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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2014
15. Jahrgang
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1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, der die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von der Bedingung abhängig macht, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion „bereits vollstreckt worden ist“ oder „gerade vollstreckt wird“, ist mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar, der diesen Grundsatz verbürgt. (EuGH)
2. Art. 54 dieses Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass die bloße Zahlung der Geldstrafe, die gegen eine Person verhängt wurde, der mit der gleichen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats eine bislang nicht vollstreckte Freiheitsstrafe auferlegt wurde, nicht den Schluss zulässt, dass die Sanktion im Sinne
dieser Bestimmung bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird. (EuGH)
3. Die sog. Vollstreckungsbedingung des Art. 54 SDÜ ist eine nach Art. 52 Abs. 1 GRC zulässige Einschränkung des in Art. 50 GRC unbeschränkt formulierten Unionsgrundrechts, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden; die Vollstreckungsbedingung ist gesetzlich vorgesehen, berührt nicht den Wesensgehalt des Art. 50 GRC und ist verhältnismäßig. (Bearbeiter)
4. Die in Art. 54 SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung soll im Sinne des Art. 67 Abs. 3 AEUV im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern, dass in einem Mitgliedstaat der Union rechtskräftig Verurteilte der Strafe entgehen können. Dieses Ziel kann durch die Instrumente gegenseitiger Hilfe allein nicht vollständig verwirklicht werden, weil der verurteilende Mitgliedstaat unionsrechtlich nicht verpflichtet ist, für die tatsächliche Vollstreckung der einem Urteil verhängten Sanktionen zu sorgen. (Bearbeiter)
5. Eine zusätzliche Verfolgung wird in dem durch Art. 54 SDÜ geschaffenen Rahmen nur in den Fällen stattfinden, in denen das derzeit im Unionsrecht vorgesehene System – aus welchem Grund auch immer – nicht ausgereicht hat, um auszuschließen, dass Personen, die in der Union rechtskräftig verurteilt wurden, der Strafe entgehen. Im Rahmen der konkreten Anwendung der Vollstreckungsbedingung von Art. 54 SDÜ im Einzelfall kann nicht ausgeschlossen werden, dass die zuständigen nationalen Gerichte auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 3 EUV und der Instrumente des abgeleiteten Unionsrechts im Bereich des Strafrechts miteinander in Kontakt treten und Konsultationen aufnehmen, um zu prüfen, ob der Mitgliedstaat der ersten Verurteilung tatsächlich beabsichtigt, die verhängten Sanktionen zu vollstrecken. (Bearbeiter)
6. Werden durch eine mitgliedstaatliche Entscheidung Freiheits- und Geldstrafe jeweils als Hauptstrafen angeordnet, so gilt diese aus zwei selbständigen Teilen bestehende Sanktion noch nicht im Sinne des Art. 54 SDÜ als „bereits vollstreckt“ oder als „gerade vollstreckt werdend“, wenn allein die Geld-, nicht aber die Freiheitsstrafe vollstreckt worden ist. (Bearbeiter)
1. Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ergibt sich für die Fachgerichte die Verpflichtung, auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht wirksame Kontrolle zu gewährleisten.
2. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn ein Gericht die Gewährung von Eilrechtsschutz entscheidungstragend mit der Erwägung ablehnt, die besonderen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache seien nicht erfüllt, obwohl es sich überhaupt nicht um einen Fall der Vorwegnahme der Hauptsache handelt.
3. Um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelt es sich nur dann, wenn die vorläufige Entscheidung einer endgültigen gleichkäme, nicht hingegen, wenn es lediglich um die vorübergehende Aussetzung einer Maßnahme geht, die als solche nicht rückgängig gemacht werden könnte. Letzteres ist gerade der typische Gehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen.
4. Wird einem Strafgefangenen entgegen seinem erklärten Willen, in Gemeinschaft mit anderen Gefangenen zu arbeiten, unter Verweis auf seine starke Sehbehinderung Arbeit in seiner Zelle zugewiesen, so stellt diese Entscheidung eine ihn belastende Maßnahme dar, die einer Aussetzung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes unterliegen kann, ohne dass es sich dabei um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelte. Dies gilt auch dann, wenn der Gefangene in dem Antrag zugleich die Weiterzahlung von Taschengeld begehrt, welches ihm unter Bezugnahme auf die ihm zugewiesene Zellenarbeit verwehrt wird.
5. Der Antrag eines – insbesondere nicht anwaltlich vertretenen – Strafgefangenen ist entsprechend dem Zweck seines Begehrens auszulegen. Wendet sich ein Strafgefangener mit einem Eilrechtsschutzgesuch ersichtlich gegen eine ihn belastende strafvollzugsrechtliche Maßnahme, so ist es dem Gericht verwehrt, den Eilantrag unter Verweis auf eine fehlerhafte Bezeichnung als „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung“ zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für eine solche nicht erfüllt wären.
Die Verfassungsbeschwerde gegen eine strafvollzugsrechtliche Entscheidung ist wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Subsidiarität unzulässig, wenn die gegen die erstinstanzliche Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde als unzulässig zurückgewiesen worden ist, weil der Beschwerdeführer seine allein erhobene Verfahrensrüge – hier: wegen Befangenheit des erstinstanzlich tätig gewordenen Richters – nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen begründet hatte.