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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2018
19. Jahrgang
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Von Richter am Landgericht Sebastian Beining, Düsseldorf
In einem im Mai 2018 – auf die Revision des Angeklagten hin – ergangenen Urteil[1] hat sich der 5. Strafsenat mit der Frage auseinandergesetzt, ob mit der Revision nur dann erfolgreich gerügt werden könne, dass ein Urteil auf bei einer rechtswidrigen Durchsuchung aufgefundenen Beweismitteln beruhe, wenn deren Verwertung zuvor in der tatrichterlichen Hauptverhandlung widersprochen worden war.
"Es ist (…) kein Grundsatz der Strafprozessordnung, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsste" formulierte der Bundesgerichtshof bereits im 14. Band der amtlichen Sammlung.[2] Vielmehr wird die Rechtspflicht zur Sachverhaltsaufklärung beschränkt durch Normen, die mit dem Oberbegriff "Beweisverbote" bezeichnet werden.[3] Diese wirken auf unterschiedliche Art, indem sie verbieten
Nur bei der kleinen Gruppe der sogenannten "absoluten Beweisverwertungsverbote" folgt bereits aus der rechtswidrigen Beweiserlangung, dass das Beweismittel im Strafverfahren nicht verwertet werden darf.[4] Bei den übrigen Beweisverwertungsverboten – den "relativen" – müssen hingegen weitere Umstände hinzutreten; beispielsweise muss das Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner Rechte gegen das Interesse an einer funktionstüchtigen Rechtspflege abgewogen werden.[5]
Selbst wenn derartige zusätzliche Umstände vorliegen, soll eine Revision nach Meinung der bisherigen Rechtsprechung allerdings nur dann auf den Verstoß gegen ein relatives Beweisverwertungsverbot gestützt werden können, wenn der Beweisverwertung in der tatrichterlichen Hauptverhandlung zum erstmöglichen Zeitpunkt widersprochen wurde (sogenannte "Widerspruchslösung"), so wenn:
Weite Teile der Literatur stehen dieser "Widerspruchslösung" kritisch gegenüber. Sie stelle eine Einschränkung wesentlicher Verfahrensrechte des Beschuldigten im Wege einer völlig freischwebenden richterlichen Rechtsfortbildung dar und ihr fehle jegliche dogmatische Begründung.[12]
Soweit die Rechtsprechung postuliere, durch den unterlassenen Widerspruch komme zum Ausdruck, dass der Betroffene einem Verfahrensverstoß keine Bedeutung beimesse, werde ein fehlender Rügewille lediglich fingiert und diese Fiktion überdies durch eine später tatsächlich eingelegte Revision widerlegt. Auch könne weder dem Angeklagten unterstellt werden, die Rügemöglichkeit gekannt und bewusst nicht genutzt zu haben, noch ein Unterlassen des Verteidigers ohne Weiteres dem Angeklagten zugerechnet werden.[13] Ob das Strafverfahren justizförmig ablaufe, dürfe weder von den Fähigkeiten noch der Tagesform des Verteidigers abhängen.[14]
Überhaupt könne eine Pflicht, der Verwertung eines Beweises zu widersprechen, weder aus der Stellung noch der Aufgabe des Verteidigers hergeleitet werden. Vielmehr habe das Gericht Verwertungsverbote als Schranken der Beweiserhebung und ‑würdigung von Amts wegen zu berücksichtigen, da es die prozessordnungsgemäße Verfahrensgestaltung verantworte.[15]
Wie die bisherige Rechtsprechung die "Widerspruchslösung" in § 257 StPO zu verankern sei auch deshalb unzulässig, da diese Norm den Verfahrensbeteiligten ein Erklärungsrecht zusichere und mithin eine Schutznorm darstelle, die nicht in eine Präklusionsregel zum Nachteil des Angeklagten umgedeutet werden dürfe.[16]
Falls eine Verwertung des fehlerhaft erlangten Beweises im Interesse des Angeklagten sei, könne dem Rechnung getragen werden, indem ihm freigestellt werde, einer Verwertung ausdrücklich zuzustimmen.[17]
Dass die mit der Widerspruchslösung offenbar bezweckte Verfahrensbeschleunigung erreicht werde oder sie den Gerichten die Arbeit erleichtere, müsse ebenso bezweifelt werden. Um sich etwaige Verfahrensrügen zu erhalten, dürften sich Verteidiger vielmehr genötigt sehen, jeder (ansatzweise) zweifelhaften Beweiserhebung zu Protokoll zu widersprechen.[18]
Im Jahre 2016 hatte sich der 2. Strafsenat kritisch mit der Widerspruchslösung auseinandergesetzt und deren Reichweite in Frage gestellt.
Angegriffen war ein Urteil des Landgerichts Köln, welches sich auf Dokumente gestützt hatte, die bei einer – fehlerhaft – angeordneten Durchsuchung aufgefunden worden waren. Die Unverwertbarkeit dieser Dokumente rügte der Angeklagte, wobei sich der Revisionsbegründung nicht zweifelsfrei entnehmen ließ, ob er der Beweisverwertung spätestens unmittelbar nach der Beweiserhebung widersprochen hatte,[20] also bis zu der aus § 257 Abs. 2 StPO abgeleiteten Ausschlussfrist.
Gleichwohl hob der 2. Strafsenat das Urteil des Landgerichts Köln auf und führte aus, dass nach Ansicht der "Widerspruchslösung" ein Verwertungsverbot zwar nur entstehe, wenn der Beweisverwertung rechtzeitig i. S. d. § 257 Abs. 2 StPO widersprochen werde. Die für Verletzung von Belehrungsobliegenheiten bei Vernehmungen (§ 136 Abs. 1 S. 2, § 163a Abs. 4 S. 2 StPO) entwickelte "Widerspruchslösung" könne aber bei Beweisverwertungsverboten, die aus Fehlern bei einer Durchsuchung oder Beschlagnahme resultieren, so nicht gelten. Dass man vor einer Vernehmung nicht ordnungsgemäß belehrt worden sei und dann ausgesagt habe, sei nicht vergleichbar mit einer fehlerhaft angeordneten Durchsuchung, bei der Sachbeweise gefunden worden seien. Die eigenen Angaben könne der Angeklagte nämlich immer aus seiner Erinnerung erläutern und erklären oder sie ersetzen oder dementieren. Deshalb müsse er auch entscheiden dürfen, ob sie als Beweismittel verwertet oder (nach einem Widerspruch) nicht verwertet werden dürfen. Sachbeweise, die dem hoheitlichen Zugriff ausgesetzt und verwertbar seien, dürfe die Verteidigung dem Strafverfahren demgegenüber nicht mehr entziehen. Angesichts dieses Unterschiedes müsse das Gericht die Frage der Verwertbarkeit von Amts wegen auch ohne vorherigen Widerspruch des Angeklagten aufklären.[21]
Selbst wenn die Verteidigung über die Verwertbarkeit von Sachbeweisen disponieren dürfe, müsse dies nicht spätestens unmittelbar nach der Beweiserhebung geschehen. Ausreichend sei das Tatgericht innerhalb der
Beweisaufnahme auf die mögliche Unverwertbarkeit von Erkenntnissen hinzuweisen. Das in § 257 Abs. 1 StPO verbriefte Erklärungsrecht des Angeklagten diene der Sicherung seines rechtlichen Gehörs und sollte Prozesserklärungen zu Beweisverwertungsverboten nicht einer Frist unterwerfen, sodass deren Nichteinhaltung die Geltendmachung des Beweisverwertungsverbots im gesamten weiteren Instanzenzug ausschließe.[22]
Zwar erhielt die Entscheidung des 2. Strafsenats hinsichtlich ihres Ergebnisses überwiegend Applaus.[23] Die Differenzierung zwischen fehlerhaft erhobenen Sachbeweisen und sonstigen fehlerhaften Beweiserhebungen stieß indes auf Ablehnung. Dogmatisch müsse das Konstrukt der "Widerspruchslösung" gänzlich in Frage gestellt werden.[24]
In der nunmehr ergangenen, neuen Entscheidung hat der 5. Strafsenat den Erwägungen des 2. Strafsenats eine Absage erteilt und der – teilweise totgesagten – "Widerspruchslösung" neues Leben eingehaucht.
Nach Ansicht des 5. Strafsenats müsse der Angeklagte auch der Verwertung von Beweismitteln, die bei einer fehlerhaften Durchsuchung aufgefunden wurden, in der tatrichterlichen Verhandlung widersprechen, um seine Revision auf den Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot stützen zu können.[26]
Dieses Widerspruchserfordernis fuße – entgegen der Ansicht des 2. Strafsenats – nicht auf einer Dispositionsbefugnis des Angeklagten, sondern folge aus dem Gedanken subsidiären Rechtsschutzes. Im Interesse der Schonung von Justizressourcen werde dem von einem Beweisverwertungsverbot Betroffenen abverlangt, eine Rechtsverletzung bereits in der tatrichterlichen Hauptverhandlung geltend zu machen, damit diese Frage bereits dort geprüft und gegebenenfalls Abhilfe geschaffen werden könne.[27]
Der nicht zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheidung ist zuzustimmen.
Indem sie im Anschluss an Mosbacher [28] das Widerspruchserfordernis aus dem Gedanken subsidiären Rechtsschutzes herleitet, stellt sie die "Widerspruchslösung" auf eine dogmatisch überzeugende Grundlage. Diese ist dann nämlich, auch wenn der 5. Strafsenat die Norm nicht nennt, als ein Unterfall des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO zu begreifen.[29]
Indem der Betroffene in der Hauptverhandlung Widerspruch erhebt, zwingt er das gesamte Gericht zur Prüfung, ob die Beweisverwertung ihn in seinen Rechten verletzt. Seine Interessen kann er damit ebenso wirksam, doch wesentlich schneller, wahren, als wenn er den Verfahrensfehler erst mit der Revision geltend macht. Nutzt er diesen Zwischenrechtsbehelf jedoch nicht, so kann er den Verfahrensfehler in der Revisionsinstanz nicht mehr rügen, da ihm hierfür das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.[30] Ist der Betroffene nämlich unter Verhältnissen untätig geblieben, unter denen er vernünftigerweise etwas zur Wahrung seiner Rechte unternommen hätte, dann verletzt die spätere Geltendmachung seiner Rechte Treu und Glauben und das öffentliche Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens verlangt, die Anrufung des Gerichts als unzulässig anzusehen.[31]
Das nicht genehme Urteil aus der Welt schaffen zu wollen, indem man durch die Rüge eines Verfahrensfehlers, den man gleichsam als "Ass" in der Hinterhand gehalten hat, eine Urteilsaufhebung erreicht, ist demgegenüber nicht legitim. Zumal der Betroffene – entgegen seiner Behauptung – durch das fehlerhafte Verfahren dann gar nicht beschwert ist; was ihn beschwert ist das Ergebnis der Hauptverhandlung.[32]
Die Gerichte dürften (weiterhin) Beweisverwertungsverbote – wie auch sonstige Verfahrensfehler – von Amts wegen zu beachten und (falls möglich) zu beseitigen haben.[33] Wenn die "Widerspruchslösung" nunmehr als ein Unterfall des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO verstanden und nicht mehr aus § 257 Abs. 1 StPO abgeleitet werden soll, dürfte für eine Ausschlussfrist kein Raum mehr sein, sodass der Widerspruch nunmehr bis zur Urteilsverkündung, in einer nächsten Tatsacheninstanz sowie (nach Zurückverweisung der Sache) auch noch in der neuerlichen Hauptverhandlung erfolgen könnte. Hinzu kommt, dass das Gericht über die Beanstandung in der Hauptverhandlung zu befinden und den Widerspruchsführer zu bescheiden haben dürfte.[34] Anzumerken ist: Ausgesprochen hat der 5. Strafsenat all diese Schlussfolgerungen freilich nicht; aus anwaltlicher
Vorsicht sollte der Widerspruch gegen Beweisverwertungen gehandhabt werden wie zuvor.
Dem Angeklagten dürfte es grundsätzlich auch weiterhin verwehrt sein, seine Revision auf die Verletzung eines ungeschriebenen Beweisverwertungsverbots zu stützten, wenn er der Beweisverwertung in der Hauptverhandlung nicht widersprochen hat. Allerdings dürfte mit der Verfahrensrüge nunmehr erfolgreich gerügt werden können, dass ein Verwertungswiderspruch durch das Tatgericht unzulänglich, verspätet oder gar nicht beschieden wurde und das Urteil hierauf beruht, weil sich der Angeklagte bei ordnungsgemäßer Bescheidung anders und erfolgreicher als geschehen hätte verteidigen können.[35]
[1] vgl. § 349 Abs. 2, 5 StPO.
[2] BGHSt 14, 358, 365.
[3] Fischer in: Hannich (Hrsg.) KK-StPO, 7. Aufl. 2013, Einl. Rn. 384; Gössel in: Erb/Esser (Hrsg.) L/R-StPO, 27. Aufl. 2016, Einl. Abschn. L, Rn. 9 f; Kudlich in: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.), MüKo-StPO, Band 1, 2014, Einl. Rn. 437.
[4] Gössel a. a. O. (Fn. 3), Einl. Abschn. L, Rn. 40.
[5] Fischer a. a. O. (Fn. 3), Einl. Rn. 395; Gössel a. a. O. (Fn. 3), Einl. Abschn. L, Rn. 42 ff.; Kudlich a. a. O. (Fn. 3), Einl. Rn. 463 f.
[6] BGHSt 38, 214, 225 f.
[7] BGHSt 39, 349, 352.
[8] BGH HRRS 2016 Nr. 1041 Rn 1.
[9] BGHSt 42,15, 22.
[10] BGHSt 52, 38, 41 = HRRS 2007 Nr. 900 Rn. 18.
[11] BGH nach Becker NStZ-RR 2001, 257, 260 Nr. 11.
[12] Fezer StV 1997, 57, 58; ders, HRRS 2010, 281, 282 f.; Kasiske NJW-Spezial 2011, 376; Kudlich a. a. O. (Fn. 3), Einl. Rn. 479; Ventzke StV 1997, 543, 547.
[13] Cierniak/Niehaus in: Knauer/Kudlich/Schneider (Hrsg.), MüKo-StPO, Band 2, 2016, § 257 Rn. 22; Heghmanns ZJS 2017, 499, 504; Kudlich HRRS 2011, 114, 115.
[14] Heghmanns ZJS 2017, 499, 504; Heinrich ZStW 112 (2000) 398, 410 f.; Ventzke StV 1997, 543, 548.
[15] Dornach NStZ 1995, 57, 61; Fezer StV 1997, 57, 58; Heghmanns ZJS 2017, 499, 504; Heinrich ZStW 112 (2000) 398, 410; Kudlich HRRS 2011, 114, 116; ders. a. a. O. (Fn. 3), Einl. Rn. 480.
[16] Heinrich ZStW 112 (2000) 398, 412.
[17] Heinrich ZStW 112 (2000) 398, 410; Kasiske NJW-Spezial 2011, 376, 377.
[18] Cierniak/Niehaus a. a. O. (Fn. 13), § 257 Rn. 23; Heinrich ZStW 112 (2000) 398, 414 f.
[19] BGH HRRS 2017 Nr. 374 = BGHSt 61, 266 = NJW 2017, 1332 = NStZ 2017, 367.
[20] BGH HRRS 2017 Nr. 374 Rn. 13, 16.
[21] BGH HRRS 2017 Nr. 374 Rn. 14 f.
[22] BGH HRRS 2017 Nr. 374 Rn. 16.
[23] Heghmanns ZJS 2017, 499, 505; Kudlich JA 2017, 390, 392; offenlassend: Zopfs NJW 2017, 1335, 1336; ablehnend Basdorf NStZ 2017, 370.
[24] Heghmanns ZJS 2017, 499, 504; Kratz jurisPR-StrafR 10/2017 Anm. 3; Kudlich JA 2017, 390, 393.
[25] BGH HRRS 2018 Nr. 637 = NJW 2018, 2279 m. Anm. Meyer-Mewes.
[26] BGH HRRS 2018 Nr. 637 Rn. 7 f.
[27] BGH HRRS 2018 Nr. 637 Rn. 9.
[28] Mosbacher in: FS Rissing-van Saan, S. 357.
[29] Berg StraFo 2018, 327, 333 f; Mosbacher a. a. O. (Fn. 28), S. 357, S. 358 ff.; ders. NStZ 2011, 606, 610; offenlassend: Gössel a. a. O. (Fn. 3), Einl. Abschn. L, Rn. 60.
[30] Mosbacher a. a. O. (Fn. 28), S. 357, S. 365 ff.; Schneider in: Hannich (Hrsg.) KK-StPO, 7. Aufl. 2013, § 238 Rn. 34.
[31] BVerfG NJW 2003, 1514, 1515.
[32] Mosbacher a. a. O. (Fn. 28), S. 357, S. 367 f.; ders. NStZ 2011, 606, 608 ff.
[33] Mosbacher a. a. O. (Fn. 28), S. 357, 373; Schneider a. a. O. (Fn. 30), § 238 Rn. 39.
[34] Berg StraFo 2018, 327, 334 f; Mosbacher a. a. O. (Fn. 28), S. 376 ff.; ders. NStZ 2011, 606, 610 f.; Schneider a. a. O. (Fn. 30), § 238 Rn. 17.
[35] Schneider a. a. O. (Fn. 30), § 238 Rn. 27 ff.