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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2015
16. Jahrgang
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Von Dr. Frauke Rostalski, Marburg
In der Entscheidung Nr. 48144/09 – Urteil vom 15. Januar 2015 (Cleve v. Deutschland) befasst sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Gerichtshof) neuerlich mit dem Geltungsbereich der Unschuldsvermutung. Sie bietet Anlass, sich den allgemeinen Fragen der Erstreckung des Schutzbereichs der Unschuldsvermutung auf die Gründe eines (freisprechenden) Strafurteils sowie der in diesem Zusammenhang relevanten Abgrenzung zwischen bloßen Verdachtsäußerungen und Schuldfeststellungen zu widmen. Im Anschluss werden die Ergebnisse auf den durch den Gerichtshof zu entscheidenden Fall übertragen.
Der Entscheidung des Gerichtshofs liegt ein freisprechendes Urteil des LG Münster aus dem Jahr 2008 zugrunde (1 KLs 5/08). In dem damaligen Verfahren wurde dem Beschwerdeführer vorgeworfen, sich in 15 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen sowie des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht zu haben (§§ 176a, 174 StGB). Tatopfer sei die im März 1994 geborene Tochter des Beschwerdeführers, die er in der Nähe von Senden insgesamt 13 Mal in seinem Pkw und zwei Mal in einer Ferienwohnung vergewaltigt haben soll. Der Verurteilung des Beschwerdeführers stand nach Auffassung des LG Münster ein mangelnder Tatnachweis entgegen. Der den Tatvorwurf bestreitende damalige Angeklagte wurde im Verfahren ausschließlich durch die Aussage seiner Tochter belastet. Wenngleich das Gericht deren Glaubwürdigkeit angesichts der Authentizität ihres Aussageverhaltens nicht anzweifelte, gelangte es dennoch nicht zu einer die Verurteilung rechtfertigenden Überzeugung im Hinblick auf den Tathergang. Insbesondere scheiterte dies an aus Sicht des Gerichts verbleibenden Unstimmigkeiten in den Aussagen der Zeugin, die sich etwa auf die Anzahl der Taten, den Tatort sowie deren genauen Zeitrahmen bezogen. Darüber hinaus fehlte es der Aussage der Zeugin nach Auffassung des Gerichts an hinreichender Detailgetreue bezüglich der konkreten Art und Weise der Taten. In seinen Urteilsgründen führt es dazu aus: "… Zusammengefasst sind Anhaltspunkte einer Suggestion (der Zeugin seitens Dritter, Anm. d. Verf.) für die Kammer nicht ersichtlich. So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist. Die Taten ließen sich aber dennoch weder ihrer Intensität noch ihrer zeitlichen Einordnung nach in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren. Die Inkonstanzen in den Aussagen der Zeugin waren so gravierend, dass konkrete Feststellungen nicht getroffen werden konnten."[1] Im Ergebnis sprach das LG Münster
den Beschwerdeführer und damaligen Angeklagten daher von sämtlichen Tatvorwürfen frei.
Gegen das Urteil legte der Beschwerdeführer noch im Dezember 2008 Verfassungsbeschwerde ein. Darin rügte er, durch die wörtlich zitierte Äußerung in den Urteilsgründen des LG Münster in seinem Recht auf ein faires Verfahren, seinem Persönlichkeitsrecht und seiner Menschenwürde verletzt worden zu sein. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Befassung mit der Beschwerde indes ab (2 BvR 2499/08). In der Folge wandte sich der Beschwerdeführer mit einer Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) an den Gerichtshof. Zur Begründung führte er aus, dass die umstrittene Äußerung des LG Münster einer Schuldfeststellung gleichkomme und daher gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK verstoße. Umfasst sei davon auch der Schutz vor Äußerungen des Gerichts, die über eine bloße Beschreibung eines verbleibenden Tatverdachts hinausgehen und auf diese Weise den Freispruch relativieren. Anderenfalls könnten sonstige staatliche Stellen oder die Öffentlichkeit trotz des Freispruchs von der Schuld des Angeklagten ausgehen, was im Fall des Beschwerdeführers tatsächlich eingetreten sei: Im Sorgerechtsverfahren habe ihm das Familiengericht unter Bezugnahme auf die umstrittenen Äußerungen des LG Münster jedweden Umgang mit seiner Tochter untersagt.[2]
Die Regierung Deutschlands trat der Beschwerde mit der Auffassung entgegen, die Unschuldsvermutung entfalte keine Geltung für die Gründe eines Strafurteils.[3] Sie sei ausschließlich formeller Natur, weshalb der Angeklagte zwar bei mangelndem Tatnachweis trotz verbleibender (erheblicher) Verdachtsmomente ein Anrecht auf einen Freispruch habe, nicht aber weitere Rechte in Bezug auf die Urteilsgründe geltend machen könne. Anders als bei einem Freispruch infolge nachgewiesener Unschuld des Angeklagten werde dieser bei einem Freispruch aus Mangel an Beweisen allerdings nicht moralisch rehabilitiert. Auch aus Art. 6 Abs. 2 EMRK leite sich kein Recht ab, in solch einem Fall von jedwedem Verdacht befreit zu werden. Vielmehr entspreche es den Vorgaben der §§ 244 Abs. 2, 261 StPO, dass das Gericht sämtlichen entscheidungserheblichen Überlegungen in seinem Urteil Ausdruck verleihe. Nicht zuletzt komme darin ein rechtsstaatliches Interesse an der Überprüfbarkeit des Urteils zum Ausdruck. Im Fall eines Freispruchs wegen mangelnden Tatnachweises müssten diese Überlegungen daher insbesondere die Erklärung enthalten, warum sich der Verdacht gegen den Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht in einem eine Verurteilung rechtfertigenden Maße bestätigt habe. Entlastende Beweise seien darin gegen belastende Beweise abzuwägen. Nicht zuletzt habe es der Beschwerdeführer versäumt, sich gesondert gegen die Entscheidung des Familiengerichts zu wenden.
Demgegenüber teilt der Gerichtshof die Einschätzung des Beschwerdeführers in Bezug auf die Verletzung der Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK. Zur Begründung führt er zunächst allgemein aus, dass die Gründe als ein einheitliches Ganzes in Verbindung mit der Urteilsformel zu sehen seien.[4] Eine künstliche Trennung dieser beiden Bestandteile des Strafurteils sei nicht möglich. Der Schutzbereich der Unschuldsvermutung ende grundsätzlich im Anschluss an einen ordentlichen Schuldnachweis. Allerdings soll die Unschuldsvermutung selbst im Fall der Verurteilung weiterhin Geltung entfalten in Bezug auf Behauptungen, die ihrer Natur und ihrem Ausmaß nach dem Aufbringen eines neuen Vorwurfs gleichkommen.[5] In Ermangelung eines Schuldnachweises sei der Geltungsbereich der Unschuldsvermutung bei einem Freispruch demgegenüber zeitlich nicht begrenzt. In diesem Zusammenhang erachtet es der Gerichtshof als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK, gegenüber einer freigesprochenen Person – selbst im Fall des Freispruchs aus mangelndem Tatnachweis – jedwede Verdächtigung von Schuld zu äußern ("voicing of any suspicions of guilt").[6] Dies betreffe auch solche Äußerungen, die sich allein in den Urteilsgründen finden. Dem Gericht sei es zwar nicht untersagt, einen verbleibenden Verdacht gegen den Angeklagten festzuhalten. Insoweit komme es aber entscheidend auf die Differenzierung zwischen der bloßen Beschreibung eines Zustands des (verbleibenden) Verdachts ("description of a ‘state of suspicion’") und der Feststellung von Schuld ("finding of guilt") in Abwesenheit einer endgültigen Überzeugung an.[7] Allein letztere bedeute eine Verletzung der Unschuldsvermutung, die mithin dann angenommen werden könne, wenn die Urteilsgründe die Meinung widerspiegeln, dass der Angeklagte tatsächlich schuldig sei. Insoweit komme es maßgeblich auf die Sprache an, die der Entscheidungsträger verwendet.[8]
Darüber hinaus sei es im Sinne der Effektivität und Praktikabilität der Unschuldsvermutung erforderlich, diese nicht lediglich in einem schwebenden Strafverfahren zur Anwendung zu bringen. Vielmehr schütze sie auch denjenigen, der von einem strafrechtlichen Vorwurf freigesprochen bzw. in Bezug auf den ein Strafverfahren anderweitig beendigt wurde, davor, seitens öffentlicher Stellen so behandelt zu werden, als ob er der ihm vorgeworfenen Taten schuldig sei.[9] Was nämlich nach Auffassung des Gerichtshofs ab dem Zeitpunkt der Beendigung eines Strafverfahrens seinerseits auf dem Spiel stehe, seien der Ruf der betreffenden Person und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.[10] Aus diesem Grund müsse die Urteilsformel von jeder staatlichen Autorität res-
pektiert werden, die in irgendeiner Form auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Person Bezug nehme.
Hierauf aufbauend zieht der Gerichtshof für den in Rede stehenden Fall folgende Rückschlüsse:[11] Isoliert betrachtet erscheine die umstrittene Äußerung des LG Münster als Aussage, dass das Gericht den Beschwerdeführer des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter für schuldig erachte. Zwar war das Gericht nach nationalem Recht verpflichtet, sowohl belastende als auch entlastende Beweise in seine Beurteilung einzubeziehen. Zudem verwende es in der umstrittenen Äußerung der Urteilsgründe den Begriff des "sexuellen Übergriffs", nicht aber des sexuellen Missbrauchs. Insoweit sei aus Sicht des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass es sich dabei um einen allgemeinen, nicht-juristischen Begriff handele, der insbesondere nicht in der gesetzlichen Definition der Straftaten der §§ 174, 176a StGB enthalten ist. Für sich genommen sei dieser mithin nicht geeignet, eine Aussage über die rechtliche Relevanz des Verhaltens zu treffen. Gleichwohl sei die umstrittene Äußerung klar und bedingungslos formuliert. Im Kontext des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter vor allem in seinem Pkw vermittle die Formulierung bei dem Leser den Eindruck, dass der Beschwerdeführer tatsächlich des sexuellen Missbrauchs schuldig sei.
Weiter führt der Gerichtshof aus, dass zwar das Verfahren vor dem Familiengericht nicht Gegenstand der anhängigen Beschwerde sei. Gleichwohl müsse es unter Berücksichtigung der möglichen Bedeutung der Gründe eines Strafurteils für Folgeverfahren unbedingt vermieden werden, darin Ausführungen vorzunehmen, die es nahelegen, dass das Gericht den Angeklagten als schuldig erachte, obgleich es an einer formellen Schuldfeststellung fehlt.[12] Im Ergebnis hält der Gerichtshof daher fest, dass die umstrittene Äußerung des LG Münster über die bloße Beschreibung eines (verbleibenden) Zweifels hinausgehe, indem darin eine unglückliche Sprache ("unfortunate language") verwendet werde.[13] Die Äußerung setze sich damit in Widerspruch zu dem freisprechenden Urteilstenor. Weil sie einer Schuldfeststellung in Bezug auf die Taten, die dem Beschwerdeführer in dem damaligen Verfahren zum Vorwurf gemacht wurden, gleichkomme, liege darin eine Verletzung der Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK.
Die Entscheidung des Gerichtshofs steht in einer Reihe mit früheren Richtersprüchen, in denen die in Art. 6 Abs. 2 EMRK implementierte Unschuldsvermutung neuerlich gestärkt wurde.[14] Besonderes Interesse weckt das Urteil unter zwei Gesichtspunkten: So dehnt der Gerichtshof den Schutzumfang der Unschuldsvermutung ausdrücklich auf die Gründe eines (freisprechenden) Strafurteils aus.[15] Insoweit erstreckt er seine frühere Rechtsprechung, wonach Entscheidungsgründe und Tenor etwa bei Einstellungsbeschlüssen oder einem abgeschlossenen Gerichtsverfahren nachfolgenden Entscheidungen nicht voneinander getrennt werden können, ausdrücklich auf das (freisprechende) Urteil.[16] Anschließend betont er wiederum in Anlehnung an frühere Judikate,[17] dass es für die Frage einer etwaigen Verletzung der Garantie des Art. 6 Abs. 2 EMRK entscheidend auf die Differenzierung zwischen einer bloßen Verdachtsäußerung und einer Schuldfeststellung ankommt. Dabei arbeitet der Gerichtshof Grundsätze heraus, aus denen sich eine Verletzung der Unschuldsvermutung aus Äußerungen in den Urteilsgründen ergeben könne.
Zustimmung verdient der Gerichtshof zunächst im Hinblick auf die Erstreckung des Schutzumfangs der Unschuldsvermutung auf die Gründe eines (freisprechenden) Strafurteils. In Art. 6 Abs. 2 EMRK heißt es: "Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig." Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt sich hierbei um einen besonderen Aspekt des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren.[18] In Deutschland ergibt sich dies aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, weshalb die Unschuldsvermutung Verfassungsrang genießt.[19] Geschützt wird davon
nicht lediglich der Angeklagte, sondern bereits der Beschuldigte im Verlauf des Ermittlungsverfahrens.[20] Die Unschuldsvermutung garantiert, dass jedwede Maßnahme, die das Vorliegen von Schuld zur Voraussetzung hat, bis zu deren Nachweis in einem ordnungsgemäßen Verfahren in der dafür vorgeschriebenen Form unterbleibt.[21] Der materielle Gehalt der Unschuldsvermutung lässt sich damit als Kehrseite des rechtsstaatlichen Gebots verstehen, dass Strafe erst im Anschluss an die Durchführung des dafür vorgesehenen staatlichen Verfahrens verhängt werden darf.[22] Ihr Schutz endet daher grundsätzlich mit der rechtskräftigen Verurteilung des Beschuldigten.[23] In seiner Entscheidung konkretisiert der Gerichtshof nunmehr den Schutzumfang der Unschuldsvermutung weiter, indem er ihn auf die Ausführungen in den Urteilsgründen erstreckt. Dies betrifft nach seiner Auffassung sowohl freisprechende als auch solche Urteile, in denen die Schuld des Angeklagten festgestellt wird. Werde der Angeklagte zu Strafe verurteilt, könne sich eine Verletzung der Unschuldsvermutung gleichwohl aus Formulierungen in den Urteilsgründen ergeben, die ihrer Natur und ihrem Ausmaß nach einem neuen Fehlverhaltensvorwurf gleichkommen.[24]
Dieser zutreffenden Auffassung des Gerichtshofs liegt die Einsicht zugrunde, dass gerichtliche Schuldvorwürfe für sich genommen einen belastenden Eingriff in Rechte des Einzelnen darstellen.[25] Es handelt sich dabei nicht lediglich um ein paar richterliche Worte, die den Rechtsstatus des Angeklagten bzw. Beschuldigten als Bürger unberührt lassen.[26] Dies gilt zunächst für den Schuldspruch. In einem rechtsstaatlichen Tatstrafrecht dient Strafe der Reaktion auf ein rechtlich relevantes Fehlverhalten des Einzelnen. Der Delinquent verstößt gegen eine rechtliche Verhaltensnorm und stellt auf diese Weise deren Geltungskraft jedenfalls punktuell für sich in Frage. Durch Strafe teilt ihm die Gesellschaft ihre Antwort mit: Sie will an ihrem Recht und dessen Normen festhalten.[27] Insofern sind die Straftat des Einzelnen in Gestalt des Verhaltensnormverstoßes und die strafende Reaktion der Gesellschaft als Vorgang der Kommunikation einzustufen. Strafe sieht daher in jedem Fall einen Schuldspruch gegenüber dem Einzelnen vor. In den meisten Fällen tritt neben diesen wesentlichen Bestandteil der Strafe ein zusätzliches Übel in Gestalt staatlicher Beeinträchtigung körperlicher bzw. pekuniärer Freiheit.[28] Dabei nimmt der Schuldspruch im Vorgang der Bestrafung eine hervorgehobene Bedeutung ein. In ihm liegt der Kern gesellschaftlicher Antwort auf die Infragestellung der übertretenen Verhaltensnorm. Der auf diese Weise initiierte Kommunikationsakt findet seine notwendige Reaktion vorrangig im Schuldspruch, der das Verhalten des Täters als rechtlich falsch beurteilt und ihm mitteilt, dass die Gesellschaft weiterhin an ihrem Recht festhält.
Demgegenüber vermag etwa die jüngst seitens Stuckenberg vertretene Differenzierung zwischen dem Schuldspruch als reiner Bestätigung bzw. neutraler Feststellung eines Fehlverhaltens und dem Strafübel als ausschließliches Element von Strafe nicht zu überzeugen. Stuckenberg meint, nicht im Schuldspruch, sondern allein "in der Sanktion, der notwendigen Expressivität des Strafschmerzes" liege die "Gegenrede" gegenüber dem Verhaltensnormverstoß des Einzelnen. Der Schuldspruch sei damit lediglich die Voraussetzung von Strafe, sodass dieser selbst nicht Strafe sein könne. Eine Bestätigung seiner Position erblickt er etwa in dem Umstand, dass das Gesetz in § 60 StGB ein "Absehen von Strafe" vorsieht, wenngleich ein Schuldspruch ergeht.
Indessen ist bereits Stuckenbergs Verweis auf die Gesetzesfassung von § 60 StGB wenig stichhaltig. Sofern das Gesetz ein Absehen von Strafe anordnet, gleichwohl aber den Schuldspruch vorsieht, muss § 60 als Sonderfall bzw. "Sanktionsform eigener Art"[29] eingestuft werden. Rückschlüsse auf das allgemeine Verhältnis von Freiheits- und Geldstrafe gegenüber dem Schuldspruch lassen sich daraus nicht ziehen.[30] Kritik verdient aber vor allem Stuckenbergs
verfehlte Konzeption von Strafe als ausschließliche Übelszufügung, für die der Schuldspruch lediglich eine Feststellungsvoraussetzung darstellt. Dabei übersieht er zunächst, dass die Voraussetzung für das Eingreifen von Strafe nicht etwa der Schuldspruch, sondern die Erfüllung der Sanktionsnorm ist: Sofern die Tatbestandsvoraussetzungen eines Diebstahls vorliegen, liegt hierin die Bedingung für das Eingreifen von Strafe. Der Schuldspruch gehört dann aber bereits zur Rechtsfolge und ist nicht lediglich neutrale Feststellungsvoraussetzung. Insofern ist zwingend zu berücksichtigen, dass mit dem Schuldspruch ein Vorwurf gegenüber dem Täter verbunden ist.[31] Dieser beinhaltet den zentralen Kommunikationsakt der Gesellschaft mit dem sich fehlerhaft verhaltenden Einzelnen. Ihm wird stellvertretend durch das Gericht mitgeteilt, dass sich die Gesellschaft gegen die Aussage wendet, die er in seinem Fehlverhalten zum Ausdruck bringt: Die Gemeinschaft hält trotz des Normverstoßes an der fortdauernden Geltungskraft der übertretenen Norm fest und widerspricht der Rechtsanmaßung des Einzelnen, der meint, seine eigenen Maximen über diejenigen des Rechts stellen zu dürfen.[32] Hierin liegt aber ein Rechtseingriff in den Status des Bürgers, der sich insbesondere als Unschuldiger, aber auch bei nicht ordnungsgemäß geführtem Tatnachweis dagegen wehren kann.[33]
Die Erkenntnis, dass der Schuldspruch seinerseits einen belastenden Eingriff in die Rechte des Einzelnen darstellt, zeitigt Folgen für die Qualifizierung sonstiger Schuldfeststellungen, wie sie sich etwa in den Urteilsgründen finden können. Auch solche Äußerungen weisen grundsätzlich den Charakter eines Eingriffs in die Rechte des Angeklagten auf.[34] Grund dafür ist, dass das Strafurteil in seiner Funktion als Kommunikationsakt gegenüber dem Einzelnen notwendig als einheitliches Ganzes zu sehen ist. Insoweit ist dem Gerichtshof zuzustimmen, der sich gegen eine Abtrennung etwa des Tenors von den Urteilsgründen ausspricht. Die Urteilsformel steht (zeitlich) am Ende des Vorgangs der Urteilsfindung durch das Gericht. Die Gründe zeichnen demgegenüber den Weg nach, den das Gericht bis zu seiner finalen Entscheidung gegangen ist. Dabei geht es primär darum, dem Angeklagten verständlich zu machen, welche Faktoren für die Entscheidung ausschlaggebend waren.[35] Die Gründe dienen damit nicht zuletzt der Rechtfertigung des gesamten Verfahrens einschließlich des abschließenden Urteilsspruchs gegenüber dem Angeklagten und der Rechtsgemeinschaft, die ihrerseits ein Interesse an der Rechtmäßigkeit staatlicher Maßnahmen hat.[36] Vor diesem Hintergrund kommt ihnen in der Kommunikation mit dem Angeklagten eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Aufgrund der hohen Eingriffsintensität von Strafe als "schärfstes Schwert des Staates" müssen von Rechts wegen besondere Anforderungen an die Verständlichkeit der gerichtlichen Ent-
scheidung gestellt werden. Die Infragestellung des Rechts seitens des Delinquenten muss in nachvollziehbarer Weise beantwortet werden.[37] Dem würde es aber nicht entsprechen, teilte das Gericht dem Angeklagten lediglich das Ergebnis seiner Entscheidung über die rechtliche Bewertung seines Verhaltens (Missbilligung oder Nichtmissbilligung) mit. Vielmehr ist es erforderlich und folgerichtig im deutschen Strafverfahrensrecht in § 267 StPO vorgesehen, dass Strafurteile Gründe enthalten müssen, die dem Angeklagten eröffnet werden.[38] Anderenfalls könnte das gegenüber einem Bürger verhängte Urteil seine rechtsstaatliche Funktion der Wiederherstellung des Rechts im Wege des Ausgleichs eines begangenen Verhaltensnormverstoßes oder aber im Wege des Freispruchs nicht sinnvoll erfüllen. Die Antwort auf das Fehlverhalten des Betreffenden fiele ungerechtfertigt verkürzt aus und liefe damit Gefahr, von diesem in ihrem Bedeutungsgehalt nicht vollständig erfasst zu werden.[39] Kurz: Sofern der Angeklagte die staatliche Reaktion auf sein Verhalten nicht nachvollziehen kann, stellt sich diese für ihn als willkürlicher Akt der Gewalt dar. Dies ist indes nicht mit dem Bürgerverständnis eines freiheitlich verfassten Gemeinwesens in Einklang zu bringen, das ihn als prinzipiell vernunftbegabte Person würdigt.[40] Die schriftliche Begründung eines Urteils trägt diesem Bild hingegen Rechnung und nimmt daher eine hervorgehobene Stellung in dem Gesamtvorgang der Kommunikation mit dem Einzelnen infolge eines etwaigen Verhaltensnormverstoßes ein.
Die Antwort auf die Frage, ob Schuldfeststellungen in den Urteilsgründen ihrerseits einen Eingriffscharakter aufweisen, ist damit schnell gegeben: Weil die Gründe einen wesentlichen Bestandteil des Kommunikationsvorgangs zwischen dem Delinquenten und der Rechtsgemeinschaft ausmachen, gilt für Schuldzuweisungen, die sich darin finden, nichts anderes als für den Schuldspruch als Teil der Urteilsformel. Bei beiden handelt es sich um einen belastenden Eingriff in die Rechte des Einzelnen. Vor diesem Hintergrund ist es auch denkbar, dass sich trotz der ordnungsgemäßen Verurteilung des Angeklagten in den Urteilsgründen eine Verletzung der Unschuldsvermutung findet. Wie der Gerichtshof zutreffend ausführt, kann sich diese allerdings nicht auf solche Schuldfeststellungen beziehen, die letztlich in eine Verurteilung des Angeklagten gemündet sind. Im Hinblick darauf endet der Schutz durch Art. 6 Abs. 2 EMRK mit der rechtskräftigen Verurteilung des Beschuldigten.[41] Anders verhält es sich aber in Bezug auf Schuldfeststellungen, die sich nicht auf den Fehlverhaltensvorwurf beziehen, dessen ordnungsgemäß geführter Nachweis zur Verurteilung des Angeklagten geführt hat. Trifft das Gericht also etwa Äußerungen, die seine Schuld im Hinblick auf eine andere Tat feststellen, liegt hierin ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. Ebenso verhält es sich, wenn diejenige Tat, die Gegenstand der Verurteilung ist,[42] in den Urteilsgründen abweichend rechtlich beurteilt wird, sofern dies eine über den Schuldspruch hinausgehende Strafbarkeit des Angeklagten beinhaltet.[43] Daran ändert sich nichts durch die Durchführung der Hauptverhandlung: Sofern das Gericht in einer die Verurteilung rechtfertigenden Weise von der Schuld des Betreffenden überzeugt ist, muss es diesen wegen der in Rede stehenden Tat schuldig sprechen.[44] Anderenfalls haben entsprechende Äußerungen zu unterbleiben, da sie ihrerseits einen belastenden Eingriff in die Rechte des Angeklagten begründen, der sich im Lichte der Unschuldsvermutung nicht legitimieren lässt.
Der hier besprochenen Entscheidung des Gerichtshofs lag allerdings ein freisprechendes Urteil zugrunde. Insoweit kann zunächst festgehalten werden, dass gerade in einem Freispruch aufgrund mangelnden Tatnachweises der Unschuldsvermutung Rechnung getragen wird, deren "Kernbestand" im Grundsatz in dubio pro reo zu sehen ist.[45] Gleichwohl kommen nach den voranstehend darge-
legten Grundsätzen selbst im Fall eines freisprechenden Urteils Verletzungen der Unschuldsvermutung in Betracht. Diese können sich wiederum aus der Formulierung der Urteilsgründe ergeben. Zu denken ist dabei zuvörderst an solche Ausführungen, die sich inhaltlich in Widerspruch zu dem freisprechenden Tenor setzen, indem sie eine gerichtliche Schuldfeststellung immerhin vermuten lassen. In diesem Zusammenhang kommt es – wie bereits der Gerichtshof zutreffend erkennt – entscheidend darauf an, ob das Gericht sich in seinen Gründen lediglich mit der Darlegung eines verbleibenden Tatverdachts gegen den Angeklagten auseinandersetzt oder ob sich darin Äußerungen finden, die eine Schuldfeststellung nahelegen. Im Zentrum der Frage nach einer etwaigen Verletzung der Unschuldsvermutung steht mithin die (schwierige) Abgrenzung zwischen bloßen Beschreibungen eines Verdachts und unzulässigen Schuldfeststellungen.
Diese ist bereits in der gesetzlichen Fassung des § 267 Abs. 5 S. 1 StPO angelegt. Danach müssen die Urteilsgründe im Fall eines Freispruchs ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Sofern der Angeklagte wie in dem dem Gerichtshof zur Entscheidung vorliegenden Fall aus tatsächlichen Gründen freigesprochen wird, ist das Gericht folglich gleichwohl gehalten, sowohl diejenigen Tatsachen zu benennen, die es als erwiesen erachtet, als auch die aus seiner Sicht nicht erwiesenen. Insbesondere hat eine Auseinandersetzung mit der Frage zu erfolgen, weshalb die erwiesenen Tatsachen zum Nachweis des Anklagevorwurfs nicht ausreichen.[46] Erforderlich ist daher eine Gesamtwürdigung sämtlicher für und gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände.[47]
Freilich gerät das erkennende Gericht jedenfalls dann nicht in die Schwierigkeit, sich in einer unter dem Blickwinkel der Unschuldsvermutung problematischen Weise mit nach der Beweisaufnahme verbleibenden Verdachtsmomenten gegen den Angeklagten auseinanderzusetzen, wenn sich diese vollständig aufgelöst haben. In einem solchen Fall stellt sich nicht die Frage nach einer Abgrenzung von Verdachtsäußerungen und Schuldfeststellungen, da bereits erstere widerlegt wurden. Anders verhält es sich allerdings, wenn wie im hier in Rede stehenden Fall der Angeklagte aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird. Einem solchen Freispruch ist es wesenseigen, dass selbst nach Abschluss der Beweisaufnahme Zweifel verbleiben, ob der Angeklagte die Voraussetzungen eines Strafgesetzes erfüllt hat – sich also strafbar gemacht hat. Es gehört in diesen Konstellationen zu dem originären Entscheidungsfindungsprozess des Gerichts, dass es trotz solcher Zweifel nicht zu der Überzeugung der Schuld des Angeklagten gelangt ist. In den Urteilsgründen muss dem aber Ausdruck verliehen werden, sodass sich die Problematik der ordnungsgemäßen Abgrenzung zwischen (zulässiger) Verdachtsäußerung und unzulässiger (Schuldfeststellung) stellt.
Indessen gelingt diese weniger eindeutig, als es jedenfalls aus Sicht praktischer Rechtsanwendung wünschenswert wäre. Eine Hilfe bietet die Vergewisserung der inhaltlichen Bestimmung beider Termini. Dabei kennt das Gesetz den Begriff des Tatverdachts zunächst als Legitimationserfordernis verschiedener strafverfahrensrechtlicher Maßnahmen. So soll für den etwa in § 170 StPO für die Anklageerhebung erforderlichen hinreichenden Tatverdacht die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hinreichen.[48] Daneben verlangt etwa § 112 StPO für die Anordnung der Untersuchungshaft einen gegen den Beschuldigten vorliegenden dringenden Tatverdacht, der immerhin eine große Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung voraussetzt.[49] Wenngleich der für die Maßnahmen der Ermittlungsbehörden erforderliche Tatverdacht diese Wahrscheinlichkeit auf die spätere Verurteilung des Angeklagten richtet, lassen sich gleichwohl Rückschlüsse auf den Verdachtsbegriff im Rahmen der Urteilsgründe ziehen. Das Gericht hat sich in Strafsachen mit der Frage zu befassen, ob der Angeklagte sich derjenigen Straftat schuldig gemacht hat, die ihm seitens der Anklage vorgeworfen wird. In diesem Kontext lässt sich der gerichtliche Verdacht daher als die bei verständiger Würdigung der Sachlage berechtigte Annahme definieren, dass sich eine Straftatbegehung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ereignet hat.
Demgegenüber setzt die Feststellung von Schuld voraus, dass das Gericht im Rahmen des dafür vorgesehenen Verfahrens zu einer entsprechenden Überzeugung gelangt ist, § 261 StPO. In den Worten des Bundesgerichtshofs kann eine Verurteilung daher ausschließlich auf der persönlichen Gewissheit des entscheidenden Gerichts beruhen, gegenüber der keine vernünftigen Zweifel mehr aufkommen.[50] Freilich verdient eine solche Versubjektivierung der Begriffe ihrerseits Kritik. Sachlich kann es ausschließlich darauf ankommen, ob der für eine Verurteilung rechtsgenügende Beweis erbracht ist, wofür die subjektive Überzeugung des Gerichts weder erforderlich noch ausreichend ist.[51] Bereits anhand der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs der Überzeugung seitens der Rechtsprechung zeigt sich aber jedenfalls, dass damit keine "absolute Sicherheit" im Hinblick auf das tatsächliche Geschehen gemeint ist. Im Gegenteil sollen nach höchstrichterlichen Maßstäben keine "überspannten
Anforderungen" an das Zustandekommen der richterlichen Überzeugung gestellt werden.[52] Vor dem Hintergrund, dass es ein "absolut sicheres Wissen" nicht geben kann, genüge hingegen ein Maß an Sicherheit, das relevante Zweifel ausschließe. Damit zeigt sich, dass es sich bei der für eine Verurteilung erforderlichen Überzeugung lediglich um eine weitere Steigerung des bei verständiger Würdigung der Sachlage berechtigterweise anzunehmenden Verdachts des Gerichts von der Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Straftatbegehung handelt. Dieser muss sich nunmehr soweit verdichtet haben, dass ernstzunehmende Bedenken der Verurteilung nicht weiter entgegenstehen. In der Folge bietet sich demjenigen, der sich die Frage nach der Abgrenzung von Verdachtsäußerung und Schuldfeststellung stellt, ein Bild voller Licht und Schatten: Was in der Theorie von bestechender Klarheit ist, droht in der Praxis, nahtlos ineinander überzugehen – und erschwert damit erheblich die Wahrung rechtsstaatlicher Vorgaben im Umgang mit dem Angeklagten eines Strafverfahrens.
Dieser Schwierigkeit entzieht sich freilich, wer bereits richterliche Verdachtsäußerungen in freisprechenden Urteilen als unvereinbar mit der Unschuldsvermutung brandmarkt.[53] So verleiht etwa Kühl der Unschuldsvermutung den Gehalt eines Verbots "strafähnlicher Diskriminierung", durch das auch derjenige, der seine Unschuld nicht beweisen kann, vor Belastungen durch die Urteilsgründe des Freispruchs geschützt werde.[54] Obgleich Verdachtsäußerungen staatlicher Organe im Verlauf eines Ermittlungsverfahrens den Beschuldigten diskriminieren, seien diese für die Verbrechensaufklärung unvermeidlich und daher gerechtfertigt.[55] Anders verhalte es sich jedoch in Bezug auf richterliche Verdachtsbekundungen in einem freisprechenden Urteil. Von dem Gericht werde lediglich erwartet, dass es sich eine Überzeugung im Hinblick auf die Schuld des Angeklagten bilde.[56] Verdachtsäußerungen seien mithin nach Abschluss des Verfahrens überflüssig, zumal sie nicht länger der Verbrechensaufklärung dienten – schließlich seien keine weiteren Aufklärungsmaßnahmen dahingehend vorgesehen. Vor diesem Hintergrund komme einer richterlichen Verdächtigung in den Gründen eines freisprechenden Urteils ein "Strafcharakter" zu: "(…) sie schafft nach Abschluß eines Strafverfahrens einen Schwebezustand für den Freigesprochenen, der ihn nicht von dem Odium des Verdachts, der Anlaß für das Strafverfahren war, befreit."[57] Für den Freigesprochenen ergebe sich hieraus eine strafähnliche Belastung, da entsprechende Verdachtsäußerungen "nahezu die gleiche Mißbilligung gerichtlicherseits zum Ausdruck bringen und gesellschaftlich bewirken, wie dies Verurteilungen tun."[58] Weil der Freigesprochene nicht mit dem "Makel" einer möglichen bzw. gar wahrscheinlichen Täterschaft belastet werden dürfe, haben entsprechende gerichtliche Äußerungen in den Urteilsgründen nach Kühl daher zu unterbleiben.
Allerdings verkennt Kühl in seiner Überbetonung des Schutzes vor jedweder Diskriminierung durch die Gründe eines freisprechenden Urteils deren hohe Bedeutung in der Legitimation des gesamten Verfahrens gegenüber dem Angeklagten und der Rechtsgemeinschaft. Wie an früherer Stelle betont, dienen die Ausführungen in den Urteilsgründen der Nachzeichnung des Entscheidungsfindungsprozesses seitens des Gerichts. Im Fall eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen heißt dies notwendig, dass das Gericht sich mit verbleibenden Verdachtsmomenten, die jedoch nicht zur Annahme eines rechtsgenügenden Beweises hingereicht haben, auseinandersetzen muss. Alternativ käme auf der Basis der Argumentation Kühls lediglich in Betracht, dass das Gericht zu den Gründen schweigt, die es zu seiner Entscheidung bewogen haben – oder aber gar Ausführungen vornimmt, die nicht dem wahren Verfahrensausgang entsprechen. Beides ist vor dem Hintergrund der rechtsstaatlich notwendigen Kommunikation zwischen dem Angeklagten und der Rechtsgemeinschaft nicht hinnehmbar.
In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass gerichtliche Verdachtsäußerungen in den Gründen des freisprechenden Urteils gegenüber dem Angeklagten eine Entlastungswirkung zeitigen: So enthalten sie gerade die Aussage, dass strafrechtliche Schuld nicht festgestellt werden konnte. Im Strafrecht kommt es aber ausschließlich darauf an. Für den Betreffenden erwächst aus der Durchführung eines Strafverfahrens gegen ihn, das letztlich in einem Freispruch geendet ist, nicht ein Anrecht auf die Wiederherstellung seines früheren "makellosen" Rufs.[59] Wer entsprechend argumentiert, dehnt den
Schutzumfang der strafrechtlichen Unschuldsvermutung unzulässig in einen vorstrafrechtlichen Bereich aus. Dem liegt in Bezug auf Kühl die (Fehl-)Vorstellung zugrunde, dass Zweck von Strafe die "sozialethische Missbilligung" des Täterverhaltens sei.[60] Wer die funktionale Bestimmung von Strafe dergestalt fasst, muss im Umkehrschluss den Geltungsbereich der Unschuldsvermutung seinerseits weit über den des Rechts ausdehnen. Allerdings ist der Annahme, Strafe müsse einen sozialethischen Tadel gegenüber dem Straftäter formulieren, entschieden entgegenzutreten.[61] Ein solches Unwerturteil über den Einzelnen entfernt sich in unzulässiger Weise von der mit Strafe berechtigterweise verfolgten staatlichen Aufgabenzuordnung. Der Tadel kann allenfalls seitens des Täters als (auch) sozialethischer empfunden werden – keinesfalls ist dies legitimatorisch intendiert: Die Kommunikation im Akt der Bestrafung ist ausschließlich auf den rechtlichen Bereich begrenzt.[62] In die Gefilde spezifischer Moralvorstellungen darf Strafe nicht vordringen, was im Umkehrschluss unter Wahrung des rechtsstaatlichen Erfordernisses inhaltlich zutreffender und umfassender Urteilsgründe ebenfalls für den Schutzumfang der Unschuldsvermutung gilt.
Für den potentiellen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung durch Ausführungen in den Gründen eines freisprechenden Strafurteils bleibt es damit bei der Maßgeblichkeit der Differenzierung zwischen bloßen Verdachtsbeschreibungen und (unzulässigen) Schuldfeststellungen. Gerade weil aber die Grenzziehung weniger eindeutig verläuft, als dies wünschenswert wäre, muss der Sinngehalt einer gerichtlichen Äußerung in den Urteilsgründen im Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher zur Verfügung stehender Informationen überprüft werden. Dabei kommt es in besonderem Maße auf die sprachliche Wendung an, deren sich das Gericht bedient.[63] Ist hier die Rede von "Schuld", kann dies ein starker Beleg dafür sein, dass es dem Gericht nicht lediglich um die Beschreibung eines verbleibenden Verdachts gegangen ist. Dennoch ist selbst in diesen Fällen Vorsicht geboten:[64] Durchaus denkbar erscheint, dass trotz der vermeintlich
eindeutigen Terminologie anderes gemeint ist, weshalb die Einbeziehung weiterer Anhaltspunkte, die einer Interpretation Raum lassen, nicht ausbleiben darf. Ohnedies greift zu kurz, wer sich in diesem Zusammenhang ausschließlich auf eine Sprachanalyse zurückzieht: Die hohe verfassungsrechtliche Relevanz der Unschuldsvermutung gebietet es, sich nicht von dem Fehlen bzw. Vorhandensein bestimmter Signalwörter leiten zu lassen, sodass sich selbst hinter einer ausdrücklichen Beschreibung der gerichtlichen Erwägungen als "Verdachtsschilderung" durchaus eine Schuldzuschreibung verbergen kann.
Von unweit größerem Interesse und vorrangig beachtlich ist es daher, den Sinngehalt der gerichtlichen Äußerungen näher zu beleuchten.[65] Hier kann es vor allem eine Rolle spielen, inwieweit sich in den Formulierungen rechtliche Überlegungen finden. Sofern etwa die Rede davon ist, dass bestimmte Tatsachen einem Tatbestandsmerkmal der jeweiligen Sanktionsnorm nicht genügen, spricht dies in besonderem Maße für die reine Schilderung eines verbleibenden Verdachts. Weiteren Aufschluss kann darüber hinaus eine Einbettung der Äußerung in den übrigen Inhalt der Urteilsgründe geben. Deren rein isolierte Betrachtung läuft immerhin Gefahr, den darin zum Ausdruck kommenden Bedeutungsgehalt zu verzerren. Dabei ist in Anbetracht der erheblichen Grundrechtsrelevanz der Unschuldsvermutung ein prinzipiell strenger Maßstab anzulegen. Im Vordergrund steht der Schutz des Einzelnen vor unzulässigen Eingriffen in sein durch Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährleistetes Recht.[66] Gleichwohl gilt es zu beachten, dass dem erkennenden Gericht immerhin die Möglichkeit gegeben werden muss, sich umfassend und in nachvollziehbarer Form mit dem gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurf und im Anschluss an die Beweiserhebung verbliebenen Verdachtsmomenten auseinanderzusetzen, ohne dass dabei eine unmittelbare Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK im Raum steht. Die inhaltlich ordnungsgemäße Fassung der Urteilsgründe entspricht ihrerseits einem rechtsstaatlichen Gebot, weshalb auf sie nicht zu Gunsten des Schutzes der Unschuldsvermutung verzichtet werden darf.[67]
Die bisherigen Ergebnisse decken sich im Wesentlichen mit den Ergebnissen des Gerichtshofs. Gleichwohl verdient die Entscheidung in Bezug auf die konkrete Anwendung der dargelegten Grundsätze auf die streitgegenständlichen Äußerungen des LG Münster Kritik. Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung ist darin entgegen der Auffassung des Gerichtshofs nicht zu sehen.
Zur Erinnerung: Im Hinblick auf die Äußerung des LG Münster in seinen Urteilsgründen ist der Gerichtshof der Auffassung, diese ginge über eine reine Beschreibung verbleibender Verdachtsmomente hinaus und käme vielmehr einer Schuldfeststellung gleich. Grund dafür sei vor allem die klare und bedingungslose Formulierung, deren sich das LG Münster bediene. Diese erwecke im Kontext des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs den Eindruck, der Beschwerdeführer sei dieser Tat schuldig. Freilich ist dem Gerichtshof insoweit zuzustimmen, als der Bekundung des LG Münster, es gehe im Ergebnis davon aus, "dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist", ein eindeutiger Erklärungsgehalt zukommt. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass vorab "Anhaltspunkte einer Suggestion" in der Aussage der Zeugin als "nicht ersichtlich" abgelehnt werden.
Indessen streitet der Umstand einer klaren und bedingungslosen Formulierung eines Geschehenssachverhalts nicht für sich genommen für deren Klassifizierung als Schuldfeststellung bzw. als einer solchen entsprechend. Vielmehr kommt eine solche ausschließlich dann in Betracht, wenn sich die Überzeugung des Gerichts auf eine strafrechtlich relevante Schuld bezieht. Folglich müsste sich für die Annahme einer Schuldfeststellung aus der betreffenden Äußerung in den Urteilsgründen ergeben, dass das Gericht von der Erfüllung eines Straftatbestandes durch den Angeklagten ausgegangen ist. Bezieht sich die gerichtliche Überzeugung hingegen lediglich darauf, dass der Angeklagte ein Verhalten vorgenommen hat, das – trotz denkbarer Missbilligung – immerhin nicht mit Strafe bewehrt ist, so liegt hierin selbst bei besonders klarer Formulierung allein ein Verdacht.[68] Insoweit darf nicht
der Fehler unterlaufen, die Annahme eines bloßen Verdachts stets an eine offene, verbleibende Unsicherheiten einpreisende sprachliche Wendung zu knüpfen. Wer so verfährt, übersieht den maßgeblichen Bezugspunkt sowohl eines Verdachts als auch einer Überzeugung des Gerichts im Strafurteil: Die Begehung einer Straftat. Zwar beruht der Verdacht bezüglich eines spezifischen Verhaltens lediglich auf einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die aber nicht einen solchen Grad erreicht, dass der rechtsgenügende Beweis erbracht ist. Diese graduelle Differenzierung zwischen Verdacht und Überzeugung im Hinblick darauf, ob sich ein bestimmtes Tun oder Unterlassen tatsächlich ereignet hat, bezieht sich aber im Strafurteil unweigerlich auf die Erfüllung der Voraussetzung einer Sanktionsnorm seitens des Täters. Wenn also "klar und bedingungslos" seitens des Gerichts in seinen Gründen formuliert wird, liegt hierin lediglich dann eine Schuldfeststellung, wenn diese sich auf die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten richtet.
In der dem Gerichtshof vorliegenden Entscheidung sprechen indes gewichtige Gründe gegen die Annahme, dass sich aus der umstrittenen Äußerung des LG Münster die Feststellung strafrechtlich relevanter Schuld des Angeklagten ableiten lässt. Dies ergibt sich zunächst aus der Verwendung des Begriffs des sexuellen "Übergriffs" seitens des LG Münster. Wie schon der Gerichtshof zutreffend einräumt, handelt es sich hierbei nicht um einen rechtlichen Terminus. Insbesondere findet er sich nicht in den entscheidungserheblichen Vorschriften der §§ 174, 176a StGB. Hingegen spricht das Gesetz an dieser Stelle von sexuellem "Missbrauch" bzw. dem jeweils erforderlichen Tatbestandsmerkmal der "sexuellen Handlung". Folglich war das Gericht bereits in seiner Formulierung darauf bedacht, nicht den Anschein einer Schuldfeststellung zu erwecken, sondern vielmehr dem Umstand Ausdruck zu verleihen, dass es aus seiner Sicht zwar seitens des Angeklagten zu einem sexualbezogenen Verhalten gegenüber seiner Tochter gekommen ist, dieses aber gerade nicht mit der eine Verurteilung tragenden Sicherheit die Voraussetzungen der einschlägigen Sanktionsnormen erfüllt.
Für diese Einstufung der umstrittenen Äußerung des LG Münster lässt sich weiter ins Feld führen, dass das Gericht darin rechtliche Ausführungen vornimmt, die gegen die Annahme strafrechtlich relevanter Schuld sprechen. Demzufolge ließen sich die Taten insbesondere ihrer Intensität nach nicht "in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren". Somit nimmt das LG Münster an dieser Stelle eindeutig Bezug auf die Legaldefinition der sexuellen Handlung, die sich in § 184g Nr. 1 StGB findet. Sexuelle Handlungen sind danach nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut einige Erheblichkeit aufweisen. Indem das Gericht in seiner umstrittenen Äußerung darlegt, dass es nicht von einem Überschreiten der für eine sexuelle Handlung erforderlichen Erheblichkeitsschwelle ausgeht, trifft es gerade die notwendige Unterscheidung gegenüber lediglich außerstrafrechtlichen Geschehnissen. Kurz: Weil das Gericht keine strafrechtlich relevante Schuld des Angeklagten feststellen konnte, bezieht sich seine – zugegeben eindeutige – Äußerung lediglich auf ein Verhalten, das für die strafrechtliche Bewertung außer Acht gelassen werden muss. In der Formulierung des LG Münster liegt damit lediglich die Begründung eines verbleibenden Verdachts: in Bezug auf eine Straftatbegehung durch den Angeklagten ist es trotz entsprechender Anhaltspunkte in der Aussage der Zeugin bei einem bloßen Verdacht geblieben.
Eine abweichende Beurteilung folgt entgegen der Auffassung des Gerichtshofs nicht aus dem Kontext, in dem die umstrittene Äußerung getroffen wurde. Selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sie im Zusammenhang mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs erfolgt ist, ändert sich nichts daran, dass die Formulierung keiner Schuldfeststellung gleichkommt. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer vor dem LG Münster betraf gerade den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs. Insofern handelte es sich dabei um den allein denkbaren Kontext, in dem die angegriffene Formulierung hätte getroffen werden können. In einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs Äußerungen zu diesem Tatvorwurf unterlassen zu müssen, garantierte zwar einen erhöhten Schutz der Unschuldsvermutung, liefe aber sonstigen rechtsstaatlichen Geboten – wie etwa der Begründung eines freisprechenden Urteils – eklatant zuwider. Der entsprechende Einwand des Gerichtshofs kann daher angesichts der notwendigen Harmonie zwischen verschiedenen rechtsstaatlichen Vorgaben im Umgang mit dem einem Strafverfahren Unterworfenen nicht überzeugen.
Abschließend bleibt es dabei: In seiner umstrittenen Äußerung gelingt dem LG Münster die notwendige Differenzierung zwischen verbleibenden Verdachtsmomenten und dem Fehlen eines rechtsgenügenden Beweises im Hinblick auf die Schuld des Angeklagten. In der klaren und bedingungslosen Formulierung des Gerichts liegt mitnichten eine "unglückliche" sprachliche Wendung. Vielmehr bezieht sich die Aussage allein auf ein Verhalten, das keine strafrechtliche Relevanz aufweist. Dieser Erklärungsgehalt ist der Äußerung nicht zuletzt aus dem Grund eindeutig zu entnehmen, da das Gericht anschließend beschreibt, welche Umstände der sich ihm bietenden Beweislage gegen eine Verurteilung gesprochen haben. Darin wird deutlich, dass das Gericht keine Überzeugung gewonnen hat, die für die Feststellung strafrechtlich relevanter Schuld erforderlich ist. Seine Ausführungen beinhalten infolgedessen lediglich einen verbleibenden Zweifel, was in vollem Umfang mit den Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 EMRK in Einklang steht.
Dem bisherigen Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer außerhalb des strafrechtlichen Verfahrens negative Konsequenzen infolge der umstrittenen Äußerung hat hinnehmen müssen. Die Rede ist hier vorrangig von der Einbeziehung der Urteilsgründe des LG Münster in die Entscheidung des Familiengerichts, das dem Beschwerdeführer den Umgang mit seiner Tochter untersagt hat.[69] Der Gerichtshof führt in diesem Zusammenhang aus, die Unschuldsvermutung schütze "den Freigesprochenen oder von einer Einstellung Betroffenen auch davor, dass staatliche Stellen ihn so behandeln, als habe er die Tat tatsächlich begangen."[70] Ausdrücklich umfasst sei davon auch das familienrechtliche Sorgerechtsverfahren, worin der freisprechende Tenor des Strafurteils zu beachten sei.
An dieser Stelle ist nicht der Raum, auf die Grundsätze des familienrechtlichen Sorgerechtsverfahrens einzugehen. In Bezug auf die hier diskutierte Problematik einer potentiellen Verletzung der Unschuldsvermutung durch die umstrittene Äußerung des LG Münster ist allerdings festzuhalten, dass sich aus der (unzulässigen) Heranziehung der Urteilsgründe durch sonstige staatliche Stellen keine von den bereits aufgestellten Grundsätzen abweichenden Kriterien für die ordnungsgemäße Fassung der Gründe ergeben.[71] Das Strafgericht ist über diese hinausgehend nicht gehalten, seine Formulierung an denkbare sonstige rechtliche Konsequenzen für den Angeklagten anzupassen und aus diesem Grund etwa die Schilderung verbleibender Verdachtsmomente zu unterlassen. Freilich ließe sich in diesem Kontext die Frage aufwerfen, ob es dem Strafgericht zusteht, Feststellungen zu treffen, die unterhalb des strafrechtlich relevanten Niveaus liegen, gleichwohl aber Negativkonsequenzen für den Betreffenden zeitigen können. Nach dem bereits Gesagten folgt aber Gegenteiliges jedenfalls nicht aus der Unschuldsvermutung, die anderenfalls auf den vorstrafrechtlichen Bereich ausgedehnt würde.[72] Im Gegenteil überwiegt gegenüber dem Bedürfnis des Einzelnen nach einer durch Urteilsgründe unter Beweis gestellten "reinen Weste" das rechtsstaatliche Interesse an einer zutreffenden und umfassenden Begründung des Richterspruchs. Ohnehin kann sich der Einzelne gesondert rechtlich zur Wehr setzen, sofern ihm zu Unrecht aus den Gründen des Strafurteils negative Konsequenzen durch andere staatliche Stellen erwachsen.
Wie der Schuldspruch weisen sonstige Schuldfeststellungen in den Urteilsgründen einen eigenständigen Eingriffscharakter auf, da sie wesentlicher Teil der Kommunikation mit dem Angeklagten sind und ihm vor Augen führen, dass die Rechtsgemeinschaft sich gegen seine in der Straftat zum Ausdruck kommende Rechtsanmaßung wendet. Im Fall einer Verurteilung kann sich daher eine Verletzung der Unschuldsvermutung aus Äußerungen in den Urteilsgründen ergeben, die einen strafrechtlich relevanten Verhaltensvorwurf formulieren, der über den Verurteilungsgegenstand hinausgeht. Für aus Mangel an Beweisen freisprechende Urteile kommt daneben ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK in Betracht, sofern das Gericht in seinen Gründen Ausführungen trifft, die nicht lediglich einen verbleibenden Verdacht bekunden, sondern Schuld feststellen bzw. einer solchen Schuldfeststellung gleichkommen. Zwar können bereits Verdachtsäußerungen den Freigesprochenen belasten. Aus der Unschuldsvermutung folgt indes nicht ein Anrecht des Einzelnen, bei einem Freispruch aus Mangel an Beweisen von jedwedem verbleibenden Verdacht befreit zu werden. Im Gegenteil überwiegt in diesem Zusammenhang das rechtsstaatliche Interesse an der umfassenden Begründung des finalen Richterspruchs, das nicht zuletzt den schutzwürdigen Interessen des Angeklagten selbst Rechnung trägt. Insoweit darf nicht in Vergessenheit geraten, dass die Urteilsgründe neben der Urteilsformel die relevante Funktion der Kommunikation mit dem Angeklagten über den ihm von staatlicher Seite unterbreiteten Vorwurf einnehmen. Vor diesem Hintergrund verdient die Entscheidung des Gerichtshofs in ihren allgemeinen Ausführungen Zustimmung. Anders verhält es sich jedoch im Hinblick auf die konkrete Anwendung dieser Prinzipien auf die umstrittenen Äußerungen des LG Münster. Entgegen der Einschätzung des Gerichtshofs liegt hierin keine Schuldfeststellung, sondern eine bloße Darlegung verbleibender Verdachtsmomente. Dem steht
selbst die für den Beschwerdeführer nachteilige Entscheidung im sorgerechtlichen Verfahren nicht entgegen: Für den – dem LG Münster gelungenen – Spagat zwischen (zulässigen) Verdachtsäußerungen und (unzulässigen) Schuldfeststellungen in einem freisprechenden Urteil ergeben sich daraus keine abweichenden Maßstäbe.
[1] Übersetzung nach Gaede, s. Leitsätze zu EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 13.
[2] Darüber hinaus führte der Beschwerdeführer an, von ihm initiierte Verfahren gegen die Mutter seiner Tochter seien seitens der zuständigen Strafverfolgungsbehörde unter Rekurs auf die umstrittene Äußerung in den Urteilsgründen des LG Münster beendet worden. Zudem bleibe er infolge dieser Formulierung dauerhaft in den Augen der Öffentlichkeit stigmatisiert, EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 48.
[3] S. EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 31, 49 ff.
[4] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 35. S. ferner EuGRZ 1987, 399, 403 (Lutz/Deutschland).
[5] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 38.
[6] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 37.
[7] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 54.
[8] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 55. S. bereits EuGRZ 1983, 475 (Minelli/Schweiz).
[9] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 36, 63: Insoweit bestünden gewisse Überschneidungen der Schutzbereiche von Art. 6 Abs. 2 und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens); s. ferner bereits EGMR NJOZ 2014, 1834, 1836 (Allen/Vereinigtes Königreich).
[10] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 36; NJOZ 2014, 1834, 1836 (Allen/Vereinigtes Königreich).
[11] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 57 ff.
[12] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 63.
[13] EGMR HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 65.
[14] S. nur den Überblick bei EGMR NJOZ 2014, 1834, 1836 f. (Allen/Vereinigtes Königreich); zur Rechtsprechung des BVerfG etwa NJW 1990, 2741 m.w.N. Vgl. ferner Demko HRRS 2007, 286 ff.
[15] In EGMR NJW 2015, 37 (Karaman/Deutschland) geht es noch um die Gründe eines Strafurteils, das in einem Strafverfahren gegen Mitverdächtige des Beschwerdeführers ergeht.
[16] Vgl. zur bisherigen Rechtsprechung etwa EGMR NJW 1988, 3257, 3258 (Englert/Deutschland); NJW 2006, 1113, 1114 (L./Deutschland); NJW 2011, 1789 (Poncelet/Belgien) sowie die Zusammenfassung in NJOZ 2014, 1834, 1836 (Allen/Vereinigtes Königreich) einschließlich der dortigen Entscheidung. Vgl. außerdem zur potentiellen Verletzung der Unschuldsvermutung durch die Entscheidungsgründe eines Einstellungsbeschlusses BVerfG NJW 1987, 2427; NStZ 1990, 598, 599.
[17] S. zur Differenzierung von Verdachtsäußerungen gegenüber Schuldfeststellungen bereits EGMR EuGRZ 1982, 297, 302 (Adolf/Österreich); EuGRZ 1987, 399, 403 (Lutz/Deutschland); EuGRZ 1987, 410, 414 (Nölkenbockhoff/Deutschland); NJW 1988, 3257, 3258 (Englert/Deutschland); NJOZ 2014, 1834, 1838 f. (Allen/Vereinigtes Königreich); EuGRZ 1983, 475 (Minelli/Schweiz). Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Westerdiek EuGRZ 1987, 393 ff.
[18] EGMR EuGRZ 1980, 667, 674 (Deweer/Belgien); NStZ 2004, 159, 160 (Böhmer/Deutschland) m.w.N. S. ferner BVerfG NJW 1987, 2427. Zur Kritik an dieser Einordnung vgl. SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl. (2012), Art. 6 Rn. 175 m.w.N.
[19] BVerfGE 22, 254, 265; 82, 106, 114; BVerfG NJW 1987, 2427; NJW 1990, 2741; NStZ-RR 1996, 45, 46. S. ferner Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 58. Aufl. (2015), Art. 6 MRK Anh. 4 Rn. 12; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 18), Art. 6 Rn. 176; dens., Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 58 ff.; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung (1998), S. 546.
[20] Satzger/Schluckebier/Widmaier/Beulke, StPO, Strafprozessordnung, Kommentar, 1. Aufl. (2014), Einleitung Rn. 60; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung (Fn. 19), Art. 6 MRK Anh. 4 Rn. 12; Graf/Valerius, Strafprozessordnung, 2. Aufl. (2012), Art. 6 EMRK Rn. 31.
[21] BVerfG NJW 1987, 2427, 2428; NJW 1990, 2741; BGH NJW 1975, 1829, 1831.
[22] In diesem Sinne bereits Stuckenberg, Untersuchungen (Fn. 19), S. 521, 531.
[23] S. BVerfG NJW 1973, 1226, 1230; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 18), Art. 6 Rn. 182 m.w.N. sowie der zutreffenden Auffassung, dass ein Geständnis den Eintritt der Rechtskraft nicht ersetzen kann. Vgl. EGMR NJOZ 2014, 1834, 1837 (Allen/Vereinigtes Königreich).
[24] HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 38.
[25] Vgl. dazu Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983), S. 16 ("Der Schuldspruch hat insofern selbständige, strafende Bedeutung, als er mehr ist als eine bloße Voraussetzung des eigentlichen Strafausspruchs."); Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz I, 2. Aufl. (1964), Rn. 318; Tiedemann, Entwicklungstendenzen der strafprozessualen Rechtskraftlehre (1969), S. 16 f. ("Repressivwirkung bereits des Schuldspruchs").
[26] Die Formulierung lehnt sich an Stuckenberg JZ 2015, 714, 715 m. Fn. 9 an.
[27] S. ausführlich dazu Timm, Gesinnung und Straftat – Besinnung auf ein rechtsstaatliches Strafrecht (2012), S. 55 ff. So auch Freund, in: Wolter/Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem (1996), S. 43, 48 f.; ders. GA 1995, 4, 7 f.; Frisch, in: Canaris u. a., 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV (2000), S. 269, 278 f., 307; ders., in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (1993), S. 1, 20 ff.; Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (2010), S. 52, 156, 167; Hegel, Werke 7., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. v. Moldenhauer, 1. Aufl. (1986), § 97 ff.; Jakobs, in: Neumann/Schulz, Verantwortung in Recht und Moral (2000), S. 57, 59 f.; ders., in: Siller/Keller, Rechtsphilosophische Kontroversen der Gegenwart (1999), S. 135 ff.; ders., Norm, Person, Gesellschaft – Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie (1997), S. 111 ff.
[28] Diese zusätzliche Folge ist nicht zwingend, wie allein die Vorschrift des § 59 StGB zur Verwarnung mit Strafvorbehalt eindrucksvoll zeigt. S. dazu noch unten Fn. 30.
[29] BeckOK/StGB/Heintschel-Heinegg, § 60 Rn. 2 (Stand: 08.02.2015).
[30] Zutreffend weist Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 17 f. in Bezug auf § 59 StGB darauf hin, dass die Zielsetzung des Gesetzgebers, den zu Verwarnenden vom Strafmakel freizuhalten, insoweit nicht aufgegangen ist, als bereits in dem Schuldspruch ein "pönales Element" liegt, das die Missbilligung der Tat zum Ausdruck bringt – die Missbilligung fällt mithin lediglich weniger erheblich aus als bei zusätzlicher Verhängung eines (ggf. zur Bewährung ausgesetzten) Strafübels. Ebenso zutreffend führt er zu § 60 aus, dass das darin vorgesehene "Schuldigsprechen" seinerseits ein Unwerturteil über das Verhalten des Täters beinhaltet; so bereits Maiwald ZStW 83 (1971), 663, 680. Insoweit zustimmend Wagner GA 1972, 34, 36.
[31] Offenbar möchte selbst Stuckenberg der Strafe ihren Vorwurfscharakter nicht absprechen. Sofern nämlich, wie Stuckenberg JZ 2015, 714, 715 m. Fn. 9 selbst ausführt, "das Gewicht der Strafe (…) in der Größe der Rechtseinbuße" liegt, "die das Maß des gesellschaftlichen Tadels verkörpert", wird deutlich, dass es sich bei dem jeweiligen Übel in Gestalt von Freiheits- oder Geldstrafe lediglich um eine fühlbare Umsetzung und nachdrückliche Verstärkung des mit dem Schuldspruch erhobenen rechtlichen Vorwurfs selbst handelt. Dann kann aber der Schuldspruch nicht bloße Voraussetzung von Freiheits- oder Geldstrafe als Rechtsfolge sein. S. dazu bereits Freund/Rostalski JZ 2015, 164 f. sowie 716 f.
[32] Dabei kommt es im Übrigen auch nicht darauf an, ob der Betreffende den Widerspruch subjektiv als erschütternd wahrnimmt oder nicht. Mit Stuckenbergs JZ 2015, 714, 715 Rekurs darauf, wie "robustere Gemüter" oder "zunftstolze Berufskriminelle" die öffentliche Missbilligung des Schuldspruchs subjektiv empfinden, ließe sich selbst der Strafcharakter von Freiheitsstrafe in Abrede stellen: Immerhin könnte der eine oder andere "Berufskriminelle" diese als Adelung seiner Person wahrnehmen oder aber als erwünschte räumliche Zusammenkunft mit Gleichgesinnten oder – in Orientierung an dem bekannten Schlagwort von Strafanstalten als "Hochschulen des Verbrechens" (v. Liszt, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 1 (1905), S. 290, 347) – sogar als Qualifizierungsstation der eingeschlagenen kriminellen Laufbahn. S. insoweit schon Freund/Rostalski JZ 2015, 716, 717.
[33] S. zu der für die Rechtsmitteleinlegung bedeutsamen "Beschwer" bereits durch den (bloßen) Schuldspruch etwa Kaiser, Die Beschwer als Voraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel (1993), S. 159 f.: "An der Existenz einer Norm, die einen Schuldspruch nur bei Vorliegen seiner gesetzlichen Voraussetzungen, insbesondere also Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, erlaubt, kann in Anbetracht des nullum-crimen-Satzes kein Zweifel bestehen. Auch eignen dem Schuldspruch[…]die für die Zulassung eines Rechtsmittels erforderlichen Rechtswirkungen[…]: Mit dem Eintreten materieller Rechtskraft kommt der Schuldspruchentscheidung eine Feststellungswirkung in bezug auf die Schuld (sowie gegebenenfalls eine entsprechende Gestaltungswirkung in bezug auf die Rechtsstellung des Angeklagten) zu."
[34] Insoweit stellt bereits BVerfG NJW 1987, 2427 in Bezug auf Schuldfeststellungen in den Entscheidungsgründen eines Einstellungsbeschlusses zutreffend fest: "Ein derartiger richterlicher Spruch zur Schuldfrage hat Gewicht, auch wenn er dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht vorgehalten werden darf." S. außerdem Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 20; BVerfGE 28, 151, 160 f. Ablehnend freilich Paulus NStZ 1990, 600, der meint, bei Einstellungsentscheidungen nach §§ 153, 153a StPO werde nicht eine etwaige Schuldzuweisung, sondern lediglich die Auferlegung von Kosten- und Auslagengebühren als beschwerend empfunden. Er liegt damit auf einer Linie mit der Position Stuckenbergs zum Schuldspruch, weshalb ihm seinerseits die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik entgegen zu halten ist.
[35] Den Verfahrensbeteiligten soll gezeigt werden, dass Recht gesprochen wurde, s. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. (2014), § 50 Rn. 4 (vgl. dort auch zu den weiteren Funktionen der Urteilsgründe); Peters, Strafprozeß, Ein Lehrbuch, 3. Aufl. (1981), S. 450. Vgl. allgemein in diesem Sinne Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1187.
[36] Vgl. Pfeiffer, Strafprozeßordnung, 5. Aufl. (2005), § 267 Rn. 1.
[37] Vgl. dazu Pfeiffer, Strafprozeßordnung (Fn. 36), § 267 Rn. 2. S. BGH NJW 1985, 1089 f.; NStZ 1992, 49, 50; NJW 1982, 589; NStZ-RR 2000, 304. Freilich sind hier wiederum keine überzogenen Anforderungen an die Verständlichkeit der Gründe zu stellen: Das Urteil muss aus sich heraus nachvollziehbar sein, nicht aber jedwedem (un-)denkbaren Missverständnis begegnen.
[38] Gemäß § 268 StPO bildet auch die Urteilsverkündung eine Einheit, die sich aus der Verlesung der Urteilsformel und der Eröffnung der Urteilsgründe zusammensetzt. In der Konsequenz wird der Angeklagte mehrheitlich als bei der Verkündung nicht anwesend erachtet, sofern er sich nach Verlesung der Urteilsformel vor dem Ende der Eröffnung der Urteilsgründe aus dem Saal entfernt hat, BGH NStZ 2000, 498; OLG Stuttgart NStZ 1986, 520; ablehnend freilich Paulus NStZ 1986, 521 unter Hinweis darauf, dass dem Angeklagten eine Verzichtsmöglichkeit zusteht, die ein Anwesenheitsurteil auch bei vorzeitiger Entfernung zur Folge hat.
[39] Anders verhält es sich ausschließlich in den in § 267 Abs. 4, 5 S. 2 StPO enthaltenen Konstellationen, die die Möglichkeit der Abfassung verkürzter Urteilsgründe vorsehen. Voraussetzung dafür ist entweder der Verzicht aller zur Anfechtung Berechtigten auf ein Rechtsmittel oder das Unterlassen einer Rechtsmitteleinlegung innerhalb der dafür vorgesehenen Frist. Freilich liegt dies auf einer Linie mit dem im Text Gesagten: In den gesetzlich normierten Fällen ist von einer (immerhin konkludenten) Zustimmung der Beteiligten mit der verkürzten Fassung der Urteilsgründe auszugehen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass eine Zustimmung allein auf der Basis der Einsicht in die für die Entscheidung des Gerichts sprechenden Gründe erfolgt. Der im Urteil zum Ausdruck kommende Vorgang der Kommunikation ist mithin bereits im Wege der Verkündung der Urteilsgründe erfolgreich gewesen, weshalb auf deren vollständige schriftliche Abfassung verzichtet werden kann. – Kritisch zu abgekürzten Urteilsgründen, Peters, Strafprozeß (Fn. 35), S. 456.
[40] S. Timm, Gesinnung und Straftat (Fn. 27), S. 66.
[41] S. dazu bereits die Nachweise oben Fn. 23.
[42] Vgl. zum – problematischen – prozessualen Tatbegriff der Rechtsprechung etwa RGSt 5, 249, 250 f; BGHSt 10, 396, 397; 23, 141, 144 f.; 35, 60, 61 f.; 45, 211, 212 f.
[43] In beiden Fällen würde das Verfahrensergebnis nachträglich entwertet, indem sich das Gericht in Widerspruch zu seiner tenorierten Entscheidung setzt (Stuckenberg, Untersuchungen[Fn. 19], S. 531 benennt dieses Kriterium als einen wesentlichen Schutzaspekt der Unschuldsvermutung).
[44] In Abhängigkeit von dem Anklagevorwurf bedarf es ggf. vorab des Verfahrens nach § 266 StPO.
[45] Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht (Fn. 35), § 11 Rn. 1. S. freilich SK-StPO/Paeffgen (Fn. 18), Art. 6 Rn. 183 dazu, dass keine Identifizierung der Unschuldsvermutung mit dem in dubio-Grundsatz besteht.
[46] S. etwa BGH NStZ 2009, 512 = HRRS 2009 Nr. 480; NStZ 2010, 529 = HRRS 2010 Nr. 449; NStZ-RR 2013, 117 f. = HRRS 2013 Nr. 210; Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung/Kuckein, 7. Aufl. (2013), § 267 Rn. 41 m.w.N.
[47] BGH Urt. v. 3.8.2011 – 2 StR 167/11 = BeckRS 2011, 21912 = HRRS 2011 Nr. 1052; BeckOK/StPO/Peglau, § 267 Rn. 51 (Stand: 15.01.2015).
[48] BGHSt 15, 155, 158; BeckOK/StPO/Gorf, § 170 Rn. 2 ff. m.w.N. (Stand: 15.01.2015).
[49] BGHSt 38, 276, 278; Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung/Graf, 7. Aufl. (2013), § 112 Rn. 3.
[50] BGH NJW 1951, 122; s. dazu BeckOK/StPO/Eschelbach, § 261 Rn. 42 m.w.N. (Stand: 15.01.2015).
[51] S. zur ausführlichen Kritik Freund, Meyer-Goßner-FS (2001), S. 409 ff.
[52] BGH NJW 1951, 83; NJW 1951, 122. Vgl. insoweit bereits Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Fn. 25), Rn. 373.
[53] Appl, Die strafschärfende Verwertung von nach §§ 154, 154a StPO eingestellten Nebendelikten und ausgeschiedenen Tatteilen bei der Strafzumessung (1987), S. 175 f.; Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 21 ff.; ders. NJW 1984, 1264, 1268; Vogler ZStW 89 (1977), 761, 784 ff. In diese Richtung ferner Peters, Strafprozeß (Fn. 35), S. 457, der die Feststellung, dass der Freispruch lediglich mangels Beweises erfolgt, für unzulässig erachtet. In Bezug auf Einstellungsentscheidungen ausdrücklich zustimmend Demko HRRS 2007, 286, 290; Haberstroh NStZ 1984, 289, 294. – Weniger eindeutig formuliert Stuckenberg, Untersuchungen (Fn. 19), S. 538, der zwar für den Fall, dass die Straffolge nicht herbeigeführt werden kann, eine "möglichst vollständige Rehabilitierung" fordert, "um den schon mit der Verdächtigung eines Bürgers unweigerlich verbundenen Makel zu tilgen", sich aber nicht explizit gegen gerichtliche Verdachtsäußerungen in den Gründen eines freisprechenden Urteils ausspricht. Angesichts des rechtsstaatlichen Gebots der Abfassung von Urteilsgründen, die dem wahren Verfahrenshergang entsprechen, liegt diese Option offensichtlich nicht im Bereich des Möglichen.
[54] Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 23. – Vgl. Stuckenberg, Untersuchungen (Fn. 19), S. 493 zu der zutreffenden Kritik, dass in der Konzeption Kühls eine Vielzahl nicht strafrechtlicher Eingriffe trotz deren unumstritten diskriminierender Wirkung unbeachtet bleibt.
[55] Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 25; ders. NJW 1984, 1264, 1268. S. zur Belastungswirkung des Verdachts ferner Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1218 f. sowie Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld (1979), S. 113 (hier freilich auf die absolutio ab instantia bezogen).
[56] Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 26.
[57] Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 27.
[58] Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 29.
[59] Insoweit ist auch die Rechtsprechung des EGMR zu kritisieren, die der Wahrung des Rufs des Beschuldigten eine Bedeutung im Geltungsbereich des Art. 6 Abs. 2 EMRK einräumt, s. nur HRRS 2015 Nr. 425, Rn. 36.
[60] Kühl, Unschuldsvermutung (Fn. 25), S. 24 ff. Kritisch äußert sich insoweit auch Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts (1988), S. 91.
[61] Dafür, dass Strafe einen Tadel gegenüber dem Straftäter enthält, spricht sich nachdrücklich Duff, in: Schünemann u.a., Positive Generalprävention, Kritische Analysen im deutsch-englischen Dialog (1996), S. 181, 189 aus. Vgl. außerdem Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, Zu den Legitimationsbedingungen von Schuldspruch und Strafe (1992), S. 86; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 114 ff.; dies./v. Hirsch GA 1995, 261, 275; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte (1989), S. 154; v. Hirsch ZStW 94 (1982), 1048, 1069 ff. S. zur sozialethischen Missbilligung des Täterverhaltens verkörpert im Strafausspruch noch BVerfGE 96, 245, 249 m.w.N.; BVerfG NJW 2004, 739, 744 = HRRS 2004 Nr. 166; BGH NJW 2000, 1427, 1427; Kühl ZStW 116 (2004), 870, 876 ff.; dens., Lampe-FS (2003), S. 439, 441 f. sowie die Ausführungen und Fülle an Nachweisen bei Frisch, in: Schünemann u.a., Positive Generalprävention, Kritische Analysen im deutsch-englischen Dialog (1996), S. 125, 134 m. Fn. 63, 57; Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, Zur Ausübung hoheitlicher Gewalt durch Staatsanwaltschaft und erkennendes Gericht im deutschen Strafverfahren (2008), S. 244 ff. insb. m. Fn. 37 ff., der sich selbst freilich dagegen ausspricht, in staatlicher Strafe einen Tadel "im Namen der Sozialethik" zu sehen. In diese Richtung äußern sich kritisch bereits Ellscheid/Hassemer, in: Lüderssen u.a., Seminar: Abweichendes Verhalten II, Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Band 1. Strafgesetzgebung und Strafrechtsdogmatik (1975), S. 266 ff., 281 ff. Ohnedies ist selbst bei Verwendung der Begrifflichkeit des "sozialethischen" Tadels nicht pauschal der Vorwurf einer Moralisierung durch Strafe zu erheben, sondern im Einzelfall die Wahrung der notwendigen Grenzziehung zwischen Moral und Recht zu prüfen (beispielsweise verwendet Hörnle, Schünemann-FS (2014), 93, 104 die Begriffe Tadel und Vorwurf synonym und lässt dabei keine Ethisierung des Rechts erkennen). Der Terminus kann sich dabei gleichwohl immerhin als störend auswirken: Geht es dem jeweiligen Autor allein um die rechtliche Missbilligung eines Verhaltens, ist insoweit auch eine sprachlich eindeutige Kennzeichnung vorzugswürdig. Die Rede vom sozialethischen Tadel erfüllt dieses Credo aber nicht in optimaler Weise.
[62] In diesem Zusammenhang ist die scharfe Kritik seitens Haas, Strafbegriff (Fn. 61), S. 244 ff., insbesondere S. 258 f. an der Redeweise von einer "sozialethischen Missbilligung" des Täters bzw. eines "Tadels" seiner Person lehrreich. S. ferner Grünewald, Grundkonzeption der Tötungsdelikte, in: Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte, S. 477, 493. – Zur notwendigen Trennung von Recht und Moral s. bereits Timm, Gesinnung und Straftat (Fn. 27), S. 68 ff. mit den dortigen Nachweisen.
[63] S. EGMR NJOZ 2014, 1834, 1838 f. (Allen/Vereinigtes Königreich) mit den dortigen Nachweisen zur Rechtsprechung des Gerichtshofs; NJW 2015, 37, 39 (Karaman/Deutschland). Vgl. auch BVerfG NJW 1990, 2741, 2742; NStZ 1992, 289, 290 (keine reine Verdachtsäußerung bei der wiederholten Formulierung, die Verurteilung des Beschwerdeführers sei "nicht zweifelhaft"). S. zu öffentlichen Äußerungen der Ermittlungsbehörden bei laufenden Ermittlungsverfahren SK-StPO/Paeffgen (Fn. 18), Art. 6 Rn. 201.
[64] Vgl. EGMR NJOZ 2014, 1834, 1836 (Allen/Vereinigtes Königreich): "Je nach der Art des Verfahrens und des Zusammenhangs ist aber auch eine unglückliche Wortwahl möglicherweise nicht entscheidend." Ebenso wiederum EGMR NJW 2015, 37, 39 (Karaman/Deutschland). S. ferner BVerfG NJW 1990, 2741, 2743, das selbst bei der Formulierung, die Schuld des Angeschuldigten sei "in hohem Maße wahrscheinlich" keine Verletzung der Unschuldsvermutung annimmt. Vgl. aber in diesem Zusammenhang das kritische Sondervotum des Richters Mahrenholz NJW 1990, 2741, 2743, der zutreffend ausführt, dass eine reine Analyse sprachlicher Formulierungen in der Rechtsprechung deutscher Gerichte sowie des EGMR keine einheitliche Linie zu Tage bringt. Jedenfalls die Verwendung des Begriffs der Schuld steht seiner Auffassung nach der Klassifizierung einer gerichtlichen Äußerung als bloße Verdachtsbeschreibung entgegen. So auch Kühl NJW 1984, 1264, 1268. Folgerichtig kritischer nunmehr BVerfG, Beschluss vom 28.03.2006 – 2 BvR 2059/05 (BeckRS 2006, 22728), das annimmt, die Formulierungen "Schuldnachweis" und "Schuldfeststellung" verböten sich "wegen ihrer auf der Hand liegenden Missverständlichkeit". S. allgemein zur wechselhaften Judikatur des Gerichtshofs in Sachen Prüfkriterien zur Abgrenzung von Tatverdacht und Schuldfeststellung den ausführlichen Überblick bei Demko HRRS 2007, 286, 288 ff.
[65] BVerfG NJW 1990, 2741, 2742; BVerfG NStZ 1992, 289, 290. Freilich kommt es hier darauf an, wie die jeweilige gerichtliche Äußerung nach objektiven Maßstäben zu verstehen war – selbst wenn das Gericht seinen Ausführungen subjektiv eine andere Bedeutung beigemessen hat. Insoweit zu Recht kritisch in Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs etwa in der Entscheidung Englert/Deutschland Demko HRRS 2007, 286, 289. Darin stellt der Gerichtshof darauf ab, welchen Ausdruck das Gericht seiner Äußerung geben "wollte". Hierbei kann es sich jedenfalls nicht um das ausschlaggebende Auslegungskriterium handeln.
[66] Damit lässt sich auch die seitens Demko HRRS 2007, 286, 290 aufgeworfene Frage, wie mit Äußerungen zu verfahren sei, die sich "in der Grauzone zwischen eindeutiger Feststellung und eindeutiger Ablehnung der Tatschuld" befinden, klar beantworten: In Zweifelsfällen überwiegen die Interessen des Angeklagten daran, vor den Belastungen durch solche Äußerungen geschützt zu werden. Gerechtfertigt sind in den Gründen eines freisprechenden Urteils allein Verdachtsbeschreibungen, weshalb gerichtliche Ausführungen, die sich nicht eindeutig von Schuldfeststellungen abgrenzen lassen, bereits keine Eignung aufweisen, den legitimen Zweck einer ordnungsgemäßen Begründung des Freispruchs zu erreichen und daher nicht gerechtfertigt sind.
[67] Eine Ausnahme gilt für die gesetzlich normierten Fälle, die die Möglichkeit der Abfassung verkürzter Urteilsgründe vorsehen, vgl. schon oben Fn 39.
[68] Nicht jede rechtliche Verhaltensnorm ist strafbewehrt. S. zur notwendigen normtheoretischen Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen etwa Binding, Handbuch des Strafrechts, 1. (einziger) Band (1991), S. 155 ff.; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, Personale Straftatlehre, 2. Aufl. (2009), § 1 Rn. 5 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (1988), S. 77 ff., 348, 356 ff.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (Fn. 61), S. 132 ff.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung (1997); Rostalski, RW 2015, 1, 10, 19 f.; Timm, Gesinnung und Straftat (Fn. 27), S. 41 ff.
[69] Für die sonstigen Benachteiligungen, die der Beschwerdeführer als Konsequenz der umstrittenen Äußerung des LG Münster vorträgt (vgl. oben Fn. 2) gelten die im Text getroffenen Ausführungen sinngemäß.
[70] Übersetzung nach Gaede, s. Leitsätze zu EGMR HRRS 2015 Nr. 245. Vgl. bereits EGMR NJOZ 2014, 1834, 1836 (Allen/Vereinigtes Königreich); NJW 2015, 37, 38 (Karaman/Deutschland). S. zudem SK-StPO/Paeffgen (Fn. 18), Art. 6 Rn. 191 m.w.N.
[71] Im konkreten Fall ist zweifelhaft, ob es tatsächlich als unzulässig anzusehen ist, dass das Familiengericht im sorgerechtlichen Verfahren den Inhalt der Urteilsgründe des LG Münster herangezogen hat. In Betracht käme zwar, die sorgerechtlichen Konsequenzen für den Beschwerdeführer als "strafähnlich" einzustufen (s. dazu, dass die Unschuldsvermutung auch vor Nachteilen schützt, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, BVerfG NJW 1987, 2427; NJW 1990, 2741. Der Begriff wirft freilich ob seiner Konturlosigkeit Schwierigkeiten auf. Vgl. allgemein zur unterschiedlichen inhaltlichen Ausfüllung des Begriffs der Strafähnlichkeit in diesem Zusammenhang Stuckenberg, Untersuchungen[Fn. 19], S. 70 ff., 492). Weil Strafe mehr ist als reine Übelszufügung (vgl. dazu schon oben B I. 1.), wäre dies nur der Fall, wenn es sich dabei um eine Schuldzuweisung handeln würde (vgl. zur abweichenden Auffassung Kühls oben B. II. 2.). Wie gezeigt, liegt in der Äußerung des LG Münster aber lediglich eine Verdachtsbeschreibung, weshalb die daran anknüpfende Entscheidung des Familiengerichts ihrerseits keinem strafrechtlichen (!) Schuldspruch gleichkommt bzw. ähnelt, sofern darin das präventive Interesse am Schutz des Kindes vor einem ggf. für das Kindeswohl gefährlichen Vater im Vordergrund stand (s. dazu, dass eine unterstellte Tatbegehung als Indiz für eine vom Beschuldigten ausgehende Gefahr eingestuft werden darf, sofern es sich um eine reversible Entscheidung handelt, Stuckenberg, Untersuchungen [Fn. 19], S. 541).
[72] S. oben B. II. 2.