HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2013
14. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zum Tatbestand der Urkundenunterdrückung bei Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs

Anmerkung zum Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. Juli 2012 (BGH 1 StR 238/12) = HRRS 2012 Nr. 858

Von Professor Dr. Frank Zieschang, Universität Würzburg

I. Der maßgebliche Sachverhalt

Die hier zu besprechende Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH verdient wegen einer Äußerung zur Vorschrift der Urkundenunterdrückung gemäß § 274 StGB Beachtung. Zunächst sei der maßgebliche Sachverhalt wiedergegeben, der den BGH dazu veranlasst hat, zu § 274 StGB Stellung zu nehmen: Der Angeklagte hatte, obwohl er zu keiner Zeit als Rechtsanwalt zugelassen war, zwei Anwaltsschreiben aufgesetzt, mit denen er erreichte, dass ihm Akten zu zwei ihn selbst betreffenden Ermittlungsverfahren ausgehändigt wurden. Zudem sprach er persönlich beim Amtsgericht vor und gab sich dort als Rechtsanwalt aus, was dazu führte, dass ihm die Akte zu einem ihn betreffenden Bußgeldverfahren überlassen wurde. Der Angeklagte gab diese Akten nie zurück.

Der 1. Strafsenat beschränkte im Hinblick auf diese drei Fälle die Strafverfolgung mit Zustimmung des Generalbundesanwalts gemäß § 154a Abs. 2 StPO auf den Vorwurf des Missbrauchs von Berufsbezeichnungen im Sinne des § 132a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Dabei führt der BGH - ohne dass dies notwendig wäre - aus, es bedürfe im Hinblick auf die Verfahrensbeschränkung keiner abschließenden Entscheidung, ob sich der Angeklagte wegen dieses Sachverhalts darüber hinaus schon deswegen der Urkundenunterdrückung gemäß § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht hat, weil die Absicht der Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs von dieser Vorschrift erfasst ist. Insoweit wendet sich der 1. Strafsenat gegen eine Entscheidung des 4. Strafsenats aus dem Jahr 2010[1] und verweist zur Stützung der These, dass § 274 auch diesen Fall abdeckt, auf "beachtliche Argumente" in einem Aufsatz von Schneider[2] sowie auf die Kommentierung des § 274 StGB durch Puppe im Nomos Kommentar.[3] Der 1. Strafsenat macht damit deutlich, dass er dazu tendiert, § 274 StGB auch bei der Absicht der Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs zu bejahen.

II. Der bisherige Meinungsstand in Rechtsprechung und Schrifttum

Ob die Vereitelung des staatlichen Straf- oder Bußgeldanspruchs genügt, um die in § 274 StGB geforderte Absicht, einem anderen einen Nachteil zuzufügen, annehmen zu können, wird in Rechtsprechung und Schrifttum kontrovers beurteilt.

Bislang hat die Rechtsprechung dies verneint. Bereits 1977 hat das OLG Zweibrücken ohne weitere Begründung entschieden, dass darin kein Nachteil erblickt werden könne, den ein anderer erleidet.[4] Das Bayerische Oberste Landesgericht ist dem gefolgt, ebenfalls ohne sich im Einzelnen mit der Frage auseinander zu setzen.[5] Auch der BGH hat in zwei Entscheidungen betont, dass die Nachteilszufügungsabsicht nicht bei der Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs gegeben sei. Als Begründung führt er an, dass insoweit kein "anderer" benachteiligt werde.[6] Weiter erläutert wird diese Auffassung jedoch nicht. Dies ist allein in einem Urteil des AG Rosenheim der Fall.[7] Es argumentiert, dass Angriffe auf die Beweisführung im Strafverfahren abschließend durch § 258 StGB geregelt seien. Diese Vorschrift nehme die Selbstbegünstigung von der Strafbarkeit aus und privilegiere in § 258 Abs. 6 StGB den Angehörigen. Vor diesem Hintergrund sei kein Grund erkennbar, weshalb die Urkunde im Strafverfahren über § 274 Abs. 1 StGB stärker geschützt sein soll als andere Beweismittel. Es könne insbesondere nicht erklärt werden, dass ein Angehöriger,

der ein Augenscheinsobjekt zerstöre, nach § 258 StGB straffrei bleibe, während derjenige, welcher eine Urkunde unterdrückt, über § 274 StGB zur Verantwortung gezogen werden müsste. Zudem komme strafprozessual dem Urkundenbeweis im Vergleich zum Personalbeweis eine geringere Bedeutung zu, sodass ein materiellrechtlich stärkerer Schutz der Urkunde dazu in Widerspruch stehe. Die Rechtsprechung verneint also die Voraussetzungen des § 274 StGB. Dem steht jetzt die Entscheidung des 1. Strafsenats gegenüber, die anders als bislang in solchen Fällen zur Bejahung des § 274 StGB tendiert.

Die überwiegende Auffassung im Schrifttum geht bisher ebenfalls davon aus, in derartigen Fällen § 274 StGB zu verneinen, wobei die Begründungen teilweise differieren: Die Vereitelung des Strafanspruchs stelle keinen Nachteil dar.[8] Es werde kein "anderer" benachteiligt.[9] Es liege eine Form der Selbstbegünstigung vor, deren Pönalisierung unangemessen erscheine.[10] § 274 StGB dürfe nicht dazu führen, dass der nemo-tenetur-Grundsatz umgangen werde.[11] § 263 StGB schütze den staatlichen Straf- und Bußgeldanspruch ebenfalls nicht.[12] Die Verhinderung staatlicher Sanktionen sei in den §§ 258, 258a StGB abschließend geregelt.[13]

Es finden sich aber auch Gegenstimmen, welche den Fall der Vereitelung des staatlichen Bußgeld- und Strafanspruchs unter § 274 StGB subsumieren.[14] "Anderer" könne auch die Allgemeinheit sein.[15] Es spreche vom Wortsinn nichts dagegen, den Staat als "anderen" zu betrachten.[16] Wenn unter "Nachteil" namentlich die Verschlechterung der Beweislage zu erblicken sei, bleibe gänzlich unerfindlich, weshalb der Staat im Strafverfolgungskontext am Schutz des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht partizipieren dürfe.[17] Eine Strafbarkeit nach § 274 StGB soll aber vor dem Hintergrund des nemo-tenetur-Grundsatzes dann entfallen, wenn lediglich eine passive Unterdrückung im Raum steht,[18] also der Betreffende, um eine Selbstbelastung zu vermeiden, sich weigert, einer gesetzlichen Urkundenvorlagepflicht nachzukommen.

III. Stellungnahme

Die Wiedergabe des Meinungsstands in Rechtsprechung und Literatur offenbart, dass an unterschiedliche Aspekte angeknüpft wird, um die Vereitelung des staatlichen Straf- und Bußgeldanspruch von der Nachteilszufügungsabsicht des § 274 StGB auszunehmen. Im Folgenden sollen die jeweiligen Argumente auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden.

Ein immer wieder angeführtes Argument ist, dass es an einem "Nachteil" fehle. Insofern ist jedoch zu betonen, dass der Wortlaut des § 274 StGB - anders als bei anderen Vorschriften - keine solche Eingrenzung vollzieht. So geht es etwa in § 263 StGB nicht bloß um einen "Vorteil", der erstrebt werden muss, sondern verlangt wird die Absicht, einen "Vermögens"vorteil zu erlangen. In § 257 StGB erfolgt die Eingrenzung, dass sich die Absicht darauf beziehen muss, die Vorteile der Vortat zu sichern. Im Bereich des § 253 geht es im objektiven Tatbestand nicht nur um die Zufügung eines Nachteils, sondern darum, dem "Vermögen" des Genötigten oder eines anderen Nachteil zuzufügen. Dagegen weist § 274 StGB derartige Einschränkungen des Nachteilsbegriffs nicht auf. Folgerichtig betont der BGH, dass der erstrebte Nachteil nicht vermögensrechtlicher Natur sein muss, sondern jede Beeinträchtigung fremder Beweisführungsrechte genügt.[19] Das ist richtig und konsequent. Dann kann aber durchaus auch die Vereitelung des staatlichen Straf- und Bußgeldanspruch unter den Begriff des Nachteils subsumiert werden.[20]

Weiterhin wird vorgetragen, der Staat oder die Allgemeinheit sei kein "anderer". Aber auch hierbei wird zu wenig Rücksicht auf den Gesetzeswortlaut genommen. So wird in § 274 StGB nicht wie etwa in § 223 StGB von einer "anderen Person" oder etwa in §§ 315, 315a, 315b, 315c StGB von einem "anderen Menschen" gesprochen. "Anderer" können damit in § 274 StGB nicht nur natürliche Personen sein, sondern auch juristische Personen, der Staat oder die Allgemeinheit. Der Wortlaut jedenfalls verbietet eine solche Auslegung nicht. Auch schließt der Sinn der Vorschrift eine solche Deutung nicht aus. So kann "anderer" im Sinne des § 257 StGB ausschließlich eine natürliche Person sein, denn nur diese können nach deutschem Strafrecht eine rechtswidrige Tat begehen; derartige zwingende Schlussfolgerungen sind aber bei § 274 StGB nicht zu ziehen. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Staat von vornherein als Opfer einer Straftat ausscheidet. Dass eine solche Sicht jedoch sehr fragwürdig erscheint, zeigt sich allein schon an der Existenz der so genannten "Staatsschutzdelikte" im Sin-

ne der §§ 80 ff. StGB. Zudem ist jedem einsichtig, dass etwa auch der Staat Opfer eines Diebstahls oder einer Sachbeschädigung werden kann, wenn zum Beispiel bei einem Polizeieinsatz Waffen der Polizei gestohlen oder beschädigt werden. Im vorliegenden Zusammenhang verdeutlicht insbesondere die Vorschrift des § 258 StGB, dass der Staat und dessen Interessen durchaus von einer Vorschrift geschützt sein können, wenn es dort nach überwiegender Auffassung um den Schutz der Strafrechtspflege geht.[21] Von daher vermag das Argument, der Staat sei kein "anderer", nicht zu überzeugen.

Handelt es sich aber möglicherweise bei § 258 StGB in Bezug auf die Vereitelung staatlicher Sanktionen um eine abschließende Sonderregelung, sodass daneben § 274 StGB nicht anwendbar ist?

Konsequent zu Ende gedacht müsste dies indes bedeuten, dass derjenige nicht gemäß §§ 212, 211 StGB bestraft werden dürfte, welcher den einzigen Belastungszeugen tötet, um sich der Strafverfolgung zu entziehen, da § 258 StGB Sperrwirkung entfaltet. Der Straftäter dürfte ebenso ihn belastendes Material stehlen oder rauben, ohne eine Bestrafung nach §§ 242, 249 StGB einschließlich der jeweiligen Qualifikationen zu befürchten. Demzufolge könnte er ihn belastende echte Urkunden vernichten und müsste nicht mit einer Bestrafung aus § 274 StGB rechnen. Diese Beispiele offenbaren bereits mit hinreichender Deutlichkeit, welche extremen Konsequenzen es hätte, § 258 StGB als abschließende Sonderregelung zu betrachten. Es verhält sich vielmehr so, dass zwar § 258 Abs. 5 StGB das Selbstbegünstigungsprivileg normiert, dies jedoch nur für die Strafvereitelung als solche gilt, nicht jedoch auch für andere mit ihr in Tateinheit stehende Taten.[22] § 258 Abs. 5 entfaltet also keine Sperrwirkung.[23] So hat die Rechtsprechung etwa entschieden, dass trotz Straflosigkeit der Selbstbegünstigung eine Bestrafung etwa wegen Hehlerei oder Unterschlagung in Betracht komme, wenn diese Vorschriften durch die Selbstbegünstigungshandlung verwirklicht werden.[24] Insofern geht auch die Auffassung des AG Rosenheim[25] fehl. Die Selbstbegünstigung ist kein Freibrief dahingehend, Straftaten zu begehen. Durch die Anwendung des § 274 StGB werden Urkunden entgegen der Ansicht des AG Rosenheim auch nicht stärker geschützt als andere Beweismittel. So würden bei einem Angriff auf Zeugen §§ 211 ff., 223 ff. StGB in Betracht kommen, bei einer Beeinträchtigung von Augenscheinsobjekten möglicherweise § 303 StGB. Ein Angehöriger, der ein Augenscheinsobjekt zerstört, bleibt also nicht über § 258 StGB zwingend "straffrei". Darüber hinaus gibt es im Strafprozessrecht kein Rangverhältnis der Beweismittel,[26] sodass es zumindest missverständlich ist, wenn das AG Rosenheim formuliert, strafprozessual komme dem Urkundenbeweis im Vergleich zum Personalbeweis eine geringere Bedeutung zu. Im Übrigen ist dem AG Rosenheim bei seiner Argumentation entgegen zu halten, dass der materiellrechtliche Urkundenbegriff mit dem strafprozessualen nicht identisch ist, da bei der Urkunde im prozessualen Sinn einerseits kein Aussteller erkennbar sein muss, andererseits Verlesbarkeit Voraussetzung ist.[27] Insofern kann also schon deswegen nicht davon gesprochen werden, die Urkunde werde materiellrechtlich stärker geschützt als ihre prozessuale Bedeutung sei.

Mitunter wird das Argument vorgebracht, auch § 263 StGB schütze nicht den staatlichen Straf- und Bußgeldanspruch, was dann ebenfalls für § 274 StGB zu gelten habe. Grund dafür, dass Bußgeld- und Strafansprüche aus dem Vermögensbegriff ausscheiden, ist jedoch, dass es sich hierbei nicht um Gegenstände des Wirtschaftsverkehrs handelt.[28] Diese Maßnahmen sind wegen ihrer besonderen staatlichen Funktion nicht vermögensrechtlicher Natur und haben keine Beziehung zum wirtschaftlichen Verkehr.[29] Dargelegt worden ist jedoch bereits, dass § 274 StGB gerade nicht voraussetzt, dass der erstrebte Nachteil vermögensrechtlicher Natur ist. Im Gegensatz zu § 263 StGB geht es in § 274 StGB nicht um Vermögensschutz. Dass also der staatliche Straf- und Bußgeldanspruch nicht vermögensrechtlicher Natur ist und damit nicht § 263 StGB unterfällt, ist folglich für § 274 StGB irrelevant, da es dort nicht um Vermögensschutz geht, sondern um den Schutz des Bestandes von Urkunden und um den Schutz der Beweisposition an der Urkunde,[30] sodass § 274 StGB auch in Bezug auf die Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs durch Beeinträchtigung der Beweiseigenschaft einer Urkunde einschlägig ist. Auch dieser Aspekt hindert also die Anwendung des § 274 StGB nicht.

Zu erörtern bleibt, ob möglicherweise der nemo-tenetur-Grundsatz einer Anwendung des § 274 StGB entgegenstehen kann. Der Grundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare" besagt, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten, niemand also an seiner eigenen Überführung mitwirken muss.[31] Nach dem EGMR bildet dieses Prinzip den Kern eines fairen Verfahrens.[32] Der deutsche Rechtsprechung zählt den Grundsatz zu den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens, verfassungsrechtlich abgesichert durch die gemäß Art. 1, 2 Abs. 1 GG garantierten Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde sowie der freien Entfaltung der Persönlichkeit.[33] Aus diesem Prinzip folgt zunächst einmal, dass der Beschuldigte das Recht hat, zu dem ihm gegenüber erhobenen Vorwurf zu schweigen. Darüber hinaus resultiert daraus aber auch die Freiheit des Beschuldigten, selbst darüber zu befinden, ob er an der Aufklärung des

Sachverhaltes in anderer Weise als durch Äußerungen zum Untersuchungsgegenstand aktiv mitwirken will oder nicht; der Beschuldigte darf also nicht zu Tests, Tatrekonstruktionen, Schriftproben oder zur Schaffung ähnlicher für die Erstattung eines Gutachtens notwendiger Anknüpfungstatsachen gezwungen werden.[34]

Im vorliegenden Fall hat jedoch der Angeklagte nicht bloß nicht mitgewirkt, sondern ist aktiv tätig geworden: So hat er zwei Anwaltsschreiben aufgesetzt, mit denen er vollbrachte, dass ihm zwei Akten zu Ermittlungsverfahren gegen ihn ausgehändigt wurden. Zudem gab er sich der Wahrheit zuwider persönlich beim Amtsgericht als Anwalt aus und erreichte, dass ihm eine weitere Akte übergeben wurde, in der es um ein ihn betreffendes Bußgeldverfahren ging. Die hier vorliegende aktive intendierte Vereitelung des staatlichen Straf- und Bußgeldanspruchs ist jedoch nicht mehr vom nemo-tenetur-Grundsatz gedeckt; dieses Prinzip berechtigt lediglich zum Unterlassen, zur Passivität, indem der Betreffende nicht selbst an seiner eigenen Überführung mitwirken muss; nicht mehr erfasst davon ist jedoch, dass der Beschuldigte aktiv Beweismittel beeinträchtigt. Ein derartiges Verhalten fällt nicht mehr unter das nemo-tenetur-Prinzip, weil der Betreffende über das Recht, nicht an seiner eigenen Überführung mitzuwirken, hinausgeht, indem er selbst Beweise vernichtet.

Auch der nemo-tenetur-Grundsatz hindert folglich im vorliegenden Fall die Anwendung des § 274 StGB nicht. Sämtliche gegen die Heranziehung der Vorschrift vorgetragenen Aspekte greifen letztlich nicht durch. Vielmehr fällt das Verhalten des Beschuldigten unter den Tatbestand der Urkundenunterdrückung. Es ist somit richtig, wenn sich der 1. Strafsenat in der hier zu besprechenden Entscheidung relativ deutlich für die Anwendung der Norm ausspricht.

Unabhängig von dem hier zu besprechenden Fall bleibt jedoch zu prüfen, ob nicht ausnahmsweise der nemo-tenetur-Grundsatz doch dazu führen kann, dass § 274 StGB nicht angewendet werden darf. Es geht um Fälle, in denen öffentlich-rechtliche Vorlagepflichten normiert sind, jedoch die Aushändigung der Unterlagen eine Ordnungswidrigkeit oder Straftat des Vorlagepflichtigen offenbaren würde. So hat die Rechtsprechung es insbesondere im vorliegenden Kontext des § 274 StGB damit zu tun gehabt, dass ein Fahrzeugführer nicht seiner bußgeldbewehrten Pflicht[35] etwa aus § 57a Abs. 2 S. 4 StVZO nachgekommen ist, einem Polizeibeamten ein Fahrtenschreiberschaublatt vorzulegen, mit dem sich insbesondere ein bußgeldrelevanter Sachverhalt wie eine Geschwindigkeitsüberschreitung beweisen lässt.[36] Hier steht der Betreffende im Konflikt, entweder durch die Aushändigung an der Aufklärung der eigenen Ordnungswidrigkeit mitzuwirken oder sich anderenfalls bei Nichtvorlage wegen Unterdrückens von Urkunden, sofern die Voraussetzungen des objektiven Tatbestands erfüllt sind, ihm also insbesondere im Sinne des Beweisführungsrechts die Urkunde nicht oder nicht ausschließlich gehört, gemäß §§ 274, 13 StGB strafbar zu machen.[37] Dieser dadurch hervorgerufene Zwang zur Selbstbelastung könnte gegen den nemo-tenetur-Grundsatz verstoßen.[38]

Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf die in § 4 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 FPersG normierte und gemäß § 8 Abs. 1d FPersG bußgeldbewehrte Pflicht zur Vorlage von Unterlagen ausgeführt, die Verhängung von Sanktionen für die Verletzung von Ordnungsvorschriften, die ihrerseits den Zweck haben, die Überwachung der Einhaltung und eventuell die Verfolgung der Verletzung von Vorschriften zu ermöglichen, stelle angesichts sich sonst ergebender sanktionsloser Umgehungsmöglichkeiten ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Mittel zur Gewährleistung einer wirksamen Kontrolle dar.[39] Dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen, werde durch das in § 4 Abs. 4 FPersG normierte Auskunftsverweigerungsrecht hinreichend Genüge getan.[40]

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überzeugt indes in mehrfacher Hinsicht nicht. Zum einen betrifft § 4 Abs. 4 FPersG nur das Recht zur Verweigerung der Auskunft, nicht aber die Pflicht zur Vorlage von Urkunden. Weiterhin ist die Nichtbefolgung der Pflicht zur Vorlage von Urkunden, aus denen sich dann möglicherweise eine Ordnungswidrigkeit ergibt, ein Ordnungswidrigkeitentatbestand. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass damit ein Zwang zur Selbstbelastung aufgestellt wird, denn bei nicht erfolgter Mitwirkung muss der Betreffende ein Bußgeld zahlen. Das indes stellt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit dar. Denn der nemo-tenetur-Grundsatz findet richtigerweise auch im reinen Ordnungswidrigkeitenrecht Anwendung.[41]

Bezogen auf die Vorlagepflicht nach § 57a Abs. 2 S. 4 StVZO kommt hinzu, dass noch nicht einmal eine vergleichbare Regelung wie § 4 Abs. 4 FPersG existiert. Zudem ist ausgeführt worden, dass bei Nichtvorlage des Schaublatts nicht nur eine Ordnungswidrigkeit verwirklicht wird,[42] sondern sogar eine Strafbarkeit nach §§ 274, 13 StGB im Raum steht. Der Betroffene würde damit letztlich unter Strafandrohung gezwungen, an der eigenen Überführung mitzuwirken. Das verstößt jedoch gegen den nemo-tenetur-Grundsatz, der es u.a. auch verbietet, dass ein Betroffener gezwungen wird, durch eigene Mitwirkungshandlungen sich selbst einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu überführen, hier dann durch die strafbewehrte Pflicht zur Herausgabe des Schaublatts.

Diesem Ergebnis kann dadurch entgegnet werden, dass §§ 274, 13 StGB auf diese Fallkonstellation nicht angewendet wird. Dogmatisch lässt sich das erreichen durch eine teleologische Reduktion des Tatbestands.[43] In Betracht kommt aber auch eine verfassungskonforme Auslegung des §§ 274, 13 StGB, indem in derartigen Fällen im Sinne des § 13 Abs. 1 a.E. StGB das Unterlassen nicht mehr der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht und folglich §§ 274, 13 StGB entfällt.[44] Der nemo-tenetur-Grundsatz verkörpert das Recht zum Unterlassen der Mitwirkung, er erlaubt hingegen nicht die aktive Beeinträchtigung von Beweisen. Folglich entspricht in diesen Fällen das Unterlassen nicht einem Tun.

IV. Abschließende Bemerkungen

Die hier besprochene Entscheidung des BGH veranlasst noch zu zwei kurzen abschließenden Bemerkungen.

Zum einen hat der BGH ebenfalls offengelassen, ob die Entziehung der Akten den Tatbestand des Verwahrungsbruchs gemäß § 133 StGB erfüllt. Insoweit ist jedoch zu betonen, dass sich die einem Verteidiger übergebenen Verfahrensakten in dienstlicher Verwahrung befinden.[45] Ihm werden die Akten dienstlich in Verwahrung gegeben. Hier hat der Angeklagte die Akten der dienstlichen Verfügung entzogen. § 133 StGB ist daher ebenfalls einschlägig.

Zum anderen klingt in der Entscheidung das Konkurrenzverhältnis von § 267 StGB zu § 269 StGB an. Insofern ist im Schrifttum umstritten, ob beide Vorschriften nebeneinander stehen[46] oder § 269 von § 267 StGB verdrängt wird.[47] Dabei wird als Argument für das Zurücktreten des § 269 StGB dessen Auffangfunktion angeführt.[48] Zu beachten ist jedoch, dass es zwar richtig ist, dass Grund für die Einführung des § 269 StGB computerspezifische Strafbarkeitslücken waren, die man im Bereich der Verarbeitung von Daten befürchtete.[49] § 269 StGB hat aber - auch durch die inzwischen weit verbreitete Nutzung des Internet - einen eigenständigen Bedeutungsgehalt.[50] So denke man nur an Masken, die bei Bestellungen oder Online-Anmeldungen mit Personalangaben auszufüllen sind, oder an Emails, die von einem anderen Absender als dem Vorgegebenen stammen. In sehr vielen Fällen werden heutzutage ganz ohne Ausdruck Daten direkt aus dem Computer zur Weiterverarbeitung genutzt. Es stellt nicht selten sogar die Regel dar. Dann kann jedoch nicht davon gesprochen werden, § 269 StGB habe lediglich Auffangfunktion. Vielmehr liegt heute zumindest auch ein Schwergewicht auf der Datenfälschung. Falls es dann (ausnahmsweise) zum einem Ausdruck kommt und eine unechte Urkunde im Sinne des § 267 StGB entsteht, sollten schon aus Klarstellungsgründen, dass es um zwei Falsifikate geht,[51] § 269 StGB, der die unechte Datenurkunde betrifft,[52] und § 267 StGB, der sich auf die unechte Urkunde bezieht, als gleichrangig nebeneinander stehen.


[1] BGH NStZ-RR 2011, 276 = HRRS 2010 Nr. 979.

[2] Schneider NStZ 1993, 16, 18 f.

[3] Puppe, in: Nomos Kommentar, StGB, 3. Aufl. (2010), § 274 Rn. 12 ff.

[4] OLG Zweibrücken GA 1978, 316, 317.

[5] BayObLG NZV 1989, 81; ebenso BayObLG NZV 1999, 213, 214.

[6] BGH NStZ-RR 2011, 276, 277 (4. Strafsenat) = HRRS 2010 Nr. 979; BGHR StGB § 274 Nachteil 2 (5. Strafsenat); ebenso OLG Düsseldorf NZV 1989, 477; abweichend nur AG Elmshorn NJW 1989, 3295, ohne sich insofern mit der Nachteilszufügungsabsicht intensiv auseinander zu setzen.

[7] AG Rosenheim BeckRS 2007, 12497.

[8] Siehe Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 274 Rn. 16; Eisele, Strafrecht BT I, 2. Aufl. (2012), Rn. 905; Hecker JuS 2002, 224, 226; Kindhäuser, Strafrecht BT I, 5. Aufl. (2012), § 57 Rn. 16; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teilbd. 2, 10. Aufl. (2012), § 65 Rn. 106; Rengier, Strafrecht BT II, 13. Aufl. (2012), § 36 Rn. 8, 11; BeckOK-Weidemann, StGB, § 274 Rn. 11; Satzger/Schmitt/Widmaier-Wittig, StGB (2009), § 274 Rn. 21; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, 36. Aufl. (2012), Rn. 895.

[9] Cramer/Heine (Fn. 8) § 274 Rn. 16; Fischer, StGB, 60. Aufl. (2013), § 274 Rn. 9; Geppert, JK 8/07, StGB § 274/6; Gössel/Dölling, Strafrecht BT 1, 2. Aufl. (2004), § 52 Rn. 47; Hohmann/Sander, Strafrecht BT II, 2. Aufl. (2011), § 19 Rn. 19; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. (2011), § 274 Rn. 7.

[10] Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf-Heinrich, Strafrecht BT, 2. Aufl. (2009), § 33 Rn. 34.

[11] Dölling/Duttge/Rössner-A. Koch, Gesamtes Strafrecht, 2. Aufl. (2011), § 274 StGB Rn. 17.

[12] Eisele (Fn. 8) Rn. 905.

[13] Geppert, JK 8/07, StGB § 274/6; Hecker JuS 2002, 224, 227.

[14] Hoyer , in: Systematischer Kommentar, StGB (2012), § 274 Rn. 15; Jäger, Strafrecht BT, 4. Aufl. (2011), Rn. 442; Krack NStZ 2000, 423 f.; Puppe NStZ 1989, 477, 478 f.; dies. (Fn. 3) § 274 Rn. 14; Schneider NStZ 1993, 16, 18 ff.; wohl auch Freund, in: Münchener Kommentar, StGB (2006), § 274 Rn. 47.

[15] Bottke JR 1991, 252, 255.

[16] Jäger (Fn. 14) Rn. 442; Puppe (Fn. 3) § 274 Rn. 14; Schneider NStZ 1993, 16, 19.

[17] Schneider NStZ 1993, 16, 18.

[18] So Bottke JR 1991, 252, 255; Schneider NStZ 1993, 16, 23; auch Puppe NStZ 1989, 477, 478.

[19] BGHSt 29, 192, 196.

[20] Zieschang, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. (2009), § 274 Rn. 59.

[21] Siehe zum Meinungsstand T. Walter, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. (2010), § 258 Rn. 3 ff.

[22] Fischer (Fn. 9) § 258 Rn. 36.

[23] Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 258 Rn. 39; T. Walter (Fn. 21) § 258 Rn. 133; vgl. auch BVerfGE 16, 191, 194.

[24] BGHSt 15, 53, 54.

[25] Siehe bei Fn. 7.

[26] Vgl. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte (1998), S. 115.

[27] Siehe Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. (2012), Rn. 203.

[28] Tiedemann, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. (2012), § 263 Rn. 145.

[29] BGHSt 38, 345, 351 f.; BayObLG JR 1991, 433; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 263 Rn. 78a; Tiedemann (Fn. 28) § 263 Rn. 145.

[30] Zieschang (Fn. 20) § 274 Rn. 1.

[31] Siehe nur Beulke (Fn. 27) Rn. 125.

[32] EGMR 2011, 201, 202 = HRRS 2011 Nr. 1; siehe auch BGHSt 52, 11, 17 = HRRS 2007 Nr. 676; BGHSt 38, 214, 220.

[33] BVerfGE 56, 37, 43; BGHSt 52, 11, 17 = HRRS 2007 Nr. 676; vgl. auch BGHSt 42, 139, 152.

[34] So BGHSt 42, 139, 152; BGHSt 34, 39, 46.

[35] Die Nichtvorlage stellt eine Ordnungswidrigkeit dar; § 69a Abs. 5 Nr. 6, Nr. 6c StVZO; beachte auch § 69a Abs. 5 Nr. 6a StVZO.

[36] Vgl. BayObLG NZV 1989, 81; OLG Düsseldorf NZV 1989, 477, wobei hier der Betreffende vor der Herausgabe das Schaublatt zerrissen hatte, was nach den Ausführungen im Text als aktives Beschädigen nicht mehr von nemo-tenetur-Grundsatz gedeckt ist und unter § 274 StGB fallen kann.

[37] Gleichzeitig ist die Nichtvorlage bußgeldbewehrt, § 69a Abs. 5 Nr. 6, Nr. 6c StVZO. Insofern greift § 21 OWiG.

[38] In diese Richtung Bottke JR 1991, 252, 255; Schneider NStZ 1993, 16, 23; auch Puppe NStZ 1989, 477, 478; siehe oben bei Fn. 18.

[39] BVerfG VkBl 1985, 303.

[40] BVerfG VkBl 1985, 303; ebenso OLG Hamm NZV 1992, 159; Krumm DS 2005, 96, 97; Zeising NZV 1994, 383, 385; zum Fahrtenbuch siehe BVerwG NJW 1989, 2704; BVerwG NJW 1981, 1852; BVerwG NJW 1964, 1384. Das FG Hamburg hat in der im österreichischen Recht sanktionsbewehrten (Verwaltungsübertretung) Lenkerauskunft (Benennung des Fahrers) einen Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung gesehen; FG Hamburg DStRE 2010, 1331; siehe dazu auch Schäpe, in: Buschbell, Straßenverkehrsrecht, § 3 Rn. 32; der EGMR hat in Bezug auf diese Regelung mit 4 zu 3 Stimmen einen Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK verneint; EGMR JR 2005, 423 mit Anm. Gaede.

[41] Maeder, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung (1997), S. 118, 121; Zieschang wistra 1999, 18.

[42] § 69a Abs. 5 Nr. 6, Nr. 6c StVZO.

[43] So Schneider NStZ 1993, 16, 23.

[44] Richtigerweise darf auch nicht der Ordnungswidrigkeitentatbestand nach § 69a Abs. 5 Nr. 6, Nr. 6c StVZO Anwendung finden.

[45] BGH NStZ-RR 2011, 276, 277 = HRRS 2010 Nr. 979; Fischer (Fn. 9) § 133 Rn. 5; Satzger/Schmitt/Widmaier-Jeßberger (Fn. 8) § 133 Rn. 7; Ostendorf, in: Nomos Kommentar, StGB, 3. Aufl. (2010), § 133 Rn. 14; Rengier, Strafrecht BT II, 13. Aufl. (2012), § 57 Rn. 8; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. (2010), § 133 Rn. 10.

[46] So etwa Erb, in: Münchener Kommentar, StGB (2006), § 269 Rn. 41; Fischer (Fn. 9) § 269 Rn. 12; Joecks, StGB, 10. Aufl. (2012), § 269 Rn. 28; Puppe (Fn. 3) § 269 Rn. 39 f.; Zieschang (Fn. 20) § 269 Rn. 29 ff.

[47] So etwa Cramer/Heine (Fn. 8) § 269 Rn. 25; Lackner/Kühl (Fn. 9) § 269 Rn. 12; Satzger/Schmitt/Widmaier-Hilgendorf (Fn. 8) § 269 Rn. 12.

[48] Etwa Cramer/Heine (Fn. 8) § 269 Rn. 25; Lackner/Kühl (Fn. 9) § 269 Rn. 12.

[49] Siehe Zieschang (Fn. 20) § 269 Rn. 1 m.w.N.

[50] Vgl. Eisele, Festschr. f. Puppe (2011), S. 1091, 1094 Fn. 12.

[51] Vgl. Puppe (Fn. 3) § 269 Rn. 39.

[52] Vgl. Erb (Fn. 46) § 269 Rn. 41.