HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2013
14. Jahrgang
PDF-Download

IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

128. BGH 5 StR 412/12 – Urteil vom 28. November 2012 (LG Hamburg)

BGHSt; fristwahrende Sachverhandlung (Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens; Feststellungen zum Selbstleseverfahren als Sachverhandlung; zeitliches Nachfolgen der Anordnung auf die Feststellung des Vollzugs des Selbstleseverfahrens).

§ 229 StPO; § 249 Abs. 2 StPO

1. Sachverhandlung durch Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens. (BGHSt)

2. Allein die Feststellungen des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO stellen bereits eine inhaltliche (fristwahrende) Sachverhandlung i.S.v. § 229 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 S. 1 StPO dar (insoweit entgegen BGH, Beschl. vom 16. Oktober 2007 – HRRS 2007 Nr. 1066). Sie fördern den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachaufklärung und erschöpfen sich nicht in der bloßen Protokollierung einer außerhalb der Hauptverhandlung erfolgten Beweiserhebung. (Bearbeiter)

3. Jedenfalls die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO stellt unzweifelhaft eine Sachverhandlung dar. Sofern sie der Feststellung des Vollzugs des Selbstleseverfahrens durch Kenntnisnahme und Gelegenheit nachfolgt, ist dies zwar strukturell ungeschickt, aber unschädlich (vgl. BGH HRRS 2012 Nr. 235). (Bearbeiter)

4. Die Verfügung des Vorsitzenden in der Terminsanberaumung, dass von der Verlesung bestimmter Urkunden gemäß § 249 Abs. 2 StPO abgesehen werden solle, stellt noch keine Anordnung im Sinne dieser Vorschrift, sondern lediglich eine Vorankündigung zur Verfahrensgestaltung dar. (Bearbeiter)


Entscheidung

218. BGH 4 StR 372/12 – Beschluss vom 4. Dezember 2012 (LG Magdeburg)

Beweisantrag (Konnexität von Beweisbehauptung und Beweismittel; Beweisantrag „ins Blaue hinein“).

§ 244 Abs. 3, Abs. 6 StPO

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fehlt einem Antrag, mit dem zum Nachweis einer bestimmten Beweistatsache ein bestimmtes Beweismittel bezeichnet wird, die Eigenschaft eines nach § 244 Abs. 3 bis 6 StPO zu bescheidenden Beweisantrages, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne begründete Vermutung für ihre Richtigkeit aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde (vgl. BGH NStZ 2011, 169 Tz. 7 f). Ob eine solche nicht ernstlich gemeinte Beweisbehauptung gegeben ist, beurteilt sich aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen, wobei zu beachten ist, dass es dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt sein kann, auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, die er lediglich für möglich hält oder nur vermutet.


Entscheidung

97. BGH 3 StR 208/12 – Urteil vom 18. Oktober 2012 (LG Hildesheim)

Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit durch die Staatsanwaltschaft (keine begründete Ablehnung allein aufgrund von persönlichen Spannungen zwischen Staatsanwalt und Vorsitzendem; Verfestigung eines schon durch frühere Einzelumstände genährten Misstrauens des Ablehnenden durch nachfolgende dienstliche Stellungnahme des Abgelehnten; Entscheidung nach Beschwerdegrundsätzen); überzogene Anforderungen an den Vorsatz bzgl. der Amtsträgereigenschaft.

§ 24 Abs. 1 StPO; § 26 Abs. 3 StPO; § 338 StPO; § 11 StGB; § 15 StGB

1. Eine dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters kann dazu führen, dass einem schon durch frühere Einzelumstände genährten Misstrauen des Ablehnenden die Berechtigung nicht mehr abzusprechen ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Inhalt der Stellungnahme in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit den bereits geltend gemachten Ablehnungsgründen steht und nicht einen davon deutlich abgehobenen neuen Anknüpfungspunkt für die Besorgnis fehlender Unparteilichkeit liefert, der nur durch ein hierauf bezogenes neues Ablehnungsgesuch verfahrensrechtlich zur Geltung gebracht werden könnte.

2. Der Erfolg eines Ablehnungsgesuchs ist im Revisionsverfahren nach Beschwerdegesichtspunkten zu behandeln. Das Revisionsgericht ist nicht nur auf eine rechtliche Nachprüfung des tatrichterlichen Verwerfungsbeschlusses beschränkt (BGHSt 23, 265, 266).

3. Es bedarf keiner Entscheidung, inwieweit das Revisionsgericht das Urteil aufheben oder Ermittlungen im Freibeweisverfahren anstellen muss, wenn es aufgrund von Versäumnissen des Tatgerichts mangels ausreichender tatsächlicher Beurteilungsgrundlagen die Begründetheit des Ablehnungsgesuchs nicht ohne Weiteres prüfen kann.

4. Dass das Verhalten eines Vorsitzenden in einer Besprechung nicht den üblichen Umgangsformen entsprach, lässt bei ruhiger Prüfung der Sachlage noch nicht auf eine inhaltliche Vorfestlegung schließen.

5. Etwaige Spannungen zwischen einem Richter und einem bestimmten Staatsanwalt begründen ebenso wenig ohne weiteres Misstrauen der Staatsanwaltschaft gegen

die Unparteilichkeit des Richters wie Spannungen zwischen einem Richter und einem Verteidiger oder einem Sachverständigen zu berechtigtem Misstrauen des Angeklagten. Allen Fällen ist gemeinsam, dass regelmäßig Belastungen auf persönlicher Ebene – jedenfalls soweit es nicht um den Angeklagten selbst geht – nicht allgemein Rückschlüsse auf eine Voreingenommenheit in der Sache zulassen, falls keine besonderen Umstände hinzutreten.


Entscheidung

174. BGH 1 StR 531/12 – Beschluss vom 5. Dezember 2012 (LG München I)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgebot; Bedeutung einer Verfahrensaussetzung und des Verteidigungsverhaltens; Terminierung in Haftsachen und anderen Strafverfahren; Kompensation; Anforderungen an die zulässige Verfahrensrüge); mangelnde Bescheidung eines Beweisantrages (Ausschluss des Beruhens).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 199 GVG; § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 6 StPO

1. Nicht jede im Strafprozess vorkommende Verzögerung führt zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots im Sinne einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Eine solche liegt vielmehr erst bei von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortenden erheblichen Verzögerungen vor. Ob eine derartige erhebliche Verzögerung vorliegt, bemisst sich nach einer auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalles bezogenen Gesamtwürdigung. Innerhalb dieser sind vor allem die durch Verhalten der Justizorgane eingetretene Verzögerungen, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Prozessstoffs sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen zu berücksichtigen.

2. Im Rahmen der Gesamtwürdigung sind die vorgenannten Aspekte einzelfallbezogen gegeneinander abzugrenzen. Verfahrensverzögerungen, die durch den Beschuldigten (bzw. Angeklagten) oder seine Verteidigung verursacht worden sind, können für die Begründung einer Verfahrensverzögerung selbst dann nicht herangezogen werden, wenn es sich um zulässiges Prozessverhalten handelt.

3. Die Verteidigung mag zwar prozessual nicht verpflichtet sein, weitere Beweiserhebungen unverzüglich, nachdem sich aus ihrer Sicht eine Notwendigkeit dafür ergeben hat, anzuregen oder zu beantragen. Wartet sie jedoch mit einem solchen Begehren ab, obwohl sie damit an bereits zeitlich früher erhobene Beweise anknüpft, begründet eine dadurch bewirkte Verlängerung der Gesamtdauer des Verfahrens nach dem im vorstehenden Absatz genannten Maßstab der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine solche nicht.

4. Die notwendige Aussetzung des Verfahrens wegen einer anfänglich fehlenden Übersetzung der Anklageschrift kann dann nicht zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führen, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger in dem Termin zur Verkündung des angepassten Haftbefehls durch die Kammervorsitzende auf die Übersetzung des Haftbefehls ins Englische verzichtet hatten und auf das Fehlen der Übersetzung der Anklage erst in einem Schriftsatz gegenüber dem im Rahmen der Überprüfung der Haftfortdauerentscheidung mit der Sache befassten Oberlandesgericht München hingewiesen hatten.

5. Die für die Einhaltung des (besonderen) Beschleunigungsgebots in Untersuchungshaftsachen geltenden Maßstäbe für die Häufigkeit und die Dauer der Hauptverhandlungstermine kommen nicht ohne weiteres für die Beurteilung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zur Anwendung. Angesichts des sowohl im Völkerrecht (Art. 5 EMRK; Art. 9 IPBPR) als auch im deutschen Verfassungsrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG) hervorgehobenen Schutzes der Freiheit der Person gelten für die zeitliche Angemessenheit der Dauer der Freiheitsentziehung aufgrund Untersuchungshaft strengere Maßstäbe als für die Angemessenheit der Erledigung des Verfahrens insgesamt.

6. Der Senat lässt offen, ob es für die Zulässigkeit einer Rüge der Verletzung einer rechtsstaats- und konventionswidrigen Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht nur der Erhebung einer Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 199 Abs. 1 GVG) bedarf, sondern ob diese in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Eintreten des in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG bezeichneten Umstandes, der Besorgnis eines nicht zeitlich angemessenen Abschlusses des Verfahrens, geltend gemacht werden muss.

7. Ist die von der Verteidigung unter Beweis gestellte Tatsache von der Strafkammer auf einer anderen Grundlage bereits festgestellt worden, kann es bereits an einem Verstoß gegen § 244 Abs. 6 StPO fehlen. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Hinblick auf den Umgang mit Beweisanträgen anerkannt, dass die Tatgerichte unter bestimmten Voraussetzungen im Einzelfall berechtigt sind, einen Beweisantrag durch die Erhebung des Beweises mit einem anderen Beweismittel als das im Antrag genannte zu erledigen. Erfolgt zulässigerweise eine solche Art der Erledigung des Beweisantrags durch Austausch des Beweismittels, ist gelegentlich angenommen worden, es bedürfe dann auch keines Beschlusses über die Ablehnung des auf die Beweiserhebung mit einem anderen Beweismittel gerichteten Beweisantrags (BGH, Beschluss vom 30. April 2008 – 2 StR 132/08, NStZ 2008, 529). Ob diese Rechtsprechung auch dann zur Anwendung gelangen kann, – wofür vieles spricht (vgl. zu solchen Gründen insgesamt BGH, Beschluss vom 30. April 2008 – 2 StR 132/08, NStZ 2008, 529) – wenn das Tatgericht die mit dem Beweisantrag als zu beweisen bezeichnete Tatsache nicht auf ein anderes Beweismittel im engeren Sinne als das im Antrag aufgeführte, sondern auf die Einlassung des Angeklagten stützt, bedarf keiner Entscheidung.


Entscheidung

149. BGH 5 StR 578/12 – Beschluss vom 12. Dezember 2012 (LG Hamburg)

Recht zur Befragung der Belastungszeugin (erstmalige Vernehmung der Zeugin vor Ermittlung der Identität des Angeklagten; kein Antrag der Verteidigung auf er-

neute Vernehmung; Konfrontationsrecht; Gesamtbetrachtung).

Art. 6 Abs. 3 lit. d, Abs. 1 EMRK

1. Eine der Justiz zuzurechnende, vorwerfbar unterbliebene Konfrontation des Angeklagten mit einer Zeugin liegt nicht schon darin, dass eine Belastungszeugin nach ihrer polizeilichen Videovernehmung nicht nochmals richterlich vernommen worden ist, woran auch der Angeklagte oder seine Verteidigerin hätte teilnehmen können (vgl. auch BGH, Beschluss vom 22. Juni 2005 – 2 StR 4/05, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchstabe d Fragerecht 5). Dies gilt jedenfalls dann, wenn im Zeitpunkt der polizeilichen Vernehmung eine Ermittlung des Angeklagten als Täter noch nicht abgeschlossen war.

2. Machte der Angeklagte im Ermittlungsverfahren von seinem Schweigerecht Gebrauch, drängt sich die Notwendigkeit einer nochmaligen Vernehmung nicht auf.


Entscheidung

129. BGH 5 StR 416/12 (alt: 5 StR 402/11) – Beschluss vom 28. November 2012 (LG Potsdam)

Besetzungseinwand (Mitwirkung eines bereits an der aufgehobenen Entscheidung beteiligten Richters nach Zurückverweisung; Geschäftsverteilungsplan).

§ 222b StPO; § 354 Abs. 2 StPO

Ein Richter ist nicht etwa allein deshalb kraft Gesetzes oder wegen Besorgnis der Befangenheit von der Ausübung des Richteramts in einer vom Revisionsgericht zurückverwiesenen Sache ausgeschlossen, weil er bereits an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hatte. Durch eine Geschäftsverteilung, die dies zur Regel macht und so in die Beteiligung eines bereits an der aufgehobenen Entscheidung mitwirkenden Richters an den zurückverwiesenen Verfahren einer Strafkammer einmündet, wird indessen der Regelungsgehalt des § 354 Abs. 2 StPO bezogen auf Verfahren der betroffenen Strafkammer vollständig ausgehöhlt. Ein solcher Geschäftsverteilungsplan ist wegen eines Verstoßes gegen § 354 Abs. 2 StPO rechtswidrig.


Entscheidung

176. BGH 1 StR 593/12 – Beschluss vom 18. Dezember 2012 (LG Kaiserslautern)

Keine Nachholung oder Nachbesserung von unzulässigen Verfahrensrügen trotz vorheriger Mitwirkung von Justizpersonal (Urkundsbeamte).

Art. 6 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 345 Abs. 2 StPO

1. Eine Wiedereinsetzung zur Nachholung oder Nachbesserung von Verfahrensrügen kommt auch dann nicht in Betracht, wenn bei der Formulierung der als unzulässig bewerteten Verfahrensrügen zur Unterstützung des Angeklagten sachkundiges Justizpersonal mitgewirkt hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Urkundsbeamtin die Verfahrensrügen erkennbar allein deshalb in die Niederschrift aufnimmt, weil der Angeklagte auf deren Niederschrift bestanden hatte.

2. Die Aufnahme der offensichtlich unzulässigen Verfahrensrügen ist zu verweigern. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat sich nicht nur deswegen an der Anfertigung der Revisionsbegründung gestaltend zu beteiligen und die Verantwortung für den Inhalt zu übernehmen, damit die Interessen des Angeklagten auf eine formgerechte und zulässige Revisionsbegründung gewahrt werden, vielmehr soll hierdurch auch gewährleistet werden, dass dem Revisionsgericht die Prüfung grundloser oder unverständlicher Anträge erspart wird (vgl. BGHR StPO § 345 Abs. 2 Begründungsschrift 5).


Entscheidung

159. BGH StB 16/12 – Beschluss vom 18. Dezember 2012

Zeugnisverweigerungsrecht bei Gefahr der Strafverfolgung (Besonderheiten bei Organisationsdelikten; Reichweite des Strafklageverbrauchs im Verhältnis zu schwereren Straftaten; Zusammenhang zwischen abgeurteilten und noch verfolgbaren Taten).

§ 55 StPO; § 129 StGB; § 129a StGB; § 129b StGB

1. Die Gefahr der Strafverfolgung im Sinne des § 55 StPO setzt voraus, dass der Zeuge Tatsachen bekunden müsste, die geeignet sind, unmittelbar oder mittelbar den Anfangsverdacht einer von ihm selbst oder von einem Angehörigen (§ 52 Abs. 1 StPO) begangenen Straftat zu begründen oder einen bereits bestehenden Verdacht zu bestärken. Eine das Recht zur Auskunftsverweigerung begründende Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO besteht grundsätzlich dann nicht mehr, wenn gegen den Zeugen hinsichtlich der Tat, deren Begehung er sich durch wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage verdächtig machen könnte, bereits ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, sodass die Strafklage verbraucht ist.

2. Hinsichtlich des Strafklageverbrauchs gelten im Bereich der Organisationsdelikte grundlegende Besonderheiten: Danach werden im Vergleich zu §§ 129, 129a, 129b StGB schwerere Straftaten, die mit der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Vereinigung in Tateinheit stehen, dann nicht von der Rechtskraft eines allein wegen dieser Beteiligung ergangenen Urteils erfasst, wenn sie in dem früheren Verfahren tatsächlich nicht – auch nicht als mitgliedschaftlicher Beteiligungsakt – Gegenstand der Anklage und der Urteilsfindung waren. Daher ist ein wegen eines Organisationsdelikts Verurteilter durch die Rechtskraft des früheren Urteils nur vor weiterer Strafverfolgung wegen dieses Delikts und tateinheitlich mit diesem zusammentreffender weiterer, nicht schwerer wiegender Straftaten geschützt.

3. Eine Verfolgungsgefahr ist bei Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung ferner dann nicht auszuschließen, wenn zwischen der abgeurteilten Tat und anderen Straftaten, wegen derer der Zeuge noch verfolgt werden könnte, ein so enger Zusammenhang besteht, dass die Beantwortung von Fragen zu der abgeurteilten Tat die Gefahr der Verfolgung wegen dieser anderen Taten mit sich bringt. Ein solcher Zusammenhang kann auch bei einem – insoweit bereits rechtkräftig verurteilten – Mitglied einer terroristischen Vereinigung gegeben sein, wenn es so in die Strukturen der Vereinigung eingebunden, insbesondere in einer derart herausgehobenen Stellung tätig war, dass er schon deswegen weiterer Straftaten verdächtig ist, die aus der Vereinigung heraus begangen worden sind und für die in seiner Person Strafklageverbrauch nicht eingetreten ist.


Entscheidung

199. BGH 1 StR 297/12 – Beschluss vom 10. Januar 2013 (BGH)

Anspruch auf rechtliches Gehör (Anhörungsrüge; Auseinandersetzung des Gerichts mit Vorbringen eines Beteiligten); Bindungswirkung der Revisionsentscheidung.

Art. 103 Abs. 1 GG; § 356a StPO; § 358 StPO

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von einem Beteiligten entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.

2. Art. 103 Abs. 1 GG zwingt die Gerichte nicht, sich mit jedem einzelnen Vorbringen in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen und dieses zu bescheiden. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann nur dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht ein Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfGE 54, 86, 91).


Entscheidung

210. BGH 4 StR 177/12 – Urteil vom 13. Dezember 2012 (LG Kaiserslautern)

Beweiswürdigung (richterliche Überzeugung).

§ 261 StPO

1. Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt.

2. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer theoretischen Möglichkeit gründen. Es ist daher rechtsfehlerhaft, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen könnten. Alternative, für den Angeklagten günstige Geschehensabläufe sind erst dann bedeutsam, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte erbracht sind und sie deshalb nach den gesamten Umständen als möglich in Betracht kommen (vgl. BGH NStZ 2002, 243).


Entscheidung

219. BGH 4 StR 405/12 – Beschluss vom 4. Dezember 2012 (LG Münster)

Verhandlungsfähigkeit (Voraussetzungen; Feststellung für das Verfahren in der Tatsacheninstanz durch das Revisionsgericht)

§ 205 StPO

1. Für die Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne genügt es grundsätzlich, dass der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen (vgl. BGHSt 41, 16, 18)

2. Wenn während der Verhandlung, die zudem zeitweise in Anwesenheit eines psychiatrischen Sachverständigen stattgefunden hat, das Landgericht keine Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hatte und solche auch von dem Sachverständigen oder dem Verteidiger nicht geäußert wurden, kann die Verhandlungsfähigkeit grundsätzlich auch vom Revisionsgericht bejaht werden (vgl. BGH NStZ 1999, 258, 259).