HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2014
15. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

247. BVerfG 2 BvR 261/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Februar 2014 (LG Waldshut-Tiengen)

Einstweilige Anordnung gegen die Ablehnung einer audiovisuellen Zeugenvernehmung bei dringender Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils (posttraumatische Belastungsstörung; mögliche Retraumatisierung; Recht auf körperliche Unversehrtheit); Willkürverbot (objektive Willkür bei ermessenslenkender Berücksichtigung einer mangelhaften Ausstattung des Gerichts mit Sachmitteln); Folgenabwägung (irreparabler Grundrechtseingriff; Vermeidung einer Verfahrensverzögerung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 247a Abs. 1 StPO; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK; Art. 8 EMRK

1. Der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Ablehnung einer audiovisuellen Zeugenvernehmung steht nicht entgegen, dass es sich insoweit um eine prozessuale Zwischenentscheidung handelt; denn die Entscheidung ist nach ganz überwiegender Auffassung fachgerichtlich unanfechtbar, so dass eine mögliche Grundrechtsverletzung in zumutbarer Weise nicht anders abzuwenden ist.

2. Bestehen auf der Grundlage ärztlicher Berichte konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die nach dem Anklagevorwurf Geschädigte eines sexuellen Übergriffs eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hat, so liegt ein Verstoß gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nahe, wenn ein Strafgericht die von der Geschädigten beantragte audiovisuelle Vernehmung ohne

weitere Nachforschungen ablehnt, weil es Zweifel hegt, ob von einer unmittelbaren Vernehmung der Zeugin eine Gefahr für deren seelische Gesundheit ausgeht.

3. Die Ablehnung einer audiovisuellen Zeugenvernehmung verstößt gegen das Verbot objektiver Willkür, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung ermessenslenkend berücksichtigt, dass eine entsprechende technische Ausstattung nicht vorhanden ist.

4. Bei der Folgenabwägung im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG überwiegt der mögliche irreparable Eingriff in die körperliche Unversehrtheit einer Zeugin das Interesse an einer sofortigen Durchführung einer unmittelbaren Zeugenvernehmung, zumal eine audiovisuelle Vernehmung möglich bleibt.


Entscheidung

251. BVerfG 2 BvR 1020/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. März 2014 (OLG München)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; verfassungsrechtliche Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung; richterliche Sachaufklärung; Prognosegrundlage); externer Sachverständiger (Entbehrlichkeit nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; Verweigerung einer Mitwirkung durch den Untergebrachten); Mindestanforderungen an die Begründung einer Fortdauerentscheidung (erhebliche Gefahr künftiger rechtswidriger Taten; Konkretisierung nach Art und Grad der Wahrscheinlichkeit; Erheblichkeit der zu erwartenden Taten; Abwägung; Sicherungsinteressen der Allgemeinheit; zunehmendes Gewicht des Freiheitsanspruchs).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 67d StGB; § 67e StGB; § 463 Abs. 4 StPO

1. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter Beachtung strenger formeller Gewährleistungen eingeschränkt werden.

2. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG ergeben sich auch Mindestanforderungen für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. So müssen alle Entscheidungen, die – wie die Anordnung der (weiteren) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen.

3. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sachaufklärung zu genügen, muss ein Gericht bei Prognoseentscheidungen, bei denen geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, regelmäßig einen erfahrenen Sachverständigen hinzuziehen.

4. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung und an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung steigen mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzuges. Befindet sich der Untergebrachte seit langer Zeit in demselben psychiatrischen Krankenhaus, ist es daher in der Regel geboten, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden („externen“) Sachverständigen hinzuzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Anstalt oder die Beziehung zwischen Untergebrachtem und Therapeuten das Gutachten beeinflussen.

5. Die verfassungsrechtliche Vorgabe einer regelmäßigen Begutachtung durch einen externen Sachverständigen wird durch die Vorschrift des § 463 Abs. 4 StPO konkretisiert und verfahrensrechtlich abgesichert. Die Einhaltung dieser Vorschrift ist ein Verfassungsgebot. Das Bundesverfassungsgericht prüft nach, ob die Fachgerichte bei ihrer Anwendung Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts erkennen und ihm angemessen zur Wirkung verhelfen.

6. Ein externes Gutachten als Grundlage einer jeweils nach fünf Jahren zu treffenden Prognoseentscheidung ist nach der Sollvorschrift des § 463 Abs. 4 StPO allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen entbehrlich.

7. Eine Weigerung des Untergebrachten, an der Begutachtung mitzuwirken, führt nur dann zur Entbehrlichkeit einer externen Begutachtung, wenn diese von vornherein keinen Beitrag zur Verbesserung der Prognosesicherheit des Gerichts leisten kann. Hiervon kann regelmäßig nicht ausgegangen werden, weil der Sachverständige insbesondere Stellungnahmen der Klinik eigenständig bewerten und dabei seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz zur Geltung bringen kann.

8. Zur Begründung einer Fortdauerentscheidung ist es von Verfassungs wegen geboten, die von dem Untergebrachten künftig drohenden rechtswidrigen Taten nach Art und Grad der Wahrscheinlichkeit zu konkretisieren, ihre Erheblichkeit i. S. d. § 63 StGB darzulegen und auszuführen, aus welchen Gründen die Sicherungsbelange der Allgemeinheit das mit der Dauer der Unterbringung zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untergebrachten überwiegen.


Entscheidung

250. BVerfG 2 BvR 974/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. März 2014 (LG Stuttgart / AG Stuttgart)

Durchsuchungsbeschluss (Wohnungsgrundrecht; Anforderungen an den Tatverdacht; konkrete Tatsachen; Abgrenzung zu vagen Anhaltspunkten und bloßen Vermutungen; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 334 StGB

1. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu ihrer Rechtfertigung den Verdacht voraus, dass eine Straftat begangen wurde. In dem Durchsuchungsbeschluss ist ein Verhalten des Beschuldigten darzulegen, aus dem sich der hinreichend konrekte Verdacht eines von ihm als Täter oder Teilnehmer begangenen Delikts ergibt.

2. Die Verdachtsgründe müssen über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen. Die Durchsuchung darf dabei nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung des Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus.

3. Das Bundesverfassungsgericht prüft Durchsuchungsanordnungen nur daraufhin nach, ob die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Voraussetzungen eines Verdachts und die strafrechtliche Bewertung der Verdachtsgründe objektiv willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte des Betroffenen beruhen.

4. Die Annahme eines Verdachts gegen den Prokuristen einer GmbH, er habe sich im Zusammenhang mit Waffenlieferungen seines Unternehmens nach Mexiko an einer Bestechung beteiligt, beruht nicht in hinreichendem Maße auf konkreten Tatsachen, wenn er sich lediglich auf die Sachnähe und Sachleitungsbefugnis des Betroffenen sowie darauf stützt, dass dieser auf Presseberichte hin unternehmensintern Recherchen veranlasst, mögliche Beweise einer Anwaltskanzlei übergeben und Fragen aufgelistet hat, die gegenüber der Staatsanwaltschaft klärungsbedürftig sind.


Entscheidung

252. BVerfG 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. Februar 2014 (OLG Braunschweig / LG Braunschweig)

Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Maßregelunterbringung; tiefgreifender Grundrechtseingriff); Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; Tatsachengrundlage; gerichtliche Sachaufklärungspflicht; Begründungstiefe; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte); Gefährlichkeitsprognose (erhebliche Gefahr künftiger rechtswidriger Taten; Konkretisierung künftig zu erwartender Delikte; Erheblichkeit; Grad der Wahrscheinlichkeit; Dauer einer zugleich verhängten Freiheitsstrafe); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (milderes Mittel; Führungsaufsicht; Auflagen und Weisungen; fortgeschrittenes Lebensalter; erfolgreich durchlaufene Lockerungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d StGB; § 176 Abs. 4 StGB

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fort, auch wenn die angefochtene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage für die Unterbringung bildet.

2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der besonderen Verfahrensgarantien nach Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 GG eingeschränkt werden. Eine Einschränkung kommt außerdem nur aus besonders gewichtigen Gründen in Betracht, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.

3. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG folgt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben müssen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.

4. Bei Prüfung der Aussetzungsreife einer der Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die von dem Täter ausgehende Gefahr zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.

5. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen. Ausreichend sind nur erhebliche rechtswidrige Taten.

6. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch mildere Maßnahmen wie insbesondere durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.

7. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

8. Die von einem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist nicht in hinreichendem Maße konkretisiert, wenn sich das Gericht auf eine Wiederholung des Gesetzeswortlauts des § 67d Abs. 2 StGB beschränkt, ohne darzulegen, welche konkreten Taten im Einzelfall von dem Untergebrachten zu erwarten sind und inwiefern diese konkret das Merkmal der Erheblichkeit i. S. d. § 63 StGB erfüllen würden.

9. Nicht ausreichend ist es auch, wenn das Gericht bei einem auch wegen Taten nach § 176 Abs. 4 StGB Untergebrachten lediglich pauschal eine Gefahr „sexueller Übergriffe auf Kinder“ sieht, ohne innerhalb dieses Spektrums die konkret zu erwartenden Handlungen näher einzugrenzen und ohne anzugeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese drohen.

10. Die Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung ist nicht in ausreichendem Maße begründet, wenn das Gericht nicht würdigt, dass die Dauer der Unterbringung die im Ausgangsurteil zugleich verhängte Freiheitsstrafe bereits um ein Mehrfaches übersteigt, dass der zwischenzeitlich 72 Jahre alte Untergebrachte nunmehr verheiratet ist und dass er seit längerer Zeit Lockerungen ohne Beanstandung durchlaufen hat.


Entscheidung

245. BVerfG 2 BvQ 4/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. Februar 2014 (OLG Frankfurt am Main)

Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika zum Zwecke der Strafverfolgung (Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung; USA; italienischer Staatsangehöriger; wettbewerbsbeschränkende Submissions- und Preisabsprachen; Willkürmaßstab; Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit; Spezialitätsgrundsatz; Substantiierungsanforderungen; Deutschenprivileg); Recht auf den gesetzlichen Richter (Vorlage an den Europäischen Gerichtshof).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 298 StGB; § 32 Abs. 1 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 2 Abs. 1 AuslieferungsV-USA; Art. 22 AuslieferungsV-USA

1. Entscheidungen über die Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung unterliegen der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung dahingehend, ob die Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar und damit willkürlich ist.

2. Der in Auslieferungssachen – hier: Auslieferung eines italienischen Staatsangehörigen an die Vereinigten Staaten wegen wettbewerbsbeschränkender Submissions- und Preisabsprachen – zu beachtende Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit (Art. 2 Abs. 1 AuslieferungsV-USA) ist nicht (willkürlich) verletzt, wenn das Oberlandesgericht in vertretbarer Weise eine Strafbarkeit nach deutschem Recht gemäß § 298 StGB annimmt.

3. Eine (willkürliche) Verletzung des Spezialitätsgrundsatzes (Art. 22 Abs. 1, Abs. 3 AuslieferungsV-USA) ist nicht in der für die Begründung einer Verfassungsbeschwerde erforderlichen Weise hinreichend substantiiert dargetan, wenn der Beschwerdeführer keine konkreten Anhaltspunkte für seine Befürchtung mitteilt, er werde wegen anderer als der dem Auslieferungsverfahren zugrunde liegenden Taten verurteilt werden.

4. Das Deutschenprivileg aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG ist nicht auf Unionsbürger auszudehnen; denn der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten ist keine Materie, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Unterlässt ein Gericht mit dieser Erwägung eine Vorlage der Frage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), handelt es nicht willkürlich und verletzt daher nicht das Recht des Betroffenen auf den gesetzlichen Richter.


Entscheidung

253. BVerfG 2 BvR 2381/13 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. März 2014 (LG Berlin)

Strafvollzug (Lockerungen; Ausführung zu einem Beratungsgespräch unmittelbar vor der Entlassung); Recht auf effektiven Rechtsschutz (Feststellungsinteresse; Fortbestehen bei gewichtigem Grundrechtseingriff und typischerweise vor Erledigung nicht zu erlangendem Rechtsschutz); Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde mangels besonders schweren Nachteils bei ministerieller Entschuldigung.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 93a Abs. 2 BVerfGG

1. Sofern ein gewichtiger Grundrechtseingriff in Rede steht, kann ein Feststellungsinteresse trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzanliegens dann anzuerkennen sein, wenn sich die direkte Belastung durch den Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensverlauf auf einen Zeitraum beschränkt, in dem gerichtlicher Rechtsschutz regelmäßig nicht zu erlangen ist. Dies ist etwa bei Vollzugslockerungen der Fall, die für den Zeitraum unmittelbar vor der Entlassung beantragt werden.

2. Wurde einem Strafgefangenen gegen die Versagung einer Ausführung zu einem Beratungsgespräch lediglich aufgrund einer erkennbar rein versehentlichen Fehlleistung im Bereich der Gerichtsverwaltung nicht rechtzeitig Rechtsschutz gewährt, so ist die Annahme einer auf dahingehende Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde mangels eines besonders schweren Nachteils für den Beschwerdeführer i. S. d. § 93a Abs. 2 Buchst. b) BVerfGG nicht angezeigt, wenn die Landesjustizverwaltung den Vorfall gegenüber dem Betroffenen bereits bedauert und die Fehlerhaftigkeit des Ablaufs anerkannt hat.


Entscheidung

246. BVerfG 2 BvR 53/13 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 2. März 2014 (LG Aachen / AG Aachen)

Wiederaufnahme eines Bußgeldverfahrens wegen Nichtentrichtung von Beiträgen zur privaten Pflegeversicherung (neue Tatsache; fehlende Zahlungsfähigkeit; Parallele zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt); Recht auf effektiven Rechtsschutz (fehlende Rechtsmittelbelehrung; Erforderlichkeit einer Belehrung über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei gerichtlich verschuldeter Versäumung einer Rechtsmittelfrist; keine Zurechnung anwaltlichen Verschuldens).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 35a StPO; § 44 StPO; § 359 Nr. 5 StPO; § 266a StGB; § 46 Abs. 1 OWiG; § 85 OWiG; § 23 Abs. 1 SGB XI; § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI

1. Art. 19 Abs. 4 GG verbietet eine Anwendung von Verfahrensvorschriften in einer Art und Weise, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert.

2. Einem Rechtsschutzsuchenden, der aufgrund einer fehlenden gerichtlichen Rechtsmittelbelehrung ein Rechtsmittel nicht fristgerecht eingelegt hat, ist die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eröffnet. Über diese Möglichkeit ist der Betroffene ebenfalls zu belehren, soweit der Wiedereinsetzungsgrund in einem allein den Gerichten zuzurechnenden Fehler liegt. Erst mit dieser Belehrung beginnt die Wiedereinsetzungsfrist zu laufen.

3. Im Strafverfahren einschließlich eines Wiederaufnahmeverfahrens ist auch ein anwaltlich vertretener Betroffener zu belehren, weil die Zurechnung eines eventuellen anwaltlichen Mitverschuldens mit den Besonderheiten des Strafverfahrens nicht in Einklang stünde. Für das ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfahren gilt dies jedenfalls insoweit entsprechend, als der Gesetzgeber sich dort für die Übernahme strafprozessrechtlicher Regelungen entschieden hat.

4. Ein Verurteilter trägt eine neue Tatsache vor, die – entsprechend wie bei § 266a StGB – die Wiederaufnahme eines Bußgeldverfahrens wegen Nichtentrichtung von Beiträgen zur privaten Pflegeversicherung rechtfertigen kann, wenn er seine im Verwaltungsverfahren nicht bekannte fehlende Zahlungsfähigkeit geltend macht.