HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2017
18. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

612. BGH 3 StR 260/16 - Beschluss vom 23. März 2017 (LG Mönchengladbach)

BGHSt; Vorstufen der Beteiligung (Verabredung eines Verbrechens bei innerem Vorbehalt; Strafgrund; Vorstufe der Mittäterschaft; Sichbereiterklären zu einem Verbrechen; ernst gemeintes Erbieten; Herstellen einer Bindung gegenüber dem Adressaten; innerer Vorbehalt des Erklärungsempfängers; Annahme des Erbietens zu einem Verbrechen lediglich zum Schein; Verhältnis von Sichbereiterklären und versuchter Anstiftung).

§ 30 StGB

1. Die Verabredung eines Verbrechens (§ 30 Abs. 2 Variante 3 StGB) setzt die Willenseinigung von mindestens zwei tatsächlich zur Tatbegehung Entschlossenen voraus, an der Verwirklichung eines hinreichend konkretisierten Verbrechens mittäterschaftlich mitzuwirken. Auch der selbst fest Entschlossene ist daher nicht der Verbrechensverabredung schuldig, wenn der oder die anderen den inneren Vorbehalt haben, sich tatsächlich nicht als Mittäter an der vereinbarten Tat beteiligen zu wollen. (BGHSt)

2. Das Sichbereiterklären zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Variante 1 StGB) ist hingegen unabhängig von der subjektiven Einstellung des Erklärungsempfängers, so dass dessen innerer Vorbehalt, die Tat nicht zu wollen, eine Strafbarkeit nach dieser Tatbestandsvariante nicht hindert. (BGHSt)

3. Neben dem Sichbereiterklären zu einem Verbrechen in der Form des Erbietens ist für eine Verurteilung wegen versuchter Anstiftung zur mittäterschaftlichen Begehung der nämlichen Tat (§ 30 Abs. 1 Alternative 1 StGB) kein Raum. (BGHSt)

4. Der Annahme des Erbietens zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Variante 2 StGB) steht nicht entgegen, dass das

Erbieten des anderen nur zum Schein angenommen wird. (BGHSt)

5. Der Senat kann offenlassen, ob die versuchte Anstiftung im Verhältnis zum Sichbereiterklären zu einem Verbrechen schon auf Tatbestandsebene ausscheidet oder lediglich auf Konkurrenzebene zurücktritt. (Bearbeiter)

6. Strafgrund der Verbrechensverabredung ist die durch eine Willensbindung mehrerer Personen gesteigerte Gefahr für das bedrohte Rechtsgut. Die Gefährlichkeit konspirativen Zusammenwirkens Mehrerer liegt darin, dass es Gruppendynamik entfalten, die Beteiligten psychisch binden und so die spätere Ausführung der Tat wahrscheinlicher machen kann. (Bearbeiter)


Entscheidung

615. BGH 3 StR 501/16 - Beschluss vom 7. März 2017 (LG Stade)

Anforderungen an die Auseinandersetzung mit einer möglichen Korrektur des Rücktrittshorizonts beim versuchten Tötungsdelikt (unbeendeter oder beendeter Versuch; Erörterungsbedarf bei wahrgenommenen körperlichen Reaktionen des Opfers nach der letzten Ausführungshandlung; Zweifel an der tödlichen Verletzung); natürliche Handlungseinheit trotz Wechsel des Angriffsmittels (unmittelbarer räumlich-zeitlicher Zusammenhang; keine Zäsur; gemeinsames subjektives Element).

§ 24 StGB; § 52 StGB; § 212 StGB

1. Ein unbeendeter Versuch kommt auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seiner letzten Tathandlung den Eintritt des Taterfolgs zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne diesen doch nicht herbeiführen, und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Verwirklichung des Taterfolges absieht („Korrektur des Rücktrittshorizonts“). Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu vom Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig ist (hier: Hilferufe), die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt.

2. Eine natürliche Handlungseinheit liegt grundsätzlich dann vor, wenn mehrere strafrechtlich relevante Handlungen des Täters, die durch ein gemeinsames subjektives Element verbunden sind, in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen und sein gesamtes Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen Dritten als einheitliches Tun erscheint; dabei begründet auch der Wechsel eines Angriffsmittels (hier: Schlagwerkzeug zu Messer) nicht ohne Weiteres die Annahme einer Zäsur.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

707. BGH 4 StR 375/16 - Beschluss vom 15. Februar 2017 (LG Stuttgart)

BGHSt; Nachstellung mit Todesfolge (tatbestandspezifischer Zusammenhang bei Suizid des Tatopfers; Vorhersehbarkeit des Todes).

§ 238 Abs. 3 StGB; § 18 StGB

1. Führt das Opfer einer Nachstellung den tödlichen Erfolg im Sinne des § 238 Abs. 3 StGB durch ein selbstschädigendes Verhalten (Suizid) herbei, ist der tatbestandsspezifische Zusammenhang zwischen Grunddelikt und tödlichem Erfolg bereits dann zu bejahen, wenn das Verhalten des Opfers motivational auf die Verwirklichung des Grundtatbestandes zurückzuführen ist und diese Motivation für sein selbstschädigendes Verhalten handlungsleitend war. (BGHSt)

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht bei erfolgsqualifizierten Delikten ein rein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Verwirklichung des Grundtatbestandes und dem Todeserfolg für die Erfüllung des Tatbestandes nicht aus. Erfolgsqualifizierte Delikte sollen der mit der Verwirklichung des jeweiligen Grundtatbestandes verbundenen Gefahr des Eintritts der qualifizierenden Todesfolge entgegenwirken und setzen deshalb einen spezifischen Ursachenzusammenhang zwischen beidem voraus (vgl. BGHSt 31, 96, 98). (Bearbeiter)

3. Welche Anforderungen an das Vorliegen des gefahrspezifischen Zusammenhangs zu stellen sind, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den erfolgsqualifizierten Delikten nicht generell entschieden werden. Vielmehr müssen diese Anforderungen ebenso wie die gebotenen Einschränkungskriterien für jeden in Betracht kommenden Straftatbestand nach dessen Sinn und Zweck sowie unter Berücksichtigung der von ihm erfassten Sachverhalte in differenzierender Wertung ermittelt werden. (Bearbeiter

4. Im Fall des § 238 Abs. 3 StGB ist der spezifische Ursachenzusammenhang gegeben, wenn der Tod des Nachstellungsopfers unmittelbare Folge der durch die Nachstellungen verursachten schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung ist. Gerade die der Nachstellung innewohnende spezifische Gefahr muss

sich im tödlichen Ausgang niedergeschlagen haben. (Bearbeiter)

5. Da der Täter bei einem erfolgsqualifizierten Straftatbestand schon durch die schuldhafte Verwirklichung des Grunddelikts objektiv und subjektiv pflichtwidrig handelt, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs alleiniges Merkmal der Fahrlässigkeit die Vorhersehbarkeit der qualifizierenden Tatfolge, hier des Todes des Opfers (vgl. BGHSt 51, 18, 21). Hierfür ist entscheidend, ob vom Täter in seiner konkreten Lage nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten der Eintritt des Todes des Opfers vorausgesehen werden konnte oder ob die tödliche Gefahr für das Opfer so weit außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit lag, dass die qualifizierende Folge dem Täter deshalb nicht zuzurechnen ist. (Bearbeiter)

6. Besteht die schwere Folge im Eintritt des Todes, braucht sich die Vorhersehbarkeit nicht auf alle Einzelheiten des zum Tode führenden Geschehensablaufs zu erstrecken, insbesondere nicht auf die durch die Tathandlung ausgelösten, im Einzelnen ohnehin nicht einschätzbaren somatischen Vorgänge, die den Tod schließlich ausgelöst haben; es genügt vielmehr die Vorhersehbarkeit des Erfolges im Allgemeinen (vgl. BGHSt 48, 34, 39). (Bearbeiter)


Entscheidung

710. BGH 3 StR 174/16 - Beschluss vom 20. September 2016 (LG Aurich)

Fortwirkende Gewalt und räuberischer Erpressung (Unterlassung; Finalität; Ausnutzung von Angst); Garantenstellung (Ingerenz; Beihilfe); gefährliche Körperverletzung (gemeinschaftlich).

§ 249 StGB; § 253 StGB; § 255 StGB; § 13 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB

1. Die räuberische Erpressung (§§ 253, 255 StGB) erfordert ebenso wie der Raub (§ 249 StGB) einen finalen Zusammenhang zwischen dem Nötigungsmittel und der von dem Opfer vorzunehmenden vermögensschädigenden Handlung. Eine konkludente Drohung genügt; sie kann sich grundsätzlich auch daraus ergeben, dass der Täter dem Opfer durch sein Verhalten zu verstehen gibt, er werde zuvor zu anderen Zwecken angewendete Gewalt nun zur Erzwingung der jetzt erstrebten vermögensschädigenden Handlung des Opfers bzw. dessen Duldung der beabsichtigten Wegnahme fortsetzen oder wiederholen.

2. Das bloße Ausnutzen der Angst des Opfers vor erneuter Gewaltanwendung enthält dagegen für sich genommen noch keine Drohung. Erforderlich hierfür ist vielmehr, dass der Täter die Gefahr für Leib oder Leben deutlich in Aussicht stellt, sie also durch ein bestimmtes Verhalten genügend erkennbar macht. Es reicht nicht aus, wenn das Opfer nur erwartet, der Täter werde es an Leib oder Leben schädigen.

3. Das bloße Ausnutzen der Angst eines der Einwirkung des Täters schutzlos ausgelieferten Opfers mag sich als das Ausnutzen einer hilflosen Lage im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB darstellen. Dennoch ist die Aktualisierung der Nötigungslage durch ein im Urteil gesondert festzustellendes Verhalten des Täters nicht entbehrlich.

4. Aus der bloßen Ursächlichkeit eines Verhaltens für einen späteren Erfolgseintritt kann sich eine Garantenstellung aus vorangegangenem gefährdenden Tun nicht ergeben; erforderlich ist vielmehr, dass das Vorverhalten die nahe Gefahr des Eintritts gerade des tatbestandsmäßigen Erfolges herbeigeführt hat (BGH NStZ-RR 1997, 292 f.). Wird nach vorherigen Drohungen und Körperverletzungshandlungen ein Vermögensdelikt begangen, wird davon regelmäßig nicht die Rede sein können.

5. § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB setzt voraus, dass der Täter die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass mindestens zwei Beteiligte (Täter oder Teilnehmer, § 28 Abs. 2 StGB) am Tatort bewusst zusammenwirken; es genügt, wenn eine am Tatort anwesende Person den unmittelbar Tatausführenden aktiv physisch oder psychisch unterstützt (BGH NStZ 2006, 572, 573). Eine rein passive Anwesenheit am Tatort reicht dagegen nicht aus, und zwar selbst dann nicht, wenn der Anwesende die Körperverletzungstat des anderen innerlich billigt oder befürwortet.


Entscheidung

687. BGH 1 StR 41/17 - Beschluss vom 7. März 2017 (LG Augsburg)

Betrug (erforderliche Zurechnung der Verfügung zum Geschädigten beim Dreiecksbetrug: Lagertheorie); Tateinheit (natürliche Handlungseinheit).

§ 263 Abs. 1 StGB; § 52 Abs. 1 StGB

1. Nach der Rechtsprechung ist es für eine Zurechnung der Verfügung zum geschädigten Vermögen beim Dreiecksbetrug ausreichend, dass der Verfügende im Lager des Vermögensinhabers steht (sog. Lagertheorie; vgl. BGHSt 58, 119, 127 f. Rn. 34). Voraussetzung hierfür ist ein – faktisches oder rechtliches – Näheverhältnis des Verfügenden zu dem geschädigten Drittvermögen, das schon vor der Tat bestanden hat (vgl. BGH NStZ 1997, 32, 33). Ein solches liegt etwa dann vor, wenn der Getäuschte mit dem Einverständnis des Vermögensinhabers eine Schutz- oder Prüfungsfunktion wahrnimmt. Als ausreichend hierfür wird die Stellung als Mitgewahrsamsinhaber angesehen (vgl. BGHSt 18, 221, 223).

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt eine natürliche Handlungseinheit und damit eine Tat im materiellrechtlichen Sinn bei einer Mehrheit gleichartiger strafrechtlich erheblicher Verhaltensweisen nur dann vor, wenn die einzelnen Betätigungsakte durch ein gemeinsames subjektives Element verbunden sind und zwischen ihnen ein derart unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint (vgl. BGH NStZ 2005, 263). Dagegen vermag allein der Umstand, dass der Täter den Entschluss mehrerer Taten gleichzeitig gefasst hat und ein einheitliches Ziel verfolgt, weder die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit noch eine Tateinheit zu begründen, wenn sich die Ausführungshandlungen nicht überschneiden (vgl. BGHSt 46, 146).


Entscheidung

673. BGH 4 StR 165/17 - Beschluss vom 22. Mai 2017 (LG Stuttgart)


Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (Definition des öffentlichen Verkehrsraums).

§ 316a StGB

Das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Verkehrsraums ist nach ständiger Rechtsprechung auch dann erfüllt, wenn die betreffende Verkehrsfläche ungeachtet der Eigentumsverhältnisse und ohne Rücksicht auf eine Widmung entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch tatsächlich genutzt wird.


Entscheidung

617. BGH 3 StR 87/17 - Urteil vom 4. Mai 2017 (LG Hildesheim)

Rechtsfehlerfreie Verneinung der Erheblichkeit einer sexuellen Handlung bei kurzer Berührung der bekleideten Scheide eines Kindes (sozial nicht mehr hinnehmbare Rechtsgutsbeeinträchtigung; Art, Intensität und Dauer; geringere Anforderungen bei Delikten zum Schutz von Kindern und Jugendlichen; kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen).

§ 176 StGB; § 184h StGB

1. Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus.

2. Bei Tatbeständen, die - wie § 176 Abs. 1 StGB - dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Da stets nur erhebliche geschlechtsbezogene Handlungen sexuelle im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind, gilt indes auch im Hinblick auf § 176 Abs. 1 StGB, dass nicht alle mit einem Körperkontakt verbundenen sexualbezogenen Handlungen tatbestandsmäßig sind. Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere des bekleideten Geschlechtsteils, reichen dafür nicht aus.


Entscheidung

641. BGH 1 StR 70/17 - Beschluss vom 4. April 2017 (LG Schweinfurt)

Konkurrenzen (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; Nötigung).

§ 113 Abs. 1 StGB; § 240 StGB

Da jedes Widerstandleisten zugleich den Zweck verfolgt, den betroffenen Beamten zu einer Duldung oder Unterlassung zu nötigen, tritt der Tatbestand der Nötigung im Konkurrenzwege den Tatbestand des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zurück, welcher als lex specialis allein anzuwenden ist.


Entscheidung

658. BGH 2 StR 575/16 - Beschluss vom 2. Mai 2017 (LG Frankfurt am Main)

Tateinheit (einzelner Tatbeitrag zu mehreren Einzeltaten); Computerbetrug.

§ 52 Abs. 1 StGB; § 263a StGB

1. Sind an einer Deliktsserie mehrere Personen beteiligt, ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, bei jedem Beteiligten gesondert zu entscheiden. Leistet ein Mittäter für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten - soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt - als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Fehlt es an einer solchen individuellen Tatförderung, erbringt der Täter aber im Vorfeld oder während des Laufs der Deliktsserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten seiner Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung verknüpft werden. Ohne Bedeutung ist dabei, ob die Mittäter die einzelnen Delikte tatmehrheitlich begangen haben.

2. Nach diesen Maßstäben macht sich ein Angeklagter des versuchten Computerbetruges in zwei tateinheitlichen Fällen schuldig, wenn er zu zwei Abhebeversuchen an einem Geldautomaten keinen individuellen, jeweils einen Abhebeversuch fördernden Tatbeitrag erbringt, sondern sein Tatbeitrag sich vielmehr auf beide Abhebeversuche gleichermaßen fördernd ausgewirkt, so dass diese ihm als tateinheitlich begangen zuzurechnen sind.


Entscheidung

674. BGH 4 StR 176/17 - Beschluss vom 23. Mai 2017 (LG Bielefeld)

Grundsätze der Strafzumessung (Berücksichtigung der Bewaffnung beim Totschlag).

§ 46 Abs. 3 StGB; § 212 Abs. 1 StGB

Die Berücksichtigung des Umstands, dass sich ein Angeklagter bewusst mit einem Messer bewaffnet, bevor er das Tatopfer aufsucht, verstößt nicht gegen die Grundsätze der Strafzumessung, denn anders als etwa beim Raub ist der Einsatz einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs nicht Tatbestandsmerkmal des Totschlages.


Entscheidung

691. BGH 1 StR 602/16 - Beschluss vom 21. März 2017 (LG Lübeck)

Falsche Versicherung an Eides Statt (Verhältnis zu einer späteren, inhaltlich gleichen falschen eidesstattlichen Versicherung bei Stellung des Insolvenzantrags: Tateinheit).

§ 156 StGB; § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 52 Abs. 1 StGB

Das Verschweigen einzelner Vermögensbestandteile im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung im Sinne des § 156 StGB und deren späteres nochmaliges Verheimlichen bei der Vorlage des Vermögensverzeichnisses beim Insolvenzantrag im Sinne des § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB beziehen sich auf dasselbe geschützte Rechtsgut, nämlich an der vollständigen Erfassung des pfändbaren Schuldnervermögens im Interesse der Gläubiger. Die Abgabe der falschen eidesstattlichen Versicherungen dienen der Verschleierung der wahren Vermögenslage und dem Verheimlichen von Vermögensbestandteilen. Insoweit

stehen daher diese Gesetzesverletzungen in Tateinheit zueinander.


Entscheidung

702. BGH 2 StR 489/16 - Urteil vom 31. Mai 2017 (LG Rostock)

Besonders schwerer Fall des Bankrotts (Begriff der Gewinnsucht); besonders schwerer Betrug (Begriff der Gewerbsmäßigkeit).

§ 283 StGB; § 283a Satz 2 Nr. 1 StGB; § 263 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB

Gewinnsucht liegt vor, wenn das Gewinnstreben auf ein ungewöhnliches, sittlich anstößiges Maß gesteigert ist. Gewinnsucht geht über ein legitimes Gewinnstreben hinaus. Erforderlich ist eine besondere Rücksichtslosigkeit, mit der sich der Täter um seiner eigenen Vorteile willen über die Interessen der Gläubiger und über die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft hinwegsetzt. Gewinnsucht ist ein Streben nach Gewinn um jeden Preis.


Entscheidung

671. BGH 4 StR 135/17 - Beschluss vom 10. Mai 2017 (LG Freiburg)

Konkurrenzen (versuchte Nötigung; Bedrohung).

§ 22 StGB; § 240 Abs. 1 und 3 StGB; § 241 Abs. 1 StGB

Die als Nötigungshandlung begangene Bedrohung tritt im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter die versuchte Nötigung zurücktritt.


Entscheidung

705. BGH 4 StR 366/16 - Beschluss vom 9. Mai 2017 (LG Essen)

Sexueller Übergriff (Anwendbarkeit auf Taten, die nach altem Recht einen sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen darstellten: gleicher Unrechtskern).

§ 177 StGB; § 179 StGB aF; § 2 Abs. 3 StGB

1. Die neu gefasste Vorschrift des § 177 StGB nF enthält insbesondere in den Absätzen 1, 2 Nrn. 1 und 2 und Absatz 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGB aF, die hinsichtlich des geschützten Rechtsguts und der inkriminierten Angriffsrichtung unverändert geblieben sind und damit einen identischen Unrechtskern aufweisen.

2. Da die Tatbestände des § 177 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB nF und die Qualifikationsnorm des § 177 Abs. 4 StGB nF ausschließlich an die Fähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens anknüpfen, wird die nach altem Recht unter den Begriff der Widerstandsunfähigkeit subsumierte Unfähigkeit, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu realisieren, von diesen Vorschriften des neuen Rechts nicht erfasst. Das Hinwegsetzen über den artikulierten entgegenstehenden Willen des Tatopfers unterfällt vielmehr unabhängig von einer zustandsbedingten habituellen Unfähigkeit zur Durchsetzung dieses Willens lediglich dem Grundtatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nF.


Entscheidung

706. BGH 4 StR 61/17 - Beschluss vom 27. April 2017 (LG Berlin)

Gefährdung des Straßenverkehrs (konkrete Gefahr für Leib und Leben einer Person oder für eine Sache von bedeutendem Wert: „Beinahe-Unfall“).

§ 315c Abs. 1 StGB

§ 315c Abs. 1 StGB setzt voraus, dass eine der dort genannten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in eine kritische Verkehrssituation geführt hat, in der die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist ein „Beinahe-Unfall“, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (vgl. BGH NJW 1995, 3131, 3132).