HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2014
15. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Das Verwerfungsverbot aus § 329 Abs. 1 S. 1 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c) EMRK in der Revision

Von Wiss. Ass. RA u. FAStR Dr. René Börner, Potsdam

I. Einführung

Seit der EGMR in dem Verfahren Neziraj v. Deutschland die Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO bei Erscheinen eines verteidigungsbereiten Verteidigers als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 u. Abs. 3 lit. c) EMRK behandelt hat,[1] steht die deutsche Justiz vor der Frage, wie mit dieser Entscheidung umzugehen ist. Die Gerichtsbarkeit zieht sich weithin darauf zurück, dass sie an § 329 Abs. 1 S. 1 StPO gebunden sei und überdies eine Abwesenheitsverhandlung zu wesentlichen Grundsätzen des deutschen Strafprozesses in Widerspruch stehe.[2] Doch was tatsächlich aus dem Verwerfungsverbot folgt, hängt zunächst davon ab, welche prozessuale Verfahrensweise durch das Verbot eröffnet wird. Es handelt sich bei näherem Hinsehen um zwei alternative Modelle.

Weil das Verfahren nicht still stehen darf, gelten entweder die Zwangsmittel der §§ 230 Abs. 2, 290 ff. StPO oder es findet eine gesetzlich nicht ausdrücklich benannte Abwesenheitsverhandlung statt.[3] Letzteres erscheint vorzugswürdig, da ein Recht auf Verteidigung ohne Verhandlung zur Sache keinen Sinn macht. Zudem steht insofern der Wortlaut des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht entgegen, da dort nur gesagt wird, dass eine zulässige Vertretung die Verwerfung hindert, nicht aber wann die Vertretung zulässig ist. Insofern enthalten Art. 6 Abs. 1 u. Abs. 3 lit. c) EMRK als Sockel konventionskonformer Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine nicht minder tragfähige Statuierung der Abwesenheitsverhandlung als die ausdrücklichen Regelungen der StPO. Schließlich sind Abwesenheitsverhandlungen, die nicht durch die Verknüpfung des § 332 StPO, sondern eigenständig und nur für die Berufung statuiert werden, schon wegen § 329 Abs. 2 S. 1 StPO keineswegs systemfremd.[4]

Doch hier soll es nicht primär um die Entscheidung dieser Fragen gehen, sondern um die Aussichten auf einen forensischen Diskurs darüber auf Ebene der Revision. Die Rahmenbedingungen des Revisionsrechts rücken die Unterschiede der beiden Modelle des Umgangs mit dem Verwerfungsverbot in den Mittelpunkt und sind daher geeignet, die Differenziertheit der Diskussion zu fördern.

II. Problemlage

Solange die Oberlandesgerichte sich als Revisionsgerichte darin einig sind, die Entscheidung des EGMR als für sie unverbindlich zu betrachten, haben diese fachgerichtlich das letzte Wort. Sollte hingegen ein OLG die Verwerfung wie der EGMR beurteilen, läge die Entscheidung gem. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG bei dem BGH. Insofern ist die Rechtslage klar. Interessant wird es jedoch, wenn nicht das OLG, sondern bereits die Berufungskammer den EGMR zu berücksichtigen versucht und in Abwesenheit mit dem vertretenden Verteidiger verhandelt.[5] Wenn die Staatsanwaltschaft keine Revision einlegt, weil sie mit dem Urteil im Ergebnis zufrieden ist,[6] nicht jedoch der Angeklagte, dann liegt die Verfahrensrüge allein in dessen Händen. Die Frage lautet also, ob und warum der Angeklagte eine aussichtsreiche Verfahrensrüge hat, wenn über seine Berufung in Abwesenheit verhandelt worden ist. Das hängt davon ab, welche prozessualen Verhaltensoptionen der Berufungskammer aus dem Verwerfungsverbot erwachsen.

III. Unstatthafte Abwesenheitsverhandlung

Das Verwerfungsverbot und das Verbot der Abwesenheitsverhandlung stünden ohne weiteres miteinander in Einklang. Es handelt sich um den gewöhnlichen Fall, dass ein Verfahren nicht ohne den Angeklagten abgeschlossen werden kann, dieser jedoch nicht erschienen ist. Es griffen über § 329 Abs. 4 S. 1 bzw. § 332 StPO der Hauptverhandlungshaftbefehl und daneben die allgemeinen Regeln der §§ 112 ff. StPO sowie der §§ 276 ff. StPO.

Diese Zwangsmittel mögen zwar auf den ersten Blick zu dem Schutzzweck des Art. 6 EMRK in Konflikt geraten, da im Ergebnis eine den Angeklagten schützende Norm belastende Folgen zeitigt, bei näherem Hinsehen liegt ein Widersinn jedoch nicht vor. Anders als der Beschleunigungstopos, der den Art. 6 EGMR direkt und in paternalistisch aufgedrängter Interessenwahrnehmung gegen seinen Rechtsinhaber in Stellung bringt, sind die Zwangsmittel hier nur eine mittelbare Folge, die weder Einfluss auf den Inhalt der Verhandlung hat noch auf Art. 6 EMRK als Begründungstopos zugreift. Im Grunde verlagern die Zwangsmittel die Entscheidung über die Durchführung der Berufungsverhandlung auf den Angeklagten als Berufungsführer. Nicht das Gericht disponiert mit § 329 Abs. 1 S. 1 StPO über den Abbruch der Berufung, sondern der Angeklagte mit der Möglichkeit zur Berufungsrücknahme, was die Zwangsmittel insofern gegenstandslos werden lässt. Zwar bedarf es dazu gem. § 303 S. 1 StPO wohl selbst bei Aussetzung der Zustimmung der Staatsanwaltschaft,[7] doch wird diese für eine Verweigerung gute Gründe finden müssen, denn immerhin hat sie selbst das Urteil erster Instanz nicht angegriffen und zudem ist die Haft bis zu einer Verhandlung, die der betroffene Berufungsführer nicht mehr will, nicht nur unverhältnismäßig, sondern wirkt schikanös.

Dieses Lösungsmodell ist daher an sich ohne Schwierigkeiten mit dem deutschen Verfahrensrecht vereinbar. Doch § 329 Abs. 1 S. 1 StPO scheint diese Variante auszuschließen, da die strikte Formulierung keine andere Option als entweder die Verwerfung oder die Abwesenheitsverhandlung zuzulassen scheint. Hiergegen könnte zwar § 329 Abs. 4 S. 1 StPO ins Feld geführt werden, der immerhin auch § 329 Abs. 1 StPO ausdrücklich in Bezug nimmt und daher den strikten Tonfall von dessen Formulierung aufweicht, aber darum soll es hier nicht gehen, sondern allein um die eindeutigen Folgen für die Revision. Ergeht ein Urteil unter Verletzung des Verbots der Abwesenheitsverhandlung, greift der absolute Revisionsgrund des §  338 Nr. 5 StPO. Weder eine Verwirkung noch eine Relativierung des Beruhens kommen in Betracht. Die Urteilsaufhebung ist also die zwingende Folge einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge.

IV. Statthafte Abwesenheitsverhandlung

Wenn hingegen die Abwesenheitsverhandlung statthaft wäre, entfiele neben der Verwerfungsoption auch jedwedes auf Anwesenheit gerichtetes Zwangsmittel. Jedoch würde der Angeklagte zur Wahrung seines Anwesenheitsrechts über die Möglichkeit zur Verhandlung in seiner Abwesenheit ausdrücklich belehrt werden müssen. Die Verhandlung in Abwesenheit ist ebenso wie die Berufungsverwerfung eine Folge des Ausbleibens, auf die gem. §  323 Abs. 1 S. 2 StPO in der Ladung ausdrücklich hinzuweisen ist. Das gilt für die Abwesenheitsverhandlung im Falle der Berufung der Staatsanwaltschaft[8] ebenso wie bei statthafter Vertretung gem. §  329 Abs. 1 S. 1 StPO.[9] Diese Warnfunktion der Ladung entspricht auch der Wertung des § 232 Abs. 1 S. 1 StPO und den dort vorgesehenen Hinweispflichten, was angesichts der grundsätzlichen Verknüpfung durch §  332 StPO nicht unbeachtlich sein kann. Wenn bereits die Verurteilung zu einer Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen einen ausdrücklichen Hinweis auf die Möglichkeit zur Abwesenheitsverhandlung erfordert, dann erst recht die Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren. Diese Verletzung der Hinweispflicht ist als eigenständige Verletzung formellen Rechts zu rügen.

Um die genaue Bedeutung des Rechtsverstoßes zu erkennen, gilt es, die doppelte Schutzrichtung des Hinweises auf Vertretung durch einen Verteidiger in den Blick zu nehmen. Die erste Variante lautet: "Vorsicht, es droht die Verwerfung! Du kannst sie durch Teilnahme eines Verteidigers abwenden!" Darauf käme es an, wenn gem. §  329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen worden ist, weil entweder kein Verteidiger erschienen ist oder dessen Vollmacht als nicht ausreichend erachtet worden ist. Mit dieser Rüge könnten faktisch alle Vollmachtsmängel behoben werden, insbesondere das Gebot der ausdrücklichen, schriftlichen Bevollmächtigung sowie das Erfordernis einer separaten, erneuten Bevollmächtigung für den Fall der Beiordnung, womit manche Gerichte die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit dem Verwerfungsverbot zu vermeiden versuchen.[10] Die zweite Bedeutungsvariante lautet: "Vorsicht, wir verhandeln ohne Dich!". Das ist der Hinweis des §  232 Abs. 1 S. 1 StPO und genau wie dort ist auch gem. § 323 Abs. 1 S. 2 StPO die Abwesenheitsverhandlung als Folge des Ausbleibens zu benennen. Insofern geht es primär um das Recht auf persönliche Anwesenheit. Die bloße formularmäßige Vollmachtserteilung zur Abwesenheitsverhandlung gem. § 329 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 EMRK, die sowohl für das Wahlmandat als auch im Falle des § 140 StPO gelten soll, enthält keine Preisgabe des Anwesenheitsrechts. Eine solche Bevollmächtigung erfolgt grundsätzlich vorsorglich, um die Verwerfung abzuwenden, enthält für sich genommen aber noch keine Aussage darüber, ob von der Möglichkeit persönlicher Anwesenheit Gebrauch gemacht werden soll. Das gilt umso mehr als zum Zeitpunkt der Bevollmächtigung noch nicht einmal klar sein muss, dass es überhaupt zu einer Berufung kommen wird. Nur wenn sicher ist, dass der Angeklagte ohnehin nicht erscheinen wollte und ohnehin der Abwesenheitsverhandlung den Verzug gab, mangelt es am Beruhen.

V. Entscheidungskompetenzen

Auch die Entscheidungskompetenzen des OLG als Revisionsgericht hängen maßgeblich von seiner Haltung gegenüber dem Verwerfungsverbot und dessen Folgen ab. Wenn das OLG an § 329 Abs. 1 S. 1 StPO unbeschränkt festhält, ist die durchgeführte Abwesenheitsverhandlung rechtswidrig und das Urteil wegen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO aufzuheben. Das mag verwundern, weil danach die Verwerfung die richtige Entscheidung gewesen wäre und der Revisionserfolg diesem Ergebnis scheinbar am nächsten käme. Doch das aufzuhebende Berufungsurteil ist etwas anderes als das unterbliebene Verwerfungsurteil als Prozessurteil und daher kann das in Rechtskraft erwachsende Verfahrensergebnis von dem erstinstanzlichen Urteil in Inhalt und Strafausspruch erheblich abweichen, weshalb die Revisionsverwerfung nicht auf die ungenutzte Chance eines Verwerfungsurteils gestützt werden kann. Überdies ließe §  338 Nr. 5 StPO der Beruhensprüfung keine derartigen Spielräume und stünde auch dem etwaigen Ansinnen entgegen, bereits die Beschwer abzulehnen und so dem absoluten Revisionsgrund schon auf Zulässigkeitsebene den Anwendungsbereich abzugraben. Es fände also eine neue Berufungshauptverhandlung statt, für die dann § 329 Abs. 1 S. 2 StPO gilt.

Folgt das OLG dem EGMR im Verwerfungsverbot, lehnt es aber die Abwesenheitsverhandlung ab, so gelangt es aus demselben Grund zu einer Urteilsaufhebung. Der absolute Revisionsgrund des §  338 Nr. 5 StPO hängt insofern nicht von dem Streit um Art. 6 EMRK ab, weshalb eine Divergenzvorlage an den BGH nicht nötig ist. Anders liegt es hingegen, wenn das OLG die Abwesenheitsverhandlung als statthaft erachtet und wegen des unterbliebenen Hinweises aufheben möchte. Zwar liegt für die Hinweispflicht als solche keine entgegenstehende Rechtsprechung vor. Das jedoch nur, weil bei unstatthafter Abwesenheitsverhandlung kein Anlass für einen solchen Hinweis besteht. Also nicht der Hinweis, sondern die Abwesenheitsverhandlung ist Gegenstand der Divergenz, auf die es entscheidungstragend ankommt. Mithin wäre insofern gem. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG dem BGH vorzulegen.

VI. Fazit

Die Perspektive der Revision prägt den Unterschied zwischen § 338 Nr. 5 StPO und den Hinweispflichten bei statthafter Abwesenheitsverhandlung. Die Verletzung der Hinweispflichten aus § 323 Abs. 1 S. 2 StPO eröffnet sowohl bei Verwerfung bereits wegen eines nicht ausreichend bevollmächtigten Verteidigers als auch bei Durchführung der Abwesenheitsverhandlung eine Verfahrensrüge, die grundsätzlich zur Entscheidung über das Recht auf Vertretung durch einen Verteidiger zwingt.


[1] EGMR, Urt. v. 8.11.2012 – Inidvidualbeschwerde Nr. 30804/07 (Neziraj v. Deutschland) = HRRS 2013 Nr. 69 = StraFo 2012, 490 ff. m. zust. Anm. Püschel.

[2] S. nur HansOLG, Beschl. v. 3.12.2013 – 1 Ss 68/13, juris; HansOLG Beschl. v. 10.6.2013 – 2 Ss 11/13, StRR 2013, 387 f.; OLG München, Beschl. v. 17.1.2013 – 4 StRR (A) 18/12, NStZ 2013, 358 f. m. abl. Anm. Esser StraFo 2013, 253 ff.; ferner Meyer-Goßner, 56. Aufl. (2013), Art. 6 MRK Rn. 20a; Mosbacher NStZ 2013, 312 ff. und jeweils nicht tragend OLG Celle, Beschl. v. 19.3.2013 – 32 Ss 29/13, NStZ 2013, 615 f.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.2.2012, StV 2013, 299 ff.; OLG Hamm, Beschl. v. 16.6.2012 – 1 RVs 41/12, StRR 2012, 463 f.; diff. Ast JZ 2013, 780 ff.

[3] Zu diesen Alternativen nur Meyer-Goßner (Fn. 2), § 329 Rn. 15.

[4] Vgl. dazu Engel ZJS 2013, 339 ff.; LR/Esser, 26. Aufl. (2012), EMRK Art. 6, Rn. 711; ders. StV 2013, 331 ff.; Püschel StraFo 2012, 493 ff.; Waszczynski NStZ-RR 2014, 18 ff.

[5] So geschehen mit dem Verf. LG Frankfurt (Oder), Urt. v. 20.12.2013 – 27 Ns 36/12.

[6] Damit ist nichts darüber gesagt, inwiefern auch die Staatsanwaltschaft dem EGMR zu folgen sucht oder die Pflicht hätte, kontroverse Fragen zur Entscheidung zu bringen.

[7] Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 2), § 303 Rn. 2.

[8] LR/Gössel, 26. Aufl. 2010, § 323 Rn. 14; SK/Frisch, 4. Aufl. (2013), §  323 Rn. 14 ff.

[9] HK/Rautenberg, 5. Aufl. (2012), §  323 Rn. 3; LR/Gössel (Fn. 8), § 323 Rn. 14.

[10] Vgl. nur OLG Celle, Beschl. v. 19.3.2013 – 32 Ss 29/13, NStZ 2013, 615/616; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.2.2012, StV 2013, 299/301.