Rennens aus war, könnte man darin vielmehr auch einen Anhaltspunkt für ein Vertrauen auf einen guten Ausgang sehen. Wer gewinnen will, der glaubt an einen Erfolg und verdrängt gerade bei einer übersteigerten Selbstüberhöhungstendenz die Möglichkeit eines Misserfolgs.[44] Auch dies wertet das LG Berlin im Gesamtduktus des Urteils mit dürren Worten als unbeachtlich, indem es davon ausgeht, dass es sich dabei nicht um eine psychische Störung gravierenden Ausmaßes handelte, so dass ein Ausschluss des Tötungsvorsatzes darauf nicht zu stützen sei.[45] Diese Beurteilung beruht jedoch wiederum auf einer eindimensionalen Perspektive, da der Umfang der psychischen Störung für sich gesehen die Beurteilung der Schuld betrifft. Dagegen kann eine psychische Störung auch in milderer Form zumindest ein Zusatzindiz für einen fehlenden Vorsatz sein.[46] Den Blick hierauf versperrt sich jedoch das Gericht von vornherein.
Einen zentralen Aspekt innerhalb des Urteils bildet sodann die Bewertung des Gerichts hinsichtlich des kurzzeitigen Lösens des Gaspedals. In den Ausführungen zur Person des Angeklagten N. heißt es hierzu ausdrücklich: "Der Angeklagte N. handelte zur Überzeugung der Kammer ab dem Zeitpunkt, zu dem er nach dem einsekündigen vollständigen Lösen des Gaspedals wieder maximal beschleunigte und weiter auf die Kreuzung Tauentzien-straße/Nürnberger Straße zuraste, ebenfalls mit Tötungsvorsatz."[47] Erneut beruft sich das LG Berlin dafür auf die Ausführungen des Sachverständigen. Dieser habe nachvollziehbar ausgeführt, dass ein Lösen des Gaspedals bei der Analyse von Unfällen regelmäßig festzustellen sei, wobei dieses Lösen regelmäßig in dem Moment geschehe, in dem der Fahrzeugführer vor einer Kollision noch bremsen und sein Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen hätte bringen können. Dieses Verhalten sei selbst bei gestellten Unfällen zu beobachten und stelle ein Indiz dafür dar, dass bei dem Fahrzeugführer ein bewusster Denkprozess im Hinblick auf die bevorstehende Gefahr einer Kollision ablaufe. Das Gericht sieht diesen Denkprozess sodann durch die Einlassung des Angeklagten N. bestätigt, wonach er beim Lösen des Gaspedals zunächst gedacht habe, bremsen, um noch zum Stehen zu kommen, schaffe er nicht mehr, deshalb sei er lieber aufs Gas gegangen, da die Ampel da vorne bereits eine Weile auf "rot" stand und bestimmt gleich "grün" werde. Genau diesen Denkprozess sieht die Kammer jedoch als Schutzbehauptung, weil die Strecke, auf der der Angeklagte das Rotlicht erkennen konnte, für ein Vertrauen auf ein Umschalten der Ampel auf "grün" zu kurz gewesen sei und es im Übrigen bei diesem Gedanken besser gewesen sei, das Gaspedal weiterhin gelöst zu halten und zu einem späteren Zeitpunkt an der Haltelinie der Lichtzeichenanlage anzukommen, um der Ampel sozusagen "mehr Zeit zu geben", auf grün umzuschalten. Den Gedankengang, "ich kann nicht mehr bremsen, die Ampel wird jedoch gleich grün, deshalb gebe ich Vollgas", stellt sich daher aus Sicht des Gerichts geradezu als absurd dar.[48]
Schon die Erwägungen, mit denen das Gericht die Einlassung des Angeklagten als abwegige Schutzbehauptung abtut, sind dabei keineswegs überzeugend. Denn natürlich kann es aus Sicht eines Rasers – gerade bei einem kurzen Denkprozess – günstiger erscheinen, das Gaspedal durchzudrücken, um die Kreuzung möglichst noch vor dem Eintreffen querender Fahrzeuge zu passieren, anstatt zu bremsen, wenn er davon ausgeht – und dies hat das Gericht nicht widerlegt –, nicht mehr rechtzeitig vor dem Scheitelpunkt der Kreuzung anhalten zu können. Denn durch ein Verlangsamen mit anschließender längerer Verweildauer auf der Kreuzung würde der Fahrer ansonsten erst recht eine Kollision riskieren. Insoweit ist die apodiktische Bewertung der Einlassung des Angeklagten als absurde Schutzbehauptung ihrerseits nicht nachvollziehbar.
Das Gericht zwingt hier aber offensichtlich erneut die Erklärung für den Zeitpunkt der Vorsatzbildung unter die Vorgaben des BGH aus dem Urteil vom 1. März 2018. Der BGH hatte darin kritisiert, dass das LG Berlin in seinem ersten Urteil die Entwicklung des Vorsatzes auf einen zu späten Zeitpunkt verlegt hatte, nämlich auf den Moment unmittelbar vor dem Einfahren in die Kreuzung, in dem eine Kollision bereits unvermeidbar war.[49] Ein solcher Vorsatz sei aber als dolus subsequens unbeacht-
lich.[50] Auch hier spürt man wieder deutlich, wie das LG Berlin den Sachverhalt für das Ergebnis einer Vorsatzbegründung durch einseitige Hypothesenbildung an die Vorgaben anpasst, indem es – den Angaben des Sachverständigen folgend – das Lösen des Gaspedals drei Sekunden (106 m) vor dem Unfall als den entscheidenden Ausdruck eines Denkprozesses hinsichtlich der nunmehr erkannten Gefahr begreift, sodass der Angeklagte spätestens beim anschließenden Beschleunigen (90 m) vor dem Zusammenstoß bedingten Tötungsvorsatz hatte. Obgleich der Sachverständige keine inhaltlichen Vorgaben hinsichtlich dieses Denkprozesses gemacht hatte, zieht das LG Berlin die umgekehrte Möglichkeit, dass der Angeklagte sich beim ersten Lösen des Gaspedals doch noch einmal kurz versichert haben könnte, dass die Kreuzung nach wie vor frei ist, und möglicherweise deshalb wieder Gas gegeben hat, weil er jetzt endgültig auf einen guten Ausgang vertraute, dagegen nicht einmal in Erwägung, obgleich eine solche Erklärung durchaus plausibel, ja sogar naheliegender wäre: Die Vergewisserung hinsichtlich der noch freien Kreuzung schafft einen Anhaltspunkt für ein mögliches Vertrauen, sodass der Denkprozess sogar Ausdruck eines Vermeidewillens gewesen sein könnte. Dass dabei die Angaben des Angeklagten mit Blick auf den stattgefundenen Denkprozess – entgegen der Ansicht des LG Berlin – auch durchaus Sinn ergeben können, wurde dabei soeben bereits erläutert.
Nur ergänzend sei an dieser Stelle noch auf den Umstand eingegangen, dass es etwa eine Sekunde (35 m) vor dem Unfall noch einmal zu einem Lösen des Gaspedals kam, das das LG nunmehr aber als eine vorsatzirrelevante reflexartige Handlung abtut, die möglicherweise durch das Auftauchen des Jeeps ausgelöst wurde.[51]
Auch hier ist die Argumentation des Gerichts, gerade wenn das LG mit seiner Hypothese vom kurzzeitigen Erkennen des querenden Fahrzeugs Recht hätte, nicht frei von Widerspruch. Denn wenn der Angeklagte nun doch durch die Wahrnehmung des Jeeps überrascht worden sein sollte, dann spräche dies eher gegen einen zuvor bereits gebildeten bedingten Vorsatz. Dann nämlich scheint der Angeklagte mit dem Auftauchen eines querenden Fahrzeugs vorher gerade nicht gerechnet zu haben. Es würde dann zuvor schon am kognitiven Vorsatzelement gefehlt haben. Insoweit ist es erstaunlich, dass das Gericht keinen Anlass dafür gesehen hat, den Sachverständigen danach zu befragen, wie er sich das zweite Lösen des Gaspedals erklärt, obgleich dieser das Lösen allgemein als einen regelmäßigen Ausdruck eines kurzen Denkprozesses bezeichnet hatte. Das LG Berlin ersetzt hier also wiederum offensichtlich den möglichen Denkprozess hinsichtlich einer Überraschung durch eine reflexhafte Handlung, um die Ausführungen zum zuvor gebildeten Vorsatz des Angeklagten nicht wieder in Frage stellen zu müssen.
Das LG Berlin stellt fest, dass zu Beginn des geschilderten Sachverhalts zwei aufeinanderfolgende Entschlüsse hinsichtlich zweier Stechen durch die Angeklagten gefasst wurden.[52] Das Rennen, das sich aus dem zweiten Stechen entwickelte, wurde einverständlich durch das konkludente Verhalten der beiden Angeklagten durchgeführt.[53] "Dass dieses illegale Straßenrennen ein von einer gemeinsamen Tatherrschaft getragenes Verhalten darstellt, liegt in der Natur der Sache (…). Dieser gemeinsame Tatenschluss zur Durchführung des Rennens erfuhr sodann nach dem Durchfahren der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche[54] eine Erweiterung. Wie oben dargestellt, fasste zunächst der Angeklagte H. den Tatentschluss, das Rennen – koste es, was es wolle – zu gewinnen und dabei auch den Tod der Insassen querender Fahrzeuge in Kauf zu nehmen. Dies erkannte der Angeklagte N.; nachdem er etwa 90 m vor dem Kollisionsort letzte Bedenken beiseite gewischt hatte, beschleunigte auch er sein Fahrzeug wieder maximal und gab dem Angeklagten H. dadurch zu erkennen, dass auch er das Rennen fortsetzen und den Tod von Insassen querender Fahrzeuge in Kauf nehmen wolle. Beide Angeklagte hatten auch bis zuletzt, d. h. bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Kollision nicht mehr zu verhindern war, gemeinsame Tatherrschaft über das Geschehen. Das von der Verteidigung des Angeklagten N. im Schlussvortrag vorgebrachte Argument, der Angeklagte H. wäre – unabhängig von dem Verhalten des Angeklagten N. – weitergerast, ist nach Überzeugung der Kammer widerlegt durch die Angabe des Angeklagten H. gegenüber der Verkehrspsychologin (…), wonach er in der Vergangenheit zwar auch allein schnell gefahren sei, jedoch nicht so extrem. Die Kammer geht davon aus, dass auch der Angeklagte H. seine halsbrecherische Fahrt nicht fortgesetzt hätte, wenn der Angeklagte N. 90 m vor dem Kollisionsort eine Gefahrenbremsung durchgeführt hätte."[55] Hierfür spreche auch das Verhalten des Angeklagten H. wenige Tage vor dem Unfallgeschehen.[56] Dort kam es zu einem mehrmaligen Stechen mit einem Zeugen. Dieser Zeuge sei zwar schnell gefahren, habe rote Ampeln aber nicht missachtet. Der Angeklagte H. habe "immer wieder auf den Zeugen (…) gewartet, um diesen weiter zur Durchführung eines Rennens zu bewegen. Aufgrund der auf dem gemeinschaftlichen gefassten Tatentschlusses beruhenden und von beiden Angeklagten ausgeführten Tathandlung ist es unerheblich, dass (lediglich) das von dem Angeklagten H. gesteuerte Fahrzeug mit dem Jeep des Geschädigten W. kollidierte; da dem Angeklagten N. der Taterfolg als Mittäter zugerechnet wird."[57]
Obgleich der BGH in seinem Urteil vom 1. März 2018 ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Mittäterschaft geäußert hat[58], nehmen die Ausführungen des Gerichts zu diesem Gesichtspunkt gerade einmal knapp eineinhalb Seiten ein. Dabei überzeugt die rechtliche Würdigung der Mittäterschaft des LG Berlin aus mehreren Gründen nicht: Die Ausführungen lassen die nötige dogmatisch saubere Darstellung einer mittäterschaftlichen Begehungsweise vermissen (im Folgenden lit. a.). Die Darstellung des Verhaltens der Angeklagten im für die Mittäterschaft entscheidenden Zeitpunkt lässt insgesamt vier Interpretationsmöglichkeiten zu, von denen das LG Berlin sich lediglich mit einer befasst (im Folgenden lit. b.). Zuletzt lässt das LG Berlin den Rückgriff auf früheres Verhalten des Anklagten H. zu dessen Gunsten nicht zu, zu Lasten des Angeklagten N. aber schon (im Folgenden lit. c.).
Richtigerweise stellt das LG Berlin fest, dass zu Anfang des gesamten Geschehens zwei aufeinanderfolgende Entschlüsse zur Durchführung zweier Stechen getroffen wurden. Aus dem zweiten Stechen heraus entwickelte sich der Entschluss, ein Rennen durchzuführen. Das LG Berlin stellt hier fest, dass das "Straßenrennen ein von einer gemeinsamen Tatherrschaft getragenes Verhalten darstellt."[59] Besser wäre es aber, an dieser Stelle davon zu sprechen, dass das gemeinsame Rennen ein Verhalten ist, das von einem gemeinsamen Tatplan oder einem gemeinsamen Tatentschluss getragen wird.[60] Im ersten Schritt müssen die Tatbeiträge der Mittäter auf einem gemeinsamen Tatplan beruhen.[61] Demnach muss ein gemeinsamer Tatentschluss zur Tatbegehung vorliegen.[62] Der Tatbeitrag muss wesentlich sein[63], damit eine Mittäterschaft und keine Gehilfenschaft vorliegt. Ob die Abgrenzung von Mittäterschaft und Gehilfenschaft eher objektiv oder subjektiv zu erfolgen hat, ist umstritten.[64] Unabhängig davon, welche Theorie zur Abgrenzung vertreten wird, bedarf es im ersten Schritt aber des gemeinsamen Tatplans. Das LG Berlin geht hingegen direkt zum Gesichtspunkt der Tatherrschaft über, ohne darzustellen, dass das Verhalten der beiden Angeklagten und die dahinterstehende konkludente Absprache eines Rennens Ausdruck eines gemeinsamen Tatplans war.
Die Annahme, dass dieser "gemeinsame Tatentschluss zur Durchführung des Rennens (…) nach dem Durchfahren der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche[65] eine Erweiterung"[66] erfahren haben soll, ist aus folgenden Gründen nicht nachvollziehbar:
Zunächst hätte es hier einer Begründung bedurft, dass eine mittäterschaftliche Begehung überhaupt zum ersten Mal vorliegt. Zwar zeigt das LG Berlin zu Beginn auf, dass erst ein einverständliches Stechen und dann ein einverständliches Rennen zwischen den Angeklagten stattfand, dies stellte aber bis zur vermeintlichen Erweiterung des Tatentschlusses noch keine Straftat dar. Das LG Berlin hätte also bei dieser vermeintlichen Erweiterung des Tatentschlusses die Voraussetzungen einer Mittäterschaft darstellen und prüfen müssen. Denn hier steht nun zum ersten Mal eine gemeinschaftliche Begehung einer Straftat im Raum. Die vorausgehende Argumentation des LG Berlin zum einverständlichen Stechen und Rennen, die rechtlich gesehen aber mangels strafrechtlicher Anknüpfungstat ins Leere geht, entbindet nicht davon, die rechtlichen Voraussetzungen einer Mittäterschaft zu dem Zeitpunkt, in dem sie erstmals strafrechtlich relevant wird, zu prüfen.
Sodann wird diese vermeintliche Erweiterung des Tatentschlusses maßgeblich darauf gestützt, dass der Angeklagte H. nach dem Durchfahren der Kurve das Rennen "koste es, was es wolle" gewinnen wollte und dabei auch den Tod der Insassen querender Fahrzeuge in Kauf nehmen würde. Dieser Schluss wiederum wird aus dem Durchdrücken des Gaspedals/dem Vollgas Geben nach dem Durchfahren der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche durch den Angeklagten H. gezogen. Wenn hierin überhaupt eine Vorsatzerweiterung[67] gesehen werden kann, ist unklar, warum die (einseitige) Erweiterung des Tatentschlusses seitens des Angeklagten H. für den Anklagten N. in dieser Form erkennbar gewesen sein soll. Dass der Angeklagte N. "dies", also den Entschluss des Angeklagten H., das Rennen "koste es, was es wolle" gewinnen zu wollen und dabei den Tod der Insassen querender Fahrzeuge in Kauf zu nehmen, erkannt habe, begründet das LG Berlin damit, dass er sein Fahrzeug nach dem Durchfahren der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche maximal beschleunigte, nachdem er kurz vom Gas ging.[68] Hierin habe er zu erkennen gegeben, dass auch er das Rennen fortsetzen und den Tod von Insassen querender Fahrzeuge in Kauf nehmen werde.[69] Dieses Ergebnis überzeugt nicht, denn das Verhalten beider Angeklagter lässt vier Interpretationsmöglichkeiten zu, je nachdem, ob der Tatentschluss überhaupt erweitert wurde, welcher Angeklagter seinen Tatentschluss erweitert hat und ob dies der andere Angeklagte erkannt hat. Das LG Berlin setzt sich aber nur mit einer Interpretationsmöglichkeit auseinander.
Der Angeklagte H. erweiterte seinen Tatentschluss und nahm den Tod querender Verkehrsteilnehmer ab diesem Zeitpunkt billigend in Kauf. Dies hätte vom Angeklagten N. dann aber auch so verstanden werden müssen. Aus Sicht des Angeklagten N. hätte sich das Beschleunigen aber genauso gut als schlichtes Fortführen des Rennens darstellen können. Immerhin wurde gerade eine Kurve verlassen und auf gerader Straße weitergefahren, auf der naturgemäß schneller gefahren werden kann. Wodurch hier der Angeklagten H. dem Angeklagten N. kommuniziert haben soll, dass der Angeklagte H. nun bereit sei, "über Leichen zu gehen", vermag sich nicht zu erschließen. Hohe Geschwindigkeiten wurden ausweislich der Entscheidungsgründe bereits vorher erreicht. Dass konkret durch dieses eine Beschleunigen etwas Besonderes, den Tatentschluss Erweiterndes kommuniziert werden sollte und dies auch vom Angeklagten N. so wahrgenommen wurde, ist nicht nachvollziehbar. Das LG Berlin stellt dennoch fest, "dass es dem Angeklagten[N.]ebenfalls darauf ankam, dieses Rennen, koste es, was es wolle, zu gewinnen, wenn möglich sogar vor den Augen der Bekannten des Angeklagten H. (…) Durch das Überholen des Angeklagten H. vor der Kurve an der Gedächtniskirche hatte der Angeklagte N. seinem Kontrahenten eigentlich bereits gezeigt, wer der schnellere Fahrer, mithin der Sieger, ist. Da der Angeklagte H. auch diese Demonstration der Überlegenheit des Angeklagten N. wiederum nicht akzeptiert hatte und das Rennen auch nach der Kurve fortsetzte, musste das Rennen aus Sicht des Angeklagten N. daher vor Zeugen (…) bis zum Ende durchgeführt werden."[70] Warum das LG Berlin annimmt, dass der Angeklagte N. sich vor der Kurve bereits für den Sieger hielt und daraufhin oder gar dennoch das Rennen "fortsetzte", ist nicht nachvollziehbar. Die Ausführungen des Gerichts erwecken hier den Eindruck, als sei es zu irgendeiner Art von Absprache hinsichtlich des Endes des Rennens gekommen. Dem war jedoch nach dem festgestellten Sachverhalt nicht so.[71] Dass sich aus diesem Überholvorgang vor der Kurve daher irgendein besonderer Aspekt ergab, der dann zu einem neuen Entschluss des Angeklagte N. führte, wirkt geradezu realitätsfern. Denn das gegenseitige Überholen ist einem Rennen immanent. Daher kann die Auffassung des LG Berlin, dass dieser Überholvorgang eine Art entscheidender Moment gewesen sei, nicht überzeugen. Aus den Gegebenheiten kann kein besonderer Rückschluss auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters gezogen werden. Gleiches gilt dann aber für das Beschleunigen nach dem Verlassen der Kurve. Dieses Beschleunigen ist naheliegender dadurch zu erklären, dass der Straßenverlauf dies, anders als in der Kurve, zuließ. Im Ergebnis hätte man hinsichtlich des Angeklagten H. bei Unterstellung dieser Interpretationsmöglichkeit zu einer Verurteilung wegen Mordes kommen können (freilich wäre eine solche Unterstellung im Rahmen des Vorsatzes als Verstoß gegen den "in dubio pro reo"-Grundsatz zu werten). Eine Mittäterschaft wäre hier dagegen ausgeschlossen, da nur eine einseitige Erweiterung des Tatentschlusses seitens des Angeklagten H. vorgelegen hätte. Eine Zurechnung der Handlung wäre mangels Zurechnungsnorm dann ausgeschlossen gewesen und für den Angeklagten N. verbliebe eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung.
Der Angeklagte H. erweiterte seinen Tatentschluss nicht, sondern wollte nach dem Verlassen der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche schlicht das Rennen fortführen. Der Angeklagte N. hingegen wollte nach dem Überholen des Angeklagten H. vor der Kurve und dem Beschleunigen am Kurvenausgang das Rennen "koste es, was es wolle" gewinnen. Er erweiterte seinen Tatentschluss und handelte mit bedingtem Tötungsvorsatz. Auch dann läge, wie in der zweiten Möglichkeit, nur eine einseitige Erweiterung des Tatentschlusses vor und eine Erfolgszurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB wäre nicht möglich. Für den Angeklagten H. verbliebe eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung, für den Angeklagten N. eine Strafbarkeit wegen versuchten Mordes.
Der Angeklagte H. erweiterte seinen Tatentschluss. Dies erkannte der Angeklagte N., billigte dies und erweiterte seinen Tatentschluss ebenfalls. Diese Möglichkeit entspricht der Entscheidung des LG Berlin und liegt der Verurteilung wegen mittäterschaftlichen Mordes zugrunde.
Der Angeklagte H. erweiterte seinen Tatentschluss. Dies erkannte der Angeklagte N. aber nicht. Er erweiterte seinen Tatentschluss jedoch unabhängig vom Angeklagten H. Dann läge keine Mittäterschaft vor, sondern es wären zwei unabhängige Alleintäterschaften anzunehmen. Eine Zurechnung der Tathandlung des Angeklagten H. zur Person des Angeklagten N. wäre dann nicht möglich. Für den Angeklagten H. käme dann – vorbehaltlich einer möglichen Vorsatzfeststellung (dazu aber oben III.) – eine Verurteilung wegen Mordes in Betracht und für den Angeklagten N. eine Verurteilung wegen versuchten Mordes.
Damit zeigt sich, dass die Handlungen der beiden Angeklagten im Verlauf und nach der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vier Interpretationsmöglichkeiten zulassen. Weshalb gerade diejenige Möglichkeit, die das LG Berlin seinem Urteil zugrunde gelegt hat, zutreffen soll, erschließt sich nicht. Hier hätte es eindeu-
tig eines Mehr an Begründung bedurft, zumal der BGH deutliche Zweifel am Vorliegen der Mittäterschaft geäußert hat.[72] Dies gilt umso mehr, als die Feststellungen des LG Berlin auch drei weitere Interpretationen zulassen. Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, welche Besonderheiten das Geschehen während und nach der Kurvendurchfahrt im Vergleich zum bisherigen Renngeschehen kennzeichnen sollen, die auf eine Vorstellungserweiterung der Angeklagten schließen lassen.
Darüber hinaus vermag auch die Annahme des LG Berlin, dass der Angeklagte H. nicht weitergefahren wäre, wenn der Angeklagte N. eine Gefahrenbremsung eingeleitet hätte, nicht zu überzeugen.[73] Dieser Annahme legt das LG Berlin die Aussage des Angeklagten H. zugrunde, dass er auch in der Vergangenheit schnell gefahren sei, jedoch nicht so extrem.[74] Darüber hinaus wird die Aussage eines Zeugen herangezogen, der ein paar Tage vor diesem Rennen einige "Stechen" mit dem Angeklagten ausgetragen hatte.[75] Während dieser Stechen habe der Angeklagte immer wieder gewartet, um den anderen zu einem Rennen zu bewegen. Im Vorsatzkontext verwies das LG Berlin darauf, dass sich der Angeklagte H. nicht auf frühere folgenlos gebliebene Rennen vorsatzentlastend berufen könne, da hierfür die "Vorerfahrungen auf vergleichbaren Sachverhalten beruhen[müssen], die in ihren wesentlichen Einzelheiten wertungsmäßig[mit dem hiesigen Sachverhalt]übereinstimmen." Warum der Aspekt früheren Verhaltens bei der Mittäterschaft anders zu bewerten ist und hier auf frühere Sachverhalte zurückgegriffen werden kann, ist unklar. Das LG Berlin nimmt an, dass zu Gunsten des Angeklagten H. nicht auf dessen früheres Verhalten zurückgegriffen werden kann, zu Lasten des Angeklagten N. aber schon. Das ist widersprüchlich.
Selbst wenn man einen Rückschluss aus vergangenem Verhalten zulässt, liegen keine vergleichbaren Situationen vor. Nach den früheren Stechen mit dem Zeugen konnte der Angeklagte H. diesen nicht zu einem Rennen bewegen. Zu diesem Zeitpunkt hat demnach eine völlig andere Dynamik zwischen dem Zeugen und dem Angeklagten H. bestanden. Es war nicht einmal zum Rennstart gekommen. Zwischen den Angeklagten H. und N. war das Rennen hingegen zu der Zeit der unterstellten Erweiterung des Tatentschlusses schon in vollem Gange. Hohe Geschwindigkeiten wurden zu diesem Zeitpunkt schon gefahren und das Siegstreben war bereits stark ausgeprägt. Da eine völlig andere Situation mit anderer Dynamik zwischen den Involvierten bestand, fehlt es an der Vergleichbarkeit des früheren und des abgeurteilten Verhaltens. Daher liegt auch die Annahme nicht fern, dass der Angeklagte H. selbst dann weitergefahren wäre, wenn der Angeklagte N. gebremst hätte. Schließlich hätte eine Gefahrenbremsung als "Aufgeben" oder "ein Feigling sein" interpretiert werden können. Daher hätte es auch sein können, dass der Angeklagte H. weitergefahren wäre, um zu demonstrieren, dass er kein "Feigling" sei, er keine Angst habe, er etwaige Gefahren beherrsche und eben doch der bessere Fahrer sei. Dazu stellt das LG Berlin selbst fest, dass das "Ziel, das Rennen zu gewinnen, zumal in Anwesenheit der von ihm bereits erwarteten Bekannten (…), sich selbst, dem Angeklagten N. und anderen zu beweisen, dass er der bessere Fahrer (…) sei und das von einem Sieg ausgehende Gefühl der Überlegenheit und Selbstwertsteigerung (…) derart wirkungsmächtige Handlungsmotive[waren], dass er den aus seinem Handeln resultierenden und von ihm erkannten tödlichen Gefahren für das Leben anderer Verkehrsteilnehmer gleichgültig gegenüber stand. (…) Der Angeklagte H. (…)[definiert]seinen Selbstwert über sein Kfz und seine Fahrweise (…)."[76] Zwar stammen diese Aussagen aus dem Abschnitt zur Vorsatzerörterung, gleichwohl ist nicht ersichtlich, warum sie nicht auch an dieser Stelle des Urteils zum Tragen kommen sollten. Darüber hinaus hat der Angeklagte H. beim zweiten Stechen mit dem Angeklagten N. nicht regelkonform an der roten Ampel gehalten, sondern ist weitergefahren. Ein Halten des Angeklagten N. hat den Angeklagten H. demnach zuvor auch nicht dazu gebracht, dass er stehenbleibt. Der Angeklagte N. wusste zudem, dass der Angeklagte H. mit "Kumpels am Wittenbergplatz"[77] verabredet war. Daher wäre es möglich gewesen, dass der Angeklagte H. zu diesen weitergefahren und nicht stehengeblieben wäre. Der Angeklagte H. wiederum hätte auch davon ausgehen können, dass der Angeklagte N. nach einer Bremsung wieder beschleunigt hätte.
Es lassen sich daher verschiedene Gründe finden, weshalb der Angeklagte H. trotz einer Gefahrenbremsung des Angeklagten N. weitergefahren wäre. Die Behauptung des LG Berlin, dass der Angeklagte H. ebenfalls stehengeblieben wäre, hätte der Angeklagte N. gebremst, überzeugt daher nicht. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass selbst wenn man Rückschlüsse aus früherem Verhalten zulässt, das konkrete frühere Verhalten nicht mit dem abgeurteilten vergleichbar ist. Der Aspekt, dass nicht klar ist, was passiert wäre, wenn der Angeklagte N. eine Gefahrenbremsung vorgenommen hätte, spricht jedenfalls gegen einen gemeinsamen Tatentschluss oder Tatplan. Ohne diesen ist aber wiederum keine Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB gegeben. Dass das frühere Verhalten aus Sicht des LG Berlin überhaupt von Relevanz ist, zeigt, dass es sich mit diesem auseinandergesetzt hat. Dann aber hätte das LG Berlin auch ausführen müssen, welchem mittäterschaftsbegründenden Merkmal dieses frühere Verhalten zuzuordnen ist. Hierzu schweigt das Urteil aber leider. Dass es im Zusammenhang mit der Mittäterschaft zu sehen ist, ergibt sich letztlich nur durch den Standort der Ausführungen im Urteil.
Einerseits obliegt es zwar nach § 261 StPO allein dem Tatgericht, die Ergebnisse der Hauptverhandlung festzustellen und abschließend zu würdigen.[78] Andererseits darf es aber auch keine Urteile geben, deren Beweiswürdigung eklatant willkürlich, widersprüchlich oder nicht nachvollziehbar ist, die aber mangels Zugriffsmöglichkeit auf das Urteil nicht aufgehoben werden können. Daher muss sich die Revisionsprüfung auf die Frage erstrecken, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts rechtsfehlerhaft ist, "weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich so weit von der Tatsachengrundlage entfernt, dass sich hierzu gezogene Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen."[79] Können solche Fehler nicht festgestellt werden, ist die Begründung des Tatgerichts hinzunehmen, auch wenn es möglich gewesen wäre, die Beweise abweichend zu würdigen[80] oder eine andere Bewertung gar "näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre."[81] Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts müssen möglich, aber nicht zwingend sein.[82] Im Rahmen dieser Schlussfolgerung müssen die Beweise erschöpfend gewürdigt werden.[83] Darüber hinaus hat das Revisionsgericht darauf zu achten, dass das Urteil erkennen lässt, "dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden."[84] Diese Grundsätze gelten unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs.[85]
Das Urteil des LG Berlin ist in seinen Erörterungen zu Vorsatz und Mittäterschaft zum Teil widersprüchlich. Zu einem noch größeren Teil zeigt sich aber ein eklatanter Mangel hinsichtlich einer notwendigen Auseinandersetzung mit möglichen plausiblen Schlussfolgerungen aus den Sachverhaltsfeststellungen.
Das Tatgericht zieht bei seinen Vorsatzerwägungen aus den tatsächlichen Gegebenheiten ersichtlich nur diejenigen Schlussfolgerungen, die gegen die Angeklagten sprechen könnten. Besonders deutlich wird dies bei den Ausführungen des LG Berlin zur Person des Angeklagten H., bei dem insbesondere die Darlegungen zur Eigengefährdung (näher oben III. 4.) und die Bewertung der nur nächtlichen Risikoeingehung sowie der Tatsache, dass H. stets unangeschnallt gefahren ist (dazu oben III. 5.), nicht überzeugen können.
Gleiches gilt aber auch für die den Angeklagten N. betreffenden Vorsatzerwägungen. Auch dort sind insbesondere die Schlussfolgerungen aus der Maximalbeschleunigung nach dem Kurvenausgang sowie aus dem kurzzeitigen Lösen des Gaspedals nicht durchschlagend (oben III 6. und 7.).
Das LG Berlin hat sich zudem in nicht tragfähiger Weise mit dem mittäterschaftlichen Verhalten der beiden Angeklagten während und nach dem Verlassen der Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auseinandergesetzt.
Es fehlt bereits eine dogmatisch saubere Darstellung einer mittäterschaftlichen Begehungsweise (oben IV. 2. a.). Aus dem Verhalten beider Angeklagten wird nur ein einziger Schluss gezogen, ohne dass eine Auseinandersetzung mit anderen die Mittäterschaft betreffenden Interpretationsmöglichkeiten stattfindet. Jeder dargelegte Umstand wird jeweils nur zu Lasten der Angeklagten ausgelegt, obwohl auch Interpretationen zu Gunsten naheliegen und daher hätten erörtert werden müssen (näher oben IV. 2. b.). Bei der Mittäterschaft nimmt das LG Berlin sodann einen Rückgriff auf früheres Verhalten zu Gunsten des Angeklagten H. nicht vor, zu Lasten des Angeklagten N. dagegen schon (oben IV. 2. c.). Ferner fehlt es im Rückgriff zu Lasten des Anklagten N. eindeutig an der Vergleichbarkeit des Verhaltens, obwohl das LG Berlin selbst dargelegt hat, dass dies für einen Rückgriff zwingende Voraussetzung ist (auch dazu oben IV. 2. c).
Dem Eindruck einer ergebnisorientierten Beurteilung kann sich der Leser des Urteils daher an zahlreichen Stellen der Entscheidung nur schwer entziehen. Insofern muss man der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass der BGH sich von den überwiegend positiven und populistischen Bewertungen der Entscheidung in den Massenmedien nicht beeinflussen lässt und das Urteil auch unter den für die Angeklagten sprechenden Gesichtspunkten erneut würdigt. Da der Freiheit der Beweiswürdigung des Tatgerichts die soeben geschilderten Grenzen gesetzt sind, wäre dem BGH dies jedenfalls möglich.
Gerade die Verurteilung wegen Mordes als Reaktion auf höchstes Unrecht verlangt höchste Sicherheit, sodass mit einer Zunahme an möglichen alternativen Schlussfolgerungen bei der Verhängung eines so gravierenden Unwerturteils besondere Vorsicht geboten ist. Dies ist Ausdruck des Grundsatzes "in dubio pro reo", der im Strafrecht selbstverständlich stets zu beachten ist, aber eine umso größere Bedeutung erlangt, wenn es um die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe geht.
[*] Prof. Dr. Christian Jäger ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medizinstrafrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Er-langen-Nürnberg; Frau Tina Bönig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie von Prof. Dr. Hans Kudlich.
[1] Vgl. Pressemitteilung vom 3. März 2020, Nr. 024/2020.
[2] LG Berlin NStZ 2017, 471 ff.
[3] BGHSt 63, 88 = HRRS 2018 Nr. 289.
[4] LG Berlin, Urteil v. 26. März 2019 – (532 Ks) 251 Js 52/16 (9/18). Die Verfasser bedanken sich bei den Verantwortlichen des LG Berlin für die Überlassung der Urteilsgründe.
[5] Ausdrücklich oder tendenziell ablehnend Gründel ZJS 2019, 211 ff.; Jäger JA 2017, 786 ff. (Anmerkung zur ersten Entscheidung des LG Berlin); ders. JA 2018, 468 ff. (Anm. zur Entscheidung des BGH); Sasse NJ 2017, 384 ff.; T. Walter NJW 2017, 1350 ff.; mit Blick auf die Selbstüberschätzungstendenzen zumindest krit. auch Preuß NZV 2017, 303, 306; wohl auch Jahn JuS 2017, 700, 702.
[6] Grundsätzlich zustimmend Bosch Jura 2018, 1225 ff.; Herzberg JZ 2018, 122 ff.; Kubiciel/Hoven NStZ 2017, 439 ff.; Puppe ZIS 2017, 441 ff.; insbesondere bezüglich des letzten Urteils des LG Berlin ausdrücklich zustimmend Hoven bei Sehl/Lorenz LTO ( https://www.lto.de/persistent/a_id/37017/ ; zuletzt abgerufen am: 5. März 2020).
[7] LG Deggendorf BeckRS 2019, 35102.
[8] LG Stuttgart, Urteil v. 15. November 2019 – 4 Kls 60 Js 24715/19.
[9] LG Kleve, Urteil v. 17. Februar 2020.
[10] Vgl. hier und im Folgenden S. 13 f. des Urteils.
[11] Vgl. hier und im Folgenden S. 15 des Urteils.
[12] Siehe im Urteil S. 16.
[13] Vgl. dazu im Urteil S. 64.
[14] Vgl. hier und im Folgenden S. 16 des Urteils.
[15] Vgl. das Urteil hier und im Folgenden S. 17 f.
[16] Vgl. dazu im Urteil S. 19.
[17] Siehe hier und im Folgenden die Sachverhaltsfeststellungen des Urteils auf S. 22.
[18] Vgl. S. 23 des Urteils.
[19] Dazu im Urteil S. 50.
[20] BGHSt 63, 88, 93 = HRRS 2018 Nr. 289.
[21] Vgl. dazu aus der Rspr. auch BGH NStZ 1981, 22, 23; 2007, 700, 701 = HRRS 2007 Nr. 682; NStZ 2008, 93 = HRRS 2007 Nr. 1063; siehe aus der Lit. Fischer, StGB, 67. Aufl. (2020), § 15 Rn. 12; Vogel/Bülte, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. (2020), § 15 Rn. 128.
[22] Vgl. BGHSt 63, 88, 93 = HRRS 2018 Nr. 289; BGH NStZ 2007, 700 ff. = HRRS 2007 Nr. 682; BGH NStZ 2008, 93 = HRRS 2007 Nr. 1063.
[23] Vgl. dazu Trück NStZ 2005, 233 ff. m.w.N.
[24] Vgl. hierzu und im Folgenden S. 60 des Urteils.
[25] Vgl. hierzu und im Folgenden S. 60 des Urteils.
[26] Auch hierzu und im Folgenden S. 60 f. des Urteils.
[27] BGHSt 7, 363, 369; 36, 1, 9 f.; 63, 88, 93 = HRRS 2018 Nr. 289; BGH StV 2004, 75.
[28] Siehe hierzu IV. in diesem Beitrag.
[29] Vgl. im Urteil S. 60 f.
[30] Vgl. hierzu S. 61 des Urteils.
[31] Vgl. dazu Geppert Jura 2001, 55, 58; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 44 f.; Schroth NStZ 1990, 324, 325 f.; Trück, NStZ 2005, 233, 240; zusammenfassend Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 15 Rn 78 f. m.w.N.
[32] Siehe hierzu im Urteil S. 20, 59, 66, 68, 73 ("koste es, was es wolle").
[33] BGHSt 63, 88 = HRRS 2018 Nr. 289.
[34] Vgl. dazu auch Gründel ZJS 2019, 211, 213; zur Eigengefährdungsproblematik aber auch Eisele JZ 2018, 549, 552 ff.; Grünewald JZ 2017, 1069, 1071 und Schneider NStZ 2018, 528, 530.
[35] Vgl. S. 63 des Urteils; dazu schon Jäger JA 2017, 786, 788.
[36] Siehe hierzu S. 25, 57 des Urteils.
[37] Gegen eine solche Berücksichtigung offenbar allerdings auch Bosch Jura 2018, 1225, 1232 mit der Begründung, dass eine entsprechende Äußerung des Täters nach der Konfrontation mit einer bedingt vorsätzlichen Tat naheliegend sei. Er übersieht dabei jedoch, dass dieses vorsatzausschließende Beweisanzeichen im hier gegebenen Kontext eines unter vielen ist. Auch ist zu berücksichtigen, dass ausweislich der Urteilsgründe (S. 57) dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Äußerung noch gar nicht mitgeteilt worden war, dass eine Person infolge der Kollision zu Tode gekommen war.
[38] Dazu auch Bosch Jura 2018, 1225, 1235.
[39] Vgl. hierzu S. 63 des Urteils.
[40] Siehe hierzu S. 63 des Urteils.
[41] BGHSt 63, 88 ff. = HRRS 2018 Nr. 289.
[42] Vgl. hierzu im Urteil S. 62 f.
[43] Siehe hierzu S. 52, 66 des Urteils.
[44] Dazu schon Jäger JA 2017, 786, 787.
[45] Vgl. hierzu S. 65 des Urteils.
[46] Vgl. BGH NStZ-RR 2008, 309, 310 = HRRS 2008 Nr. 759.
[47] S. 66 des Urteils.
[48] S. 67 des Urteils.
[49] Vgl. BGHSt 63, 88, 91 f. = HRRS 2018 Nr. 289.
[50] Vgl. zum Koinzidenzprinzip etwa Jerouschek/Kölbel JuS 2001, 417 ff.
[51] Siehe im Urteil S. 52, 67.
[52] Vgl. S. 73 des Urteils.
[53] Vgl. S. 73 des Urteils.
[54] Das Urteil spricht hier fälschlicherweise von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskurve.
[55] Vgl. im Urteil S. 73.
[56] Siehe hier und im Folgenden S. 64 des Urteils.
[57] Vgl. im Urteil S. 74.
[58] Vgl. hierzu BGHSt 63, 88, 96 ff. = HRRS 2018 Nr. 289.
[59] Hierzu siehe im Urteil S. 73.
[60] Welcher Begriff benutzt wird, hängt davon ab, ob man für eine Zurechnung als Basis einen gemeinsamen Tatplan oder einen gemeinsamen Tatentschluss fordert, vgl. etwa Schild, in: Kinderhäuser/Neumann/Paeffgen, 5. Aufl. (2017), § 25 Rn. 128.
[61] Vgl. Fischer (Fn. 21), § 25 Rn. 33.
[62] Vgl. Joecks, in: Münchener Kommentar, StGB, 3. Aufl. (2017), § 25 Rn. 236. Teilweise werden die Begriff Tatplan und Tatentschluss auch synonym verwendet, vgl. Kinderhäuser/Neumann/Paeffgen/Schild (Fn. 60), § 25 Rn. 128.
[63] Vgl. Kudlich, in: Beck’scher Online-Kommentar StGB, 45. Edition (Stand: 01. Februar 2020), § 25 Rn. 46.
[64] Vgl. zur Abgrenzung etwa BeckOK-StGB/Kudlich (Fn. 63), § 25 Rn. 11 ff.
[65] Das Urteil spricht hier fälschlicherweise von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskurve.
[66] Vgl. S. 73 des Urteils.
[67] Vgl. zur Problematik des Vorsatzes umfassend III. in diesem Beitrag.
[68] Vgl. hierzu im Urteil S. 66.
[69] Vgl. S. 66 des Urteils.
[70] Siehe hierzu S. 68 des Urteils.
[71] Lediglich am Anfang des Geschehens teilte der Angeklagte H. dem Angeklagten N. mit, dass er[H.]mit Kumpels am Wittenbergplatz verabredetet sei. Dass es zu einem Rennen kommen würde, stand zur Zeit dieser Mitteilung noch gar nicht fest, weshalb dies nicht als von Anfang an vereinbartes Ziel gesehen werden kann.
[72] Vgl. hierzu BGHSt 63, 88, 96 ff. = HRRS 2018 Nr. 289.
[73] Dass das LG Berlin diesen Aspekt bei dem gemeinsamen Tatplan/Tatentschluss verortet, kann nur gemutmaßt werden, da das LG Berlin nicht ausführt, warum und wofür es diesen Aspekt als relevant erachtet. Es findet keine dogmatische Erörterung der Mittäterschaft statt, bei der die Feststellungen des Falls richtig verortet werden.
[74] Vgl. S. 28 des Urteils.
[75] Vgl. hier und im Folgenden S. 64 des Urteils.
[76] Vgl. im Urteil S. 62.
[77] Vgl. S. 14 des Urteils.
[78] Vgl. BGHSt 29, 18, 20; BGH NJW 2005, 2322, 2326 = HRRS 2005 Nr. 512; BGH BeckRS 2019, 5431, Rn. 7 = HRRS 2019 Nr. 455; BGH NStZ-RR 2008, 146, 147 = HRRS 2008 Nr. 90.
[79] BGH NJW 2005, 2322, 2326 = HRRS 2005 Nr. 512; BGHSt 29, 18, 20; BGH NStZ-RR 2008, 146, 147 = HRRS 2008 Nr. 90; BGH NStZ-RR 2012, 148, 149 = HRRS 2012 Nr. 133; BGH NJW 2013, 2612, 2613 = HRRS 2013 Nr. 431; BGH BeckRS 2019, 5431, Rn. 7 = HRRS 2019 Nr. 455.
[80] Vgl. BGH NJW 2005, 2322, 2326 = HRRS 2005 Nr. 512; BGH NStZ-RR 2008, 146, 147 = HRRS 2008 Nr. 90.
[81] Vgl. BGH BeckRS 2014, 1651, Rn. 9 = HRRS 2014 Nr. 112; BGH NStZ-RR 2015, 178, 179 = HRRS 2015 Nr. 601; BGH, BeckRS 2017, 121425, Rn. 6 = HRRS 2017 Nr. 913.
[82] Vgl. BGHSt 29, 18, 20; BGH NStZ-RR 2015, 148, 148 = HRRS 2015 Nr. 416.
[83] Vgl. BGHSt 29, 18, 20; BGH NStZ 2013, 180 = HRRS 2013 Nr. 216; BGH NStZ-RR 2015, 148 = HRRS 2015 Nr. 416.
[84] BGH NStZ 2013, 180 = HRRS 2013 Nr. 216; BGH NStZ 2012, 110, 111 = HRRS 2011 Nr. 1033; BGH NStZ-RR 2015, 148 = HRRS 2015 Nr. 416; BGH BeckRS 2017, 104320, Rn. 10 = HRRS 2017 Nr. 334.
[85] Vgl. BGH NJW 2005, 2322, 2326 = HRRS 2005 Nr. 512; BGH NStZ-RR 2008, 146, 147 = HRRS 2008 Nr. 90.