HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2015
16. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

114. BGH 4 ARs 21/14 – Beschluss vom 16. Dezember 2014 (BGH)

Anfrageverfahren; Verbot der Verwertung einer vor der Hauptverhandlung gemachten Zeugenaussage bei Berufung auf Zeugnisverweigerungsrecht (erforderliche Belehrung des Zeugens über Reichweite des Bewertungsverbots bei erster Vernehmung).

§ 252 StPO; § 52 StPO; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK

1. Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach die Einführung und Verwertung von Angaben eines früher richterlich vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO Gebrauch gemacht hat, durch Vernehmung der richterlichen Vernehmungsperson auch ohne vorherige Belehrung des Zeugen über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage zulässig ist.

2. Zentrales Anliegen des Strafprozesses die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann. Als eine der Wahrheitsfindung entgegenstehende Gestaltung kommt § 252 StPO in Betracht (vgl. BVerfG NStZ-RR 2004, 18). Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift oder eine auf sie gestützte weitere Einschränkung der Möglichkeit zur Ermittlung des wahren Sachverhalts bedarf daher einer hinreichenden Rechtfertigung. An dieser fehlt es jedoch bezüglich eines Verwertungsverbots in Fällen fehlender qualifizierter Belehrung.

3. Auch der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet es nicht, zur Wahrung berechtigter Interessen des Angeklagten die Verwertbarkeit einer früheren – nach ordnungsgemäßer Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht erfolgten – richterlichen Vernehmung des Zeugen von dessen qualifizierten Belehrung über die weitere Verwertbarkeit seiner Aussage abhängig zu machen.


Entscheidung

135. BGH 4 StR 520/14 – Beschluss vom 18. Dezember 2014 (LG Essen)

Mangelndes Beruhen auf der Gesetzesverletzung bei ausgebliebener Negativmitteilung bei unzweifelhafter dienstlicher Erklärung der Vorsitzenden der Strafkammer (Abgrenzung von Mutmaßungen).

Art. 6 EMRK; Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG; § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 202a StPO; § 212 StPO; § 257c StPO

1. Einzelfall des auszuschließenden Beruhens auf einer pflichtwidrig unterbliebenen sog. Negativmitteilung, wenn es bereits nach dem Revisionsvortrag ausgeschlossen ist, dass im Vorfeld der Hauptverhandlung Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung im Sinne des § 257c StPO gewesen ist. Der Ausschluss kann sich aus einer dienstlichen Erklärung der Kammervorsitzenden ergeben, an der das Revisionsgericht nicht zweifelt.

2. Es bleibt offen, ob der Revisionsvortrag gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO „Kenntnisse und Hinweise bezüglich etwaiger Verständigungsgespräche“ umfassen muss oder ob das (Nicht-) Vorliegen verständigungsbezogener Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO im Freibeweisverfahren aufzuklären ist.


Entscheidung

140. BGH 3 StR 167/14 – Beschluss vom 14. Oktober 2014 (OLG Hamburg)

Zuwiderhandlung gegen ein Bereitstellungsverbot eines unmittelbar geltenden Rechtsaktes der Europäischen Union („Iran-Embargo“; Ausfuhrverbot); gewerbsmäßige Ausfuhr von Gütern ohne Genehmigung; Beihilfe (Gehilfenvorsatz; notwendiger Grad der Konkretisierung der Haupttat); Anforderungen an die Begründung der Verfahrensrüge (Bestimmtheit des abgelehnten Beweisantrags; Darlegung der den Verstoß enthaltenden Tatsachen; inhaltliche Überprüfbarkeit der erhobenen Rüge); Anforderungen an die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit (mangelndes Beruhen); Embargovorschriften als Zeitgesetze; Günstigkeitsvergleich nach Neufassung des Außenwirtschaftsgesetzes; Konkurrenzen im Außenwirtschaftsrecht.

§ 34 AWG a.F.; § 18 AWG n.F.; Art. 7 Abs. 3 VO (EG) Nr. 423/2007 in der Fassung der VO (EU) Nr. 532/2010; Art. 16 Abs. 3 VO (EU) Nr. 961/2010; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 StPO; § 337 Abs. 1 StPO; § 2 StGB; § 27 StGB; § 52 StGB

1. Die Verfahrensrüge ist zulässig, wenn die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden (§ 344 Abs. 2

Satz 2 StPO). Dazu müssen die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht allein aufgrund dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden. Dabei verbietet sich indes eine schematische Betrachtungsweise. Entscheidend ist stets, ob die inhaltliche Überprüfung der erhobenen Rüge bereits anhand des mitgeteilten Verfahrensstoffes möglich ist. Können in Bezug genommene Aktenteile unabhängig von ihrem Inhalt das Ergebnis der Prüfung nicht beeinflussen, so sind sie für die Zulässigkeit der Rüge nicht von Bedeutung.

2. Für eine Zuwiderhandlung gegen das Bereitstellungsverbot des Art. 7 Abs. 3 VO (EG) Nr. 423/2007 bzw. des Art. 16 Abs. 3 VO (EU) Nr. 961/2010 genügt bereits die Möglichkeit, dass der eine wirtschaftliche Ressource darstellende Vermögenswert für den Erwerb von Geldern, Waren oder Dienstleistungen verwendet wird, die zur Verbreitung von Kernwaffen im Iran beitragen können Über Güter des täglichen Lebens oder Leistungen mit Verbrauchscharakter hinaus begründet das Bereitstellungsverbot daher ein generelles Verbot der Ausfuhr von Waren an gelistete Organisationen.

3. Die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit erfordert in aller Regel, dass der Beschluss konkrete Erwägungen darüber enthält, warum das Tatgericht aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen ziehen will. Die Anforderungen an diese Begründung entsprechen grundsätzlich denjenigen, denen das Tatgericht genügen müsste, wenn es die Indiz- oder Hilfstatsache durch Beweiserhebung festgestellt und sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen hätte, warum sie auf seine Überzeugungsbildung ohne Einfluss geblieben ist. Die bloße Wiederholung des Gesetzeswortlauts genügt nicht. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt indes in Fällen, in denen die Bedeutungslosigkeit für jeden Verfahrensbeteiligten offensichtlich ist.

4. Der Vorsatz des Gehilfen muss die Unterstützungshandlung umfassen und sich auf die Vollendung einer vorsätzlich begangenen Haupttat richten, wobei es genügt, dass der Gehilfe die wesentlichen Merkmale der Haupttat, insbesondere ihre Unrechts- und Angriffsrichtung erkennt. Diese gegenüber dem Anstifter geringeren Anforderungen an die Konkretisierung des Vorstellungsbildes des Gehilfen folgen schon daraus, dass dieser nicht eine bestimmte Tat anstreben muss. Er erbringt vielmehr einen losgelösten Beitrag, von dem er lediglich erkennen und billigend in Kauf nehmen muss, dass dieser Beitrag sich als unterstützender Bestandteil in einer Straftat manifestieren wird. Deshalb lässt auch eine andere rechtliche Einordnung der Tat durch den Gehilfen dessen Vorsatz unberührt, solange er sich nicht eine grundsätzlich andere Tat vorstellt.

5. Bei den einen Embargotatbestand ausfüllenden Normen handelt es sich trotz Fehlens einer ausdrücklichen Befristung wegen der erkennbar für die Dauer eines Ausnahmezustandes geschaffenen Regelungen um Zeitgesetze im Sinne des § 2 Abs. 4 StGB.


Entscheidung

90. BGH 1 StR 242/14 – Beschluss vom 18. Dezember 2014 (LG Nürnberg-Fürth)

Mitteilung über Verständigungsgespräche (Umfang der Mitteilungspflicht).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 202a StPO; § 212 StPO

1. Die nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO bestehende Informationspflicht verlangt, dass der Vorsitzende über Erörterungen mit Verfahrensbeteiligten (§§ 202a, 212 StPO), die nach Beginn der Hauptverhandlung, aber außerhalb von dieser stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, in der Hauptverhandlung Mitteilung zu machen. Mitzuteilen ist dabei nicht nur der Umstand, dass es solche Erörterungen gegeben hat, sondern auch deren wesentlicher Inhalt. Hierzu gehört auch dann, wenn keine Verständigung zustande gekommen ist, jedenfalls der Verständigungsvorschlag und die zu diesem abgegebenen Erklärungen der übrigen Verfahrensbeteiligten (vgl. BGH NStZ 2013, 722).

2. Allein der Hinweis des Vorsitzenden, dass ein Geständnis Auswirkungen auf das Strafmaß habe und es vom Strafmaß abhängig sei, ob man sich Gedanken über eine Strafaussetzung machen könne, stellt noch keinen Verständigungsvorschlag dar.


Entscheidung

107. BGH 4 StR 381/14 – Beschluss vom 2. Dezember 2014 (LG Magdeburg)

Angeklagte Tat (Veränderung des Geschehensbilds im Laufe des Verfahrens); tatrichterliche Beweiswürdigung (Abweichung von Ergebnissen eines Sachverständigengutachtens).

§ 264 Abs. 1 StPO; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

1. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, das die Anklage umschreibt, so kommt es darauf an, ob die „Nämlichkeit der Tat“ trotz der Abweichungen noch gewahrt ist. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte individuelle Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen.

2. Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH NStZ 2013, 55, 56 mwN).


Entscheidung

108. BGH 4 StR 427/14 – Beschluss vom 19. November 2014 (LG Paderborn)

Tatrichterliche Beweiswürdigung („Aussage gegen Aussage“-Konstellationen, Anforderungen an die Urteilsbegründung).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

1. In einer Konstellation, in der „Aussage gegen Aussage“ steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeu-

gen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen, muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr).

2. Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als bewusst falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden (vgl. BGHSt 44, 153, 158). Dann muss der Tatrichter jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.


Entscheidung

99. BGH 2 StR 375/14 – Beschluss vom 10. Dezember 2014 (LG Aachen)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (widerlegte Aussagen des Angeklagten als Schuldindiz).

§ 261 StPO

Auch ein Unschuldiger kann sich durch falsche Angaben zu verteidigen suchen. Die Widerlegung eines Entlastungsvorbringens liefert daher in der Regel kein zuverlässiges Indiz für die Täterschaft des Angeklagten (vgl. BGHSt 41, 153, 156).