HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2015
16. Jahrgang
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Schrifttum

Frank Müller , § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung. Versuch der Apologie einer Strafnorm, Duncker & Humblot, Berlin 2010 (Strafrechtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 220), 250 S., kart. 72 €.

Um die Legitimationsproblematik des ausnahmslosen (strafbewehrten) Verbots der "Tötung auf Verlangen" (§ 216 StGB) ist es in den letzten Jahren erstaunlich ruhig geworden. Dabei haben sich weder die rechtsethischen Bedenken, die im Kern stets um die Frage nach der Berechtigung für einen solchermaßen "harten Paternalismus" kreisen, noch die lebensweltliche Relevanz der Thematik im Kontext der modernen Hochleistungsmedizin mit ihren gefürchteten Schattenseiten verflüchtigt. Dennoch ist der Gedanke einer (begrenzten) Freigabe der sog. "aktiven Sterbehilfe" in Deutschland (kriminal-)politisch ähnlich undenkbar wie etwa eine Korrektur des seinerzeit nur mühsam geschlossenen Kompromisses im Bereich des Schwangerschaftskonflikts (§§ 218 ff. StGB). Stattdessen zielt die aktuelle Reformdebatte mit Blick auf die causae "Dignitas"/"Dignitate", "Kusch" u.a. auf eine Neukriminalisierung der Suizidbeihilfe, bei der aber unabhängig vom jeweils bevorzugten Grenzkriterium ("organisiert", "gewerbsmäßig", "geschäftsmäßig") auf ihrer Kehrseite zwangsläufig ein mehr oder weniger weit reichender Freiraum aufscheint, den aktuelle Reformvorschläge wie insbesondere der jüngst von Borasio/Jox/ Taupitz/Wiesing präsentierte in einem selbstbestimmungsfreundlichen Sinne zu befestigen suchen. Wenn jedoch die divergierende Bewertung von gehilfen- und tatherrschaftlich (aktiv-gezielt) bewirkter Lebensbeendigung (innerhalb der sozialen Welt) bei gleichermaßen vorliegendem Sterbewillen fragwürdig sein sollte, weil es sich dabei womöglich nur um unterschiedliche Nuancen einer arbeitsteiligen Organisation desselben suizidalen Strebens handeln könnte, so wird sich die "Existenzberechtigung" (9) einer das generelle Verbotensein jedweder (selbst ausdrücklich und ernstlich verlangten) Tötungstat anordnenden Strafvorschrift alsbald mit neuer Dringlichkeit stellen.

Auf der Suche nach einem "vernunftgegründeten materiellen Verbotsgrund" (73) diskutiert die Leipziger, unter der Betreuung von Heribert Schumann verfasste Dissertation auf anspruchsvollem Verstehens- und Sprachniveau die bekannten zentralen Positionen, um von hier aus den eigenen, schon im Titel der Arbeit deutlich benannten Leitgedanken auszubreiten. Von einem Grundverständnis "freiheitlich-rechtsstaatlich verfassten Strafrechts" (29) ausgehend, das "nicht auf die Vermeidung der Dezimierung eines bestimmten Bestandes an Rechtsgutsobjekten" gerichtet ist, sondern auf "Verletzungen des personalen Anerkennungsverhältnisses durch ein sich Übergriffe in eine fremde Freiheitssphäre anmaßendes menschliches Verhalten" (31 Fn. 71), kann nach Verf. das "Dogma von der absoluten materiellen Indisponibilität des Lebens" von vornherein nicht überzeugen, und zwar weder in seinem christlich-tradierten noch in aufgeklärt sozio-kollektivistischem Gewande oder in Ableitung eines kantianischen Grundverständnisses vom sog. "Sittengesetz" (32 ff., 38 ff.). Treffend heißt es: "Mag man in der Betätigung der Selbsttötungsmaxime einen innerpersonalen Pflichtenverstoß erkennen, mag die Person als Vernunftwesen gegen die drohende Vergewaltigung durch die Person als Sinnenwesen zu schützen sein – ist dieser

Schutz doch primär eine Angelegenheit der Selbstorganisation des Subjekts" (60). Eine spezifisch das Unrecht des § 216 StGB begründende "Missbrauchsgefahr" (im Sinne straftatverdeckender Schutzbehauptungen des Täters) vermag Verf. jedenfalls im Verhältnis zur Suizidteilnahme nicht zu erkennen (64 f.), das strafbewehrte Postulieren eines "sozialen Tötungstabus" münde in einen zweifachen Selbstwiderspruch, weil es erstens die Selbstverantwortung des Subjekts (hier: des Sterbewilligen) und damit nicht weniger als die Geltungsgrundlage (straf-)rechtlicher Verbotsnormen nicht ernst nehme und zweitens die sonst erhobene Forderung nach einem vernunftbegründeten Nachvollzug des materiellen Verbotsgrundes (vgl. § 17 StGB) insoweit unerfüllbar mache (65 ff., 73). Hiergegen hat freilich schon Kubiciel mit Recht eingewandt, dass sich das "Odium des Irrationalen" leicht in die Welt des Rationalen überführen ließe, wenn nicht mehr von einem "Tabu", sondern von einer "Stabilisierung des Fremdtötungsverbots" gesprochen würde (JZ 2011, 248). Dem bloßen Verweis auf mögliche Gefahren für den "sozialen Frieden", verstanden im Sinne einer tatsächlichen Beunruhigung gesellschaftlicher Moralvorstellungen, komme nach Verf. aber unabhängig von seiner fraglichen empirischen Evidenz de facto einem Verzicht auf den Aufweis eines materiell legitimierten Schutzzwecks gleich (75 f.); das bekannte "Dammbruchargument" (auch "Schiefe-Ebene" oder "slippery-slope") sei schon normativ nicht überzeugend, weil eine ggf. ausufernde gesellschaftliche Praxis sich entweder durch ergänzende Verhaltensnormen oder durch das Recht bei seiner Durchsetzung auch sonst "flankierende Mittel" einhegen lasse und der Normgeber ein eigenes Versagen nicht "durch die Inanspruchnahme eines absolut unzuständigen Rechtssubjekts … kompensieren" dürfe (77 f.). Der geneigte Leser wird die logische Stringenz dieser Argumentation anerkennen und dennoch angesichts bekannter brisanter Entwicklungen auf anderen Gebieten (z.B. PID, Transplantationsmedizin, erhöhter Schutz genetischer Daten gem. GenDG) zweifeln, ob dies schon der Weisheit letzter Schluss ist.

Die eigene Sichtweise knüpft an eine bereits von Jakobs entworfene Idee an, wonach es dem Tatbestand des § 216 StGB (ungeachtet seiner systematischen Einbettung in die §§ 211 ff. StGB) gar nicht um die Erfassung von Tötungsunrecht, sondern vielmehr um die mit der Delegation der Tötungstat einhergehenden Zweifel an der "subjektiven Vollzugsreife" des Sterbewillens gehe (103 ff.). Das wegen der Irreversibilität des Gutsverlusts naheliegende Streben nach einem "Voreiligkeitsschutz" lässt die Tat des § 216 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt erscheinen; eine kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen Begründungselementen der Jakobschen Konzeption (109 ff.) führt Verf. jedoch zu der Modifikation, das Verbot als "Mittel zur Verhinderung des Vollzugs nicht freiverantwortlich gefasster Selbsttötungsentschlusse" zu begreifen (120 ff.). In der Tat leuchtet es ein, dass ein beliebiger Vollstrecker individueller Todeswünsche deren "Freiverantwortlichkeit" meist nicht hinreichend verlässlich beurteilen kann und deshalb – je nach normativ erwartetem Selbstbestimmungsniveau – das Risiko "defizitärer" Tötungsverlangen besteht: "Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass die Rechtsordnung grundsätzlich ein Interesse hat, solches Geschehen so wirksam wie möglich … zu unterbinden" (122). Eben dies begründet allerdings gerade keine Spezifizität der (Fremd-)Tötung auf Verlangen, sondern erweist sich auch im Kontext der Suizidbeihilfe – die aktuelle Reformdebatte bei Lichte betrachtet – als zentrales Problem. In beiden Konstellationen wäre im Übrigen fraglich, ob aus Gründen des notwendigen Rechtsgutsbezuges der kriminalrechtliche Voreiligkeitsschutz nicht in der Konsequenz jener Grundlegung immer dann einer Reduktion bedarf, sei es schon durch gesetzliche Einschränkung oder qua teleologischer Auslegung, wenn sich der Sterbewille im konkreten Fall als hinreichend belastbar und verlässlich erweisen sollte (von Verf. durchaus gesehen, aber in der Substanz nicht ernstgenommen, siehe 121 Fn 345). Eben dann bleibt aber die Ungereimtheit hinsichtlich der normtextlichen Fassung des § 216 StGB, der doch gerade auf dem Boden der Strafbarkeit ein "ernstliches" Tötungsverlangen voraussetzt, dem aber nach vorstehender Argumentation (und auf der Basis der von Verf. zugrunde gelegten Bedeutungsäquivalenz mit dem Zentralkriterium der "Freiwilligkeit", 134 ff., 151) eine hinreichende Verlässlichkeit dennoch nicht immanent sein darf.

Lobenswert wirft Verf. im Anschluss dennoch selbstkritisch die Frage auf, ob eine derartige "gesetzgeberische Prävention durch Schaffung abstrakter Gefährdungsverbote unter Inkaufnahme der Pönalisierung vereinzelter objektiv ungefährlicher Verhaltensweisen" nicht die Legitimitätsgrenzen überschreitet (160). Auch wenn es in der dogmatischen Struktur abstrakter Gefährdungsdelikte liegt, dass sie notwendig auch konkret ungefährliche Verhaltensweisen erfassen (Lagodny), besagt das noch nichts über die Berechtigung, im Ganzen schon den bloßen Verdacht qua lebensweltlicher "Typizität", "Eignung" oder "Wahrscheinlichkeit" zum Bezugspunkt der Strafbarkeit zu nehmen. An dieser Stelle hätte es nun nahelegen, die bekannten Begrenzungskriterien aus der Generaldebatte zum abstrakten Gefährdungsdelikt ("Sorgfaltspflichtverletzung", "Gegenbeweis der Ungefährlichkeit" u.a.m., vgl. im Überblick Roxin, Strafrecht AT/1, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn 154 ff.) heranzuziehen und auf ihre Übertragbarkeit hin zu prüfen. Verf. verkürzt hingegen das Potential dieser Fragestellung, wenn sich die Argumentation im Nachweis erschöpft, dass die Ausdeutung der Verhaltensnorm in der jeweils konkreten Handlungssituation hier nicht der "exklusiven Verantwortung" des Normadressen überlassen bleiben dürfe (160 ff.). So kennt etwa das niederländische Euthanasiegesetz sehr wohl konkrete "Sorgfaltsregeln", die den Beurteilungsspielraum der jeweils Handelnden zu reduzieren suchen (mag die Steuerungsfunktion dieser Regeln in der dortigen Praxis auch begrenzt sein); das Abschneiden jedweder Möglichkeit, die Befolgung eines nachgewiesenermaßen "freiverantwortlichen" Sterbewillens vom Unrechtsurteil auszunehmen, ist daher keineswegs alternativlos. Dass ein abstrakter Gefährdungstatbestand insoweit daher über das Ziel hinausschießen könnte, sieht Verf. durchaus (163); die Lösung soll jedoch in einer Anwendbarkeit des § 34 StGB liegen (201 ff.) mit der Folge einer Abwägung des "individuellen Interesses an der selbstbestimmten Herbeiführung des eigenen Todes" mit dem Interesse derselben Person, "vor dem Risiko einer nicht in seiner Selbstbestimmung wurzelnden Herbeiführung seines Todes bewahrt zu werden" (202). Wollte man diese "Abwägung" aber tatsächlich der "Individualität"

des jeweiligen Rechtsgutsträgers im Rahmen einer konkreten Konfliktlage überlassen, so käme dies der Anerkennung einer Dispositionsbefugnis gleich, die der Gesetzgeber mit § 216 StGB aber normativ ausgeschlossen hat (weswegen Verf. wohlweislich auch nicht auf die Einwilligung zurückgreift); wenn Verf. aber im Falle erheblicher Leiden von einem regelmäßigen Überwiegen des "Sterbeinteresses" nach Maßgabe einer "objektiven Vernünftigkeit" ausgehen will (202 Fn. 596, 204 f.), so entlarvt sich die wortreiche Verankerung im "Prinzip der Selbstverantwortung" (152 ff.) als hohle Phrase, von der Merkwürdigkeit der straftatsystematischen Verankerung einer solchen Regelausnahme erst auf Rechtswidrigkeitsebene und der leider nicht erörterten Problematik der "Angemessenheitsklausel" (zu dieser etwa HK-GS/Duttge, 3. Aufl. 2013, § 34 Rn 23: "Sperrwirkung rechtlich vorgegebener Kompetenzen und Verfahren") im Lichte des § 216 StGB ganz abgesehen. Zudem wäre am Ende gerade dasjenige zugestanden, was zuvor noch bei der Konstruktion des abstrakten Gefährdungsdelikts beredt zurückgewiesen wurde: die Überantwortung der Befugnis zur Konkretisierung der Scheidelinie zwischen Recht und Unrecht an die jeweils Handelnden, jetzt anhand der vagen Formel vom "überwiegenden Interesse".

Was die Konzeption vom abstrakten Gefährdungstatbestand aber dennoch überzeugungskräftig macht, ist ein Umstand, den Verf. eher am Rande streift: Ein begründungstheoretisches Gesamtkonzept muss nicht nur die Divergenz des § 216 StGB zur Suizidteilnahme erklären, sondern ebenso die Frage beantworten, wie das "ausdrückliche und ernstliche" Tötungsverlangen des Verstorbenen ein im Verhältnis zu den Tötungsdelikten minderschweres Unrecht bewirken kann. Auf der Basis der Einwilligungsdoktrin lässt sich diese Abstufung des Unrechts ("Privilegierung") ersichtlich nicht erklären, weil die damit verbundene Verantwortungszuschreibung an die Adresse des Sterbewilligen dann – bei Vorliegen sämtlicher autonomiebegründender Anforderungen – nur eine vollständige und keine "halbe" sein könnte. Erst der Gedanke des vorverlagerten Rechtsgüterschutzes und damit zugleich eines eigenständigen Unrechtsgehalts im Verhältnis zu den §§ 211 f. StGB (178 f.) macht die Vorstellung von einem Unrecht anderen (minderen) Schweregrades begreiflich (s. etwa § 306a Abs. 1 ggü. §§ 306b/c, § 316 ggü. § 315c, § 263a Abs. 3 ggü. Abs. 1 StGB). Zugleich ergeben sich damit bedeutsame Aufschlüsse zur streitigen Frage, ob die (somit irreführend als "Tötung" etikettierte) Tat des § 216 StGB auch durch Unterlassen begehbar ist (was Verf. zutreffend bestreitet, 220 ff.), und interessante Rückwirkungen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tötung (209 ff.).

Wenn es noch immer das hehre Ziel einer juristischen Dissertation sein sollte, nicht lediglich den vorfindlichen Meinungsstand zusammenzutragen und am Ende die Argumente einer dieser Positionen zu bekräftigen, sondern eine neue Perspektive zu eröffnen, aus der sich bedeutsame Folgerungen und neue Einsichten gewissen lassen: Die vorliegende Arbeit erfüllt diesen Anspruch in weiten Teilen geradezu vorbildlich und beeindruckt durch eine vertiefte Beherrschung des Stoffes, durch die Eigenständigkeit und Innovation der Gedanken und einen zupackenden Stil. Dass einige Formulierungen etwas unangemessen überheblich und besserwisserisch daherkommen (z.B. 47: "stellt prompt die Weiche falsch…"; 86: "erstaunlich, dass … die Kurzschlüssigkeit seines Begründungsansatzes nicht selbst auffällt…"; 97 Fn. 283: "noch bedenklicher ist der Fehlschluss…"), ist freilich unnötig, die vielen ergänzenden und weiterführenden Erläuterungen in den Fußnoten – mitunter geradezu eine Fundgrube kluger Gedanken – machen die Lektüre leider recht mühsam. Auch in stilistischer Hinsicht hat sich Verf. nicht erkennbar um besondere Verständlichkeit seiner Gedanken bemüht. Dennoch ist die Arbeit von erheblichem Gewicht – für die kommenden Wegmarken im Kontext der sog. "Sterbehilfe" (sei es durch den Gesetzgeber oder in Form bundesgerichtlicher Folgeurteile post "Putz") ebenso wie für die allgemeine Strafrechtsdogmatik.

Prof. Dr. Gunnar Duttge, Göttingen