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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2015
16. Jahrgang
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1. Die Schutzpflichten gegenüber dem menschlichen Leben gemäß Art. 2 EMRK stehen einem tödlich wirkenden Behandlungsabbruch zulasten eines dauerhaft bewusstlosen Patienten nicht stets entgegen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die vom behandelnden Mediziner befürwortete Ernährungseinstellung auf einem sorgfältigen Verfahren zur Feststellung der dauerhaften Bewusstlosigkeit und des mutmaßlichen Willens des Patienten hinsichtlich der Lebensverlängerung beruht, das auf einem gesetzlichen Rahmen fußt, insbesondere die Angehörigen des Patienten einbezieht und Rechtsschutz gewährt. Die Staaten können hierbei im Einzelnen ange-
sichts eines fehlenden Konsenses in den Vertragsstaaten einen erheblichen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) in Anspruch nehmen.
2. Eine Verfügung des Patienten, mit der er vor dem Eintritt der Bewusstlosigkeit die Einstellung der weiteren Behandlung angeordnet hat, ist für die Beendigung einer Behandlung nicht stets erforderlich.
3. Der Wille des Patienten muss auch im Fall der bleibenden Bewusstlosigkeit im Zentrum der erforderlichen Entscheidungsfindung stehen. Deshalb sind auch – insbesondere unwidersprochene – Bekundungen über die Einschätzung lebensverlängernder Maßnahmen, die mündlich gegenüber Familienmitgliedern oder nahen Freunden geäußert worden sind, in die Entscheidung einzustellen.
4. Die Eltern und die Geschwister eines bewusstlosen Patienten, über dessen fortgesetzte Behandlung zu entscheiden ist, sind nicht in seinem Namen, sondern in ihrer Position als Angehörige berechtigt, eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten zugunsten des Lebens des Patienten geltend zu machen.
1. Aus Art. 13 GG ergibt sich die Verpflichtung des Staates, eine effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten. (BVerfGE)
2. Mit der Befassung des zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichters durch die Stellung eines Antrags auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung und der dadurch eröffneten Möglichkeit präventiven Grundrechtsschutzes durch den Richter endet die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden. (BVerfGE)
3. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden kann nur dann neu begründet werden, wenn nach der Befassung des Richters tatsächliche Umstände eintreten oder bekannt werden, die sich nicht aus dem Prozess der Prüfung und Entscheidung über diesen Antrag ergeben, und hierdurch die Gefahr eines Beweismittelverlusts in einer Weise begründet wird, die der Möglichkeit einer rechtzeitigen richterlichen Entscheidung entgegensteht. (BVerfGE)
4. Auf die Ausgestaltung der justizinternen Organisation kann die Eilzuständigkeit der Ermittlungsbehörden nicht gestützt werden. (BVerfGE)
5. Das Rechtsschutzbedürfnis besteht bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen – zu denen insbesondere auch Wohnungsdurchsuchungen gehören – fort, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung vorgesehenen Instanz kaum erlangen kann. (Bearbeiter)
6. Dem Gewicht des mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die räumliche Privatsphäre entspricht es, dass die Anordnung der Durchsuchung grundsätzlich dem Richter als einer unabhängigen und neutralen Instanz vorbehalten ist. Dieser muss dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen der Durchsuchung genau beachtet werden. (Bearbeiter)
7. Die für die Organisation der Gerichte und die Rechtsstellung der dort tätigen Ermittlungsrichter zuständigen Organe haben für eine sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, die eine wirksame präventive richterliche Kontrolle von Wohnungsdurchsuchungen sicherstellt. (Bearbeiter)
8. Zu den Anforderungen an einen dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts entsprechenden richterlichen Bereitschaftsdienst gehört die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden, sowie während der Nachtzeit jedenfalls bei einem Bedarf, der über den Ausnahmefall hinausgeht. (Bearbeiter)
9. Gegenüber der präventiven richterlichen Zuständigkeit für Durchsuchungsanordnungen ist die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden nachrangig; richterliche und nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung stehen in einem ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Die Ermittlungsbehörden haben sich regelmäßig um eine richterliche Eilanordnung zu bemühen, bevor sie die Eilkompetenz in Anspruch nehmen. (Bearbeiter)
10. Jedenfalls in einfach gelagerten Fällen ist die Vorlage schriftlicher Unterlagen zur Herbeiführung einer richterlichen Eilentscheidung nicht erforderlich. In solchen Fällen bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der zuständige Richter allein aufgrund mündlich übermittelter Informationen entscheidet und die Durchsuchung auch mündlich anordnet, sofern er diese Anordnung zeitnah schriftlich dokumentiert. (Bearbeiter)
11. Der unbestimmte Rechtsbegriff der Gefahr im Verzug, welche die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden eröffnet, ist eng auszulegen. Voraussetzung ist, dass eine richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass die Gefahr eines Beweismittelverlusts droht. Die Ermittlungsbehörden dürfen sich dabei nicht auf spekulative Erwägungen oder allgemeine Erfahrungssätze berufen, sondern müssen die konkreten Umstände des Einzelfalls in Rechnung stellen. (Bearbeiter)
12. Um den aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgenden Anforderungen zu genügen, müssen die Ermittlungsbehörden bei Inanspruchnahme der Eilkompetenz die Umstände des Einzelfalls dokumentieren, um eine wirksame gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen, ob die Voraussetzungen einer Gefahr im Verzug erfüllt waren. (Bearbeiter)
13. Haben die Ermittlungsbehörden den Ermittlungsrichter mit der Sache befasst, ist für eine Inanspruchnahme der Eilkompetenz kein Raum mehr. Die Eilkompetenz entfällt, sobald die Staatsanwaltschaft dem zuständigen Richter den Antrag tatsächlich unterbreitet hat, so dass dieser in die Sachprüfung eintreten kann, unabhängig davon, wann der Richter mit der Prüfung beginnt. (Bearbeiter)
14. Mit seiner Befassung ist der Richter allerdings verpflichtet, den Antrag umgehend unter allen relevanten Gesichtspunkten zu prüfen und eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen. Dabei hat er auch darüber zu befinden, wie lange er den Antrag prüft, ob es vor seiner Entscheidung weiterer Sachaufklärung bedarf und in welcher Form ihm die Entscheidungsgrundlagen vermittelt werden sollen. Insoweit obliegt ihm auch die Abwägung und Entscheidung, ob und inwieweit durch den von ihm zu verantwortenden Prüfungsvorgang möglicherweise der Ermittlungserfolg gefährdet wird. (Bearbeiter)
15. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden lebt auch dann nicht wieder auf, wenn nach Befassung des Richters die Gefahr eines Beweismittelverlusts eintritt, etwa weil der Richter die Vorlage von Unterlagen fordert, Nachermittlungen anordnet oder – gleich aus welchen Gründen – noch nicht in der Sache entschieden hat. (Bearbeiter)
16. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden kann allerdings neu begründet werden, wenn nach der Befassung des Richters tatsächliche Umstände eintreten oder bekannt werden, welche sich nicht aus dem Prozess der Prüfung und Entscheidung über diesen Antrag ergeben, und welche die Gefahr eines Beweismittelverlusts in einer Weise begründen, die der Möglichkeit einer rechtzeitigen richterlichen Entscheidung entgegensteht („überholende Kausalität“). (Bearbeiter)
1. Bei der Strafzumessung haben die Strafgerichte das Gebot schuldangemessenen Strafens im Einzelfall zu beachten. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen kommt dabei allerdings erst in Betracht, wenn sich eine Entscheidung von einem gerechten Schuldausgleich so weit entfernt, dass sie sich als objektiv willkürlich darstellt.
2. Die Bemessung der Höhe des einzelnen Tagessatzes einer Geldstrafe gehört nur im weiteren Sinne zur Strafzumessung, weil sie sich nicht am Maß der Schuld orientiert, sondern der Herstellung einer Opfergleichheit dient; gleichwohl ist sie verfassungsrechtlich ebenfalls am Maßstab objektiver Willkür zu messen.
3. Die Schätzung des monatlichen Gehalts einer Angeklagten setzt die konkrete Feststellung der Schätzungsgrundlagen voraus. Sie ist objektiv willkürlich, wenn das Gericht lediglich feststellt, die Angeklagte sei Verkehrspilotin und nicht arbeitslos, und auf dieser Grundlage das Nettoeinkommen gleichsam „ins Blaue hinein“ auf 2.400,- Euro schätzt, ohne im Ansatz aufgeklärt zu haben, ob die Angeklagte gegenwärtig einer mit einer festen Vergütung verbundenen Beschäftigung nachgeht.
1. Bei der Übertragung von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen, zu denen auch der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (im Folgenden: Gerichtshof) zählt, dürfen die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrunde liegenden Rechtsprinzipien in ihrem Wesensgehalt nicht relativiert werden.
2. Zu gewährleisten sind insbesondere Achtung und Schutz der Menschenwürde. Aus dieser folgt neben dem Schuldprinzip und dem Verbot grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Strafen, dass niemandem die Freiheit entzogen werden darf, ohne dass für ihn die realistische Chance besteht, ihr wieder teilhaftig werden zu können.
3. Angesichts der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit selbst der lebenslangen Freiheitsstrafe ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich die Bundesrepublik zur Vollstreckung durch den Gerichtshof rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen verpflichtet hat, soweit diese die Dauer von 30 Jahren nicht überschreiten. Wie in Auslieferungssachen gilt insoweit, dass die Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen grundsätzlich zu achten sind, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.
4. Es begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass dem Gerichtshof gesetzlich die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Fortdauer der Vollstreckung einer von ihm verhängten Strafe sowie für andere vollstreckungs- oder vollzugsrechtliche Entscheidungen übertragen worden ist, die zu einem Aufenthalt des Verurteilten außerhalb der Vollzugsanstalt ohne Bewachung führen können. Eine vollstreckungsrechtliche Gleichbehandlung mit auf der Grundlage innerstaatlicher Verurteilungen Inhaftierten ist verfassungsrechtlich nicht geboten.
5. Zur Herbeiführung einer Entscheidung des Gerichtshofs sind die nationalen Gerichte nur gehalten, wenn nach den innerstaatlichen Regelungen eine Unterbrechung oder Beendigung der Vollstreckung in Betracht kommt. Ist dies nicht der Fall, so verletzt eine unterbliebene Vorlage jedenfalls nicht den Wesensgehalt der Grundrechte des Verurteilten. Möglichen Vollzugsdefiziten kann der Verurteilte mit innerstaatlichen Rechtsbehelfen entgegentreten, ohne dass insoweit eine Entscheidung des Gerichtshofs herbeizuführen ist.
6. Der Verzicht innerstaatlicher Gerichte auf eine Entscheidung über die Fortdauer der Vollstreckung einer von dem Gerichtshof verhängten Strafe berührt den Verurteilten nicht in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz, weil diese Entscheidung nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen, sondern auf den Gerichtshof übertragen ist.
7. Die Regelung über die Vollstreckungshilfe ist kein unzulässiges Einzelfallgesetz, weil sie abstrakt generell formuliert ist und einen wenngleich gegenwärtig begrenzten, so doch offenen Personenkreis erfasst und in einer unbestimmten, nicht vorhersehbaren Zahl von Fällen anzuwenden ist.
1. Zur Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes gehört es, dass dem Richter eine hinreichende Prüfungsbefugnis hinsichtlich der tatsächlichen und rechtlichen Seite eines Streitfalls zukommt, damit er einer Rechtsverletzung auch abhelfen kann. Abhängig von der Art der zu prüfenden Maßnahme kann dabei jedoch wegen Gestaltungs-, Ermessens- oder Beurteilungsspielräumen eine unterschiedliche Kontrolldichte zugrunde zu legen sein.
2. Die Zweiteilung des deutschen Auslieferungsverfahrens führt dazu, dass dem Verfolgten im Zulässigkeitsverfahren, in welchem die rechtlichen Voraussetzungen der Auslieferung geklärt werden, präventiver Rechtsschutz zu gewähren ist. Demgegenüber unterliegen Entscheidungen im nachfolgenden Bewilligungsverfahren, das die Berücksichtigung außen- und allgemeinpolitischer Aspekte des jeweiligen Falles ermöglichen soll, allenfalls eingeschränkt der gerichtlichen Überprüfung.
3. Sofern das Oberlandesgericht im Rahmen der Zulässigkeitsentscheidung alle subjektiven öffentlichen Rechtspositionen des Verfolgten umfassend berücksichtigt hat, verbleibt der Bewilligungsbehörde – ungeachtet ihrer aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Pflicht zur eigenen Rechtmäßigkeitskontrolle und etwaiger völkerrechtlicher Bindungen – ein weiter außenpolitischer Entscheidungsspielraum.
4. Abweichendes gilt bei Auslieferungen an Mitgliedstaaten der Europäischen Union, bei denen die Bewilligung aufgrund der insoweit einschlägigen speziellen gesetzlichen Regelungen den Charakter einer die gesetzlichen Voraussetzungen für den Grundrechtseingriff gegenüber dem Verfolgten konkretisierenden Maßnahme erlangt, die wegen Art. 19 Abs. 4 GG der gerichtlichen Kontrolle unterliegen muss.
5. Einer isolierten gerichtlichen Überprüfung der Bewilligungsentscheidung auch im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten bedarf es, wenn diese über die Zulässigkeitsentscheidung hinausgeht, so dass das Oberlandesgericht nicht alle subjektiven öffentlichen Rechte des Verfolgten berücksichtigen konnte. Dies gilt etwa dann, wenn die Bundesregierung im Bewilligungsverfahren der Weiterlieferung an einen Drittstaat zustimmt, die bislang nicht Gegenstand des gerichtlichen Überprüfungsverfahrens war (Folgeentscheidung zum Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2014 - 2 BvR 1820/14 [= HRRS 2015 Nr. 87]).
1. Bei der medizinischen Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten mit Neuroleptika handelt es sich um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.
2. Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird eine Gerichtsentscheidung nicht gerecht, welche die Zustimmung zur Verlängerung einer Zwangsbehandlung für eine Dauer von zwei Jahren erteilt, obwohl eine Zustimmung nach der gesetzlichen Regelung jeweils nur für sechs Wochen erteilt werden darf.
3. Ein Beschluss über die Zustimmung zu einer Zwangsbehandlung oder deren Verlängerung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen außerdem nur, wenn sich ihm – über die bloße Nennung der zu verabreichenden Medikamente hinaus – Einzelheiten zur Art und Weise der Behandlung entnehmen lassen und wenn erörtert wird, inwieweit der Beschwerdeführer krankheitsbedingt nicht in der Lage war, die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahmen zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
4. Gegen die Anordnung von Zwangsbehandlungsmaßnahmen durch einen Arzt sowie gegen deren Durchführung steht einem im Maßregelvollzug Untergebrachten der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zu. Diesen Rechtsweg hat er vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfen.