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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 210

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 177/12, Urteil v. 13.12.2012, HRRS 2013 Nr. 210


BGH 4 StR 177/12 - Urteil vom 13. Dezember 2012 (LG Kaiserslautern)

Beweiswürdigung (richterliche Überzeugung).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt.

2. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer theoretischen Möglichkeit gründen. Es ist daher rechtsfehlerhaft, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen könnten. Alternative, für den Angeklagten günstige Geschehensabläufe sind erst dann bedeutsam, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte erbracht sind und sie deshalb nach den gesamten Umständen als möglich in Betracht kommen (vgl. BGH NStZ 2002, 243).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 1. Februar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung sachlichen Rechts. Das von dem Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. In der unverändert zugelassenen Anklage ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am frühen Morgen des 27. Juli 2011 den Geschädigten E. P. bei einer tätlichen Auseinandersetzung in der Wohnung der Zeugin S. absichtlich durch einen Messerstich in die Brust getötet und sich dadurch des Totschlags schuldig gemacht zu haben.

2. Nach den Feststellungen hielten sich der Geschädigte P., die Zeugin S. und der Angeklagte am frühen Morgen des Tattages gemeinsam in der Wohnung der Zeugin S. auf. Ab 3.30 Uhr kam es zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten zu einem Streit, an dem sich möglicherweise auch die Zeugin S. beteiligte. Noch vor 4.40 Uhr schlug dieser Streit in eine tätliche Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und P. um. Möglicherweise mischte sich die Zeugin S. auch hier wieder in das Geschehen ein. Auf wessen Seite und wie weit ihre Beteiligung dabei ging, blieb "unklar" (UA 7). Im Verlauf dieser Auseinandersetzung wurden dem Geschädigten neben einer Verletzung des Kehlkopfes und einer Schnittwunde am Kinn zwei Stiche mit einem Küchenmesser beigebracht. Ein Stich erfolgte in den Rücken und war für sich allein nicht tödlich. Der andere traf ihn von vorne ins Herz.

Wer welchen Stich setzte und in welcher Reihenfolge die Stiche und die übrigen Verletzungen beigebracht wurden, konnte nicht geklärt werden. Es steht jedoch fest, dass der Angeklagte einen von beiden Stichen gesetzt hat. Dabei ist das Landgericht in Anwendung des Zweifelsgrundsatzes davon ausgegangen, dass es sich hierbei um den für sich allein nicht tödlichen Stich in den Rücken gehandelt hat. Dieser wurde durch den Angeklagten "wohl in liegender Position unter P. gesetzt", nachdem er in dieser Lage das Küchenmesser erstmals zu fassen bekam (UA 8). Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte in diesem Moment "begründeten Anlass für die Annahme hatte", P. wolle ihn töten und sich ausweglos in die Enge gedrängt sah.

Nach der Rückenverletzung gelang es dem Angeklagten zumindest kurzfristig, die Oberhand zu gewinnen und P. im Flur auf dem Rücken liegend am Boden zu fixieren. Um 4.40 Uhr verließ der schwer verletzte Geschädigte die Wohnung. Nach einer Wegstrecke von ca. 70 Metern brach er zusammen und verstarb noch vor 5.00 Uhr an den Folgen des Herzstichs.

3. Das Landgericht hat sich aufgrund der Spurenlage und der Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen davon überzeugt, dass dem Geschädigten beide Messerstiche in der Wohnung der Zeugin S. beigebracht wurden (UA 13). Seine Überzeugung, dass zumindest einer dieser Stiche von dem in der Hauptverhandlung jede Tatbeteiligung abstreitenden Angeklagten gesetzt worden ist, hat es aus einer Einlassung des Angeklagten vom 27. Juli 2011 gegenüber dem Polizeibeamten A. hergeleitet. Dort hatte der Angeklagte über eine tätliche Auseinandersetzung mit dem Geschädigten berichtet und angegeben, er habe in der Küche ein Messer zu fassen bekommen und damit einmal auf den Geschädigten eingestochen (UA 21). Die in diesem Zusammenhang von dem Angeklagten demonstrierte und von dem Polizeibeamten A. in der Hauptverhandlung nachgestellte Stichbewegung sei mit einem Stich in den Rücken eines direkt gegenüberstehenden Kontrahenten vereinbar (UA 22). Dass der Angeklagte ein zweites Mal zugestochen hat, vermochte das Landgericht nicht mit der notwendigen Sicherheit festzustellen, weil der Angeklagte gegenüber dem Polizeibeamten A. nur einen Stich geschildert habe und das übrige Beweisergebnis einen zweiten Stich des Angeklagten nicht belege (UA 29). Die Zeugin S. habe keine verlässlichen Angaben zum Tatgeschehen gemacht und sei bemüht gewesen, ihr Wissen zu verbergen (UA 37). Das Spurenbild lasse keine sicheren Schlüsse zur zeitlichen Reihenfolge der Stiche und zur Körperposition der Beteiligten zu. Aus der Lage der Stichverletzungen (Brustvorderseite und Brustrückseite) sei zu schließen, dass die ursächlichen Stiche "nicht aus der zeitlich punktuell selben Kampfsituation heraus" beigebracht wurden. Wären sie von derselben Person gesetzt worden, "hätte diese Person zwischen den Stichen wohl ihre relative Position zu seinem Gegenüber eher verändert. Gleichermaßen könnte allerdings auch ein Dritter, sei es die Zeugin S., sei es der Angeklagte zu dem Geschehen nach dem ersten Stich durch den jeweils anderen hinzugetreten sein" (UA 39). Ein gewisser Hinweis darauf, dass beide Stiche von derselben Person stammen könnten, ergebe sich allerdings daraus, dass ein aufgefundenes Küchenmesser mit Blutanhaftungen zu beiden Einstichen von der Größe her passe und ein weiteres Messer mit Blutanhaftungen nicht gefunden worden sei (UA 40).

Hinsichtlich des festgestellten Stichs in den Rücken hat das Landgericht eine durch einen rechtswidrigen Angriff des Geschädigten eingetretene und die Stichführung unter dem Gesichtspunkt der Notwehr "rechtfertigende Bedrängnis" des Angeklagten nicht auszuschließen vermocht. Der Angeklagte habe gegenüber der Polizei am Tattag in mehreren Varianten über einen Angriff des Geschädigten berichtet (UA 52 ff.). Dem wegen eines Tötungsdelikts vorbestraften P. seien derartige Angriffe nicht wesensfremd gewesen. Der Umstand, dass der Angeklagte von sich aus die Polizei verständigen wollte, spreche dafür, dass er sich im Recht fühlte (UA 55). Aus der Tatsache, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht mehr auf eine Notwehrlage berufen habe, könne nichts Gegenteiliges hergeleitet werden, weil es der Fall sein könne, dass er sich von einem völligen Bestreiten der Tat eine bessere Verteidigungsposition erhofft habe (UA 56). Dass der Stich in den Rücken erfolgt ist, schließe die Annahme einer Notwehrsituation nicht aus, da ein solcher Stich nicht notwendig auch "hinterrücks" und damit ohne Androhung erfolgt sein müsse (UA 58).

II.

Diese Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Seiner Beurteilung unterliegt nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn der Tatrichter die von ihm festgestellten Tatsachen nicht unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten gewürdigt hat oder über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggegangen ist (BGH, Urteil vom 29. September 1998 - 1 StR 416/98, NStZ 1999, 153). Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt es auch, ob überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 191/11; Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110 Rn. 11; Urteil vom 18. Januar 2011 - 1 StR 600/10, NStZ 2011, 302, 303). Hieran gemessen unterliegt die landgerichtliche Beweiswürdigung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Zurechnung des zweiten Stichs für nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar gehalten hat, lassen besorgen, dass es bei der richterlichen Überzeugungsbildung von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen ist. Auch wurde das vorhandene Beweismaterial nicht erschöpfend gewürdigt.

Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer theoretischen Möglichkeit gründen (BGH, Urteil vom 1. September 1993 - 2 StR 361/93, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 22; vgl. Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, NStZ-RR 2002, 243). Es ist daher rechtsfehlerhaft, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen könnten. Alternative, für den Angeklagten günstige Geschehensabläufe sind erst dann bedeutsam, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte erbracht sind und sie deshalb nach den gesamten Umständen als möglich in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147; Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, NStZ 2002, 243; Beschluss vom 8. September 1989 - 2 StR 392/89, BGHR StGB § 213 Beweiswürdigung 1).

Vor dem Hintergrund der durch objektive Beweismittel abgesicherten Feststellung, dass dem Geschädigten beide Stiche in der Wohnung der Zeugin S. beigebracht wurden, dort zur Tatzeit neben dem Angeklagten und dem Geschädigten nur noch die Zeugin S. anwesend war, und angesichts der weiteren gegen den Angeklagten sprechenden Verdachtsmomente (tätliche Auseinandersetzung mit dem Geschädigten, im Ermittlungsverfahren eingeräumter Messereinsatz) konnte eine Zurechnung auch des zweiten Stichs nur noch dann zweifelhaft sein, wenn eine Stichbeibringung durch die Zeugin S. als alternativer Geschehensverlauf nach den Umständen in Betracht zu ziehen gewesen wäre. Das Landgericht hat es dafür ausreichen lassen, dass die Stichverletzungen auch von zwei Tätern gesetzt worden sein können, die Zeugin S. unglaubhafte Angaben gemacht und der Angeklagte keinen eigenen zweiten Stich geschildert hat. Damit werden jedoch noch keine konkreten Umstände aufgezeigt, die für einen gegen den Geschädigten gerichteten Messerangriff der Zeugin S. sprechen könnten.

Hinzu kommt, dass sich das Landgericht in diesem Zusammenhang nicht mit den Einlassungen des Angeklagten auseinandergesetzt hat, die dieser im Ermittlungsverfahren zur Rolle der Zeugin S. bei der Auseinandersetzung mit dem Geschädigten gemacht hat. So hat der Angeklagte noch am Tattag gegenüber dem Zeugen A. angegeben, die Zeugin habe versucht, ihn von dem Geschädigten wegzuziehen und sei deshalb von ihm geschlagen worden (UA 21). Gegenüber dem Polizeibeamten E. hat der Angeklagte ebenfalls noch am Tattag erklärt, dass die Zeugin S. gerufen habe, was sie da machen würden; sie habe an ihm gezerrt und er habe versucht, sie wegzustoßen. Dabei habe der Geschädigte weiter auf ihn eingeschlagen (UA 22). In diesem Zusammenhang berichtete der Angeklagte auch über eigene Wahrnehmungen zu der Herzstichverletzung, ohne einen Bezug zu dem Verhalten der Zeugin S. herzustellen. Stattdessen gab er auf Nachfrage an, dass es sein könne, "dass er das gewesen sei" (UA 23). Beide Einlassungen enthalten keinen Hinweis auf einen Messerstich der Zeugin S. zum Nachteil des Geschädigten. Stattdessen legen sie nahe, dass die Zeugin lediglich schlichtend in die Auseinandersetzung eingegriffen hat. Hiermit stimmt überein, dass auch die (unbeteiligten) Zeugen Sa. und D. nur über einen lauten Streit zwischen zwei Männern berichtet haben.

Vor diesem Hintergrund ist zu besorgen, dass die Strafkammer verkannt hat, dass sie eine Einlassung des Angeklagten, für die es keine Anhaltspunkte gibt, nicht zu dessen Gunsten unterstellen muss, zumal der Angeklagte erst in der Hauptverhandlung von einer über Schlichtungsversuche hinausgehenden Beteiligung der Zeugin S. an dem Streit berichtet hat.

Die Sache bedarf daher schon aus diesem Grund neuer Verhandlung und Entscheidung.

3. Sollte der neue Tatrichter zu der Überzeugung gelangen, dass der an seinem bisherigen Verteidigungsverhalten festhaltende Angeklagte für einen oder beide Messerstiche verantwortlich ist, wird er zu beachten haben, dass dem Angeklagten kein Nachteil daraus erwachsen darf, dass er die Tat bestreitet und deshalb nicht in der Lage ist, zum Vorliegen einer Notwehrsituation vorzutragen. Sollten insoweit keine sicheren Feststellungen getroffen werden können, sind allerdings auch hier Unterstellungen zugunsten des Angeklagten nur gerechtfertigt, wenn es dafür reale Anknüpfungspunkte gibt (BGH, Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, NStZ 2002, 243).

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 210

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2013, 117

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel