Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2012
13. Jahrgang
PDF-Download
1. Die Einschätzung des Tatgerichts, der Angeklagte habe nach einem verübten Totschlagsversuch den Eintritt des Tötungserfolgs nicht für möglich gehalten oder sich insoweit zumindest keine Gedanken gemacht, muss in den Feststellungen eine Stütze finden. Dies gilt insbesondere, wenn der Angeklagte dem Geschädigten danach zwei wuchtige Stiche in die linke Brustkorbseite versetzt, die unmittelbar unterhalb des Herzens trafen und lebensgefährliche Verletzungen hervorriefen und zum Sturz des Geschädigten führten.
2. Der Versuch eines Tötungsdelikts ist bei einer „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber in engstem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang nach Erkenntnis seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt. Haben sich der Angeklagte und der Geschädigte aber zu diesem Zeitpunkt bereits voneinander entfernt, kann es indes am erforderlichen – „engsten“ –
räumlichen Zusammenhang fehlen und aus der Sicht des Angeklagten zur Vollendung eines Tötungsdelikts ein erneuter Geschehensablauf in Gang zu setzen sein.
Das Gericht kann regelmäßig nicht aufgrund von eigener Sachkunde beurteilen, ob eine von der Verteidigung behauptete und unter Sachverständigenbeweis gestellte psychische Erkrankung der Hauptbelastungszeugin (paranoide Persönlichkeitsstörung) im Falle ihrer Feststellung Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit der Zeugin hat. Ein Erfahrungssatz, wonach zwischen den im ICD-10 für die paranoide Persönlichkeitsstörung aufgeführten Symptomen und der Zeugentüchtigkeit keine Wechselwirkung besteht, entbehrt wissenschaftlicher Grundlage.
1. Die bloße Abhängigkeit von Drogen kann eine (schwere) andere seelische Abartigkeit sein, soweit sie nicht wegen körperlicher Abhängigkeit zu den krankhaft seelischen Störungen gehört (exogene Psychosen). Die bloße Abhängigkeit beeinflusst für sich genommen die Steuerungsfähigkeit jedoch nicht. Dies ist erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn langjähriger Betäubungsmittelmissbrauch zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat. In diesen Fällen liegen regelmäßig zugleich ein organischer Befund und eine krankhafte seelische Störung vor. Auch beim akuten Rausch ist ein Ausschluss oder die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit möglich. Schwere Entzugserscheinungen können die Steuerungsfähigkeit bei Beschaffungsdelikten nur in seltenen Ausnahmefällen, z.B. in Kombination mit Persönlichkeitsveränderungen, aufheben. Entzugserscheinungen, welche erst bevorstehen, können mitunter den Drang zur Beschaffungskriminalität übermächtig werden lassen, wenn die Angst des Täters vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm („grausamst“) erlitten hat und die er als nahe bevorstehend einschätzt, sein Hemmungsvermögen erheblich vermindert. Dies kann dann insbesondere bei Heroinkonsum die Voraussetzungen des § 21 StGB begründen, ist jedoch trotz der bei den verschiedenen Drogen unterschiedlichen Entzugsfolgen auch bei Kokain nicht von vorneherein völlig ausgeschlossen.
2. Die Aussagekraft allein des quantifizierten Nachweises von Drogen und ihrer Abbauprodukte im Blut, im Urin und in den Haaren ist im Hinblick auf die Frage der Steuerungsfähigkeit eines Täters bei der Tat nur begrenzt. Im Rahmen einer Gesamtschau sind aufgrund der psychodiagnostischen Merkmale unter ergänzender Verwertung der Blut-, Urin- und Haarbefunde (hinsichtlich des Betäubungs- und hier auch Alkoholkonsums) Rückschlüsse auf die Tatzeitbefindlichkeit des Täters zu ziehen.
3. Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist, erfolgt in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren, ohne dass die Nichteinhaltung einzelner Schritte nach rechtlichen Maßstäben fehlerhaft sein muss. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen; es ist festzustellen, ob, in welcher Weise und in welchem Umfang sie sich auf dessen Tatverhalten ausgewirkt haben.
4. Zur Vermittlung der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen im Hinblick auf die Diagnose einer psychischen Störung, deren Schweregrad und deren innerer Beziehung zur Tat wird der Richter auf sachverständige Hilfe angewiesen sein, sofern er hierzu nicht aufgrund eigener Sachkunde befinden kann. Dabei bedarf es der Darlegung der Störung anhand der vier Eingangsmerkmale und dazu, in welchem Ausmaß die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aus fachwissenschaftlicher Sicht bei der Tat beeinträchtigt waren. Vom Sachverständigen wird keine juristisch normative Aussage erwartet, sondern eine empirisch vergleichende über das Ausmaß der Beeinträchtigung des Täters, etwa im Vergleich zum Durchschnittsmenschen oder anderen Straftätern. Denn bei der Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme verminderter Schuldfähigkeit – insbesondere der auch normativ geprägten Beurteilung der Erheblichkeit der Verminderung von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit – handelt es sich um Rechtsfragen. Das abschließende Urteil über die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ist ausschließlich Sache des Richters.
5. Die Anforderungen an die Darlegungen in einem Urteil zur Überprüfung und Bewertung sachverständiger Äußerungen durch das Gericht sind nicht immer gleich. Liegt ein in sich stimmiges, in seinen Feststellungen und Beurteilungen ohne weiteres nachvollziehbares Sachverständigengutachten vor, werden häufig nach dessen Darstellung knappe Ausführungen genügen, aus denen insbesondere folgt, dass sich das Gericht erkennbar bewusst war und danach entschieden hat, dass es allein seine
Aufgabe ist, das abschließende normative Urteil über die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zu treffen, auch wenn es dem Sachverständigen letztlich uneingeschränkt folgt. Unnötige Wiederholungen sind auch in diesem Bereich zu vermeiden. Anders ist es, wenn die sachverständigen Äußerungen zur Steuerungsfähigkeit nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind, Lücken aufweisen oder im Widerspruch zu sonstigen Feststellungen und Bewertungen der Strafkammer stehen.
1. Ohne Kenntnis des konkreten Tatanlasses lässt sich ein „eklatantes Missverhältnis zwischen Anlass und Tat“, wie es in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Annahme niedriger Beweggründe führen kann, nicht belegen.
2. Dass ein Angeklagter aus Verärgerung über seine Kündigung willkürlich eine unbeteiligte (und darüber hinaus wehrlose) Person zum Opfer macht und deshalb tötet, kann grundsätzlich Grundlage für die Annahme niedriger Beweggründe sein.
1. Wenn sich der Täter des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes dazu entschließt, das infolge des Missbrauchs laut schreiende und weinende Kind zu töten, kann darin ein niedriger Beweggrund liegen, der im Wege einer Gesamtwürdigung zu erörtern ist.
2. Ein Beweggrund ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist; ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche alle äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren einschließt.
3. Der Bundesgerichtshof nimmt bei Tötungen aus nichtigem, nicht nachvollziehbarem Anlass – etwa aus Wut und Verärgerung – besonders verwerfliche Tötungsmotive im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB an, wenn die zugrunde liegenden Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen. Erst recht muss diese Wertung regelmäßig gelten, wenn der Täter den äußeren Impuls, der sein zur Tötung des Opfers führendes Handeln ausgelöst hat, durch vorangegangenes Verhalten selbst herbeigeführt hat. Selbst wenn der Angeklagte das Kind allein deshalb getötet haben sollte, weil es nicht aufhörte zu schreien und er es durch sein Handeln „nur“ zum Schweigen bringen bzw. ruhig stellen wollte, kann dies vor dem Hintergrund, dass er selbst durch den sexuellen Missbrauch für die Schmerzensschreie die Ursache gesetzt hatte, auf einen nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehenden und deshalb besonders verachtenswerten Handlungsantrieb hindeuten.
1. Allein die Anwesenheit einer zweiten Person, die sich passiv verhält, genügt für die Annahme einer gemeinschaftlichen Begehung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht aus. Gemeinschaftliches Handeln bedeutet ein einverständliches Zusammenwirken, bei dem sich die abstrakte Gefährlichkeit des Tuns dadurch erhöht, dass zwei Angreifer mehr bewerkstelligen können als nur einer. Es kann aber auch derjenige diesen Qualifikationstatbestand verwirklichen, der weder eigenhändig Verletzungshandlungen vornimmt, noch überhaupt Mittäter ist. Ausreichend ist bereits das gemeinsame Wirken eines Täters und eines Gehilfen bei der Begehung einer Körperverletzung. Ein solches liegt schon dann vor, wenn die zweite Person – auch vom Opfer wahrgenommen – unterstützungsbereit am Tatort anwesend ist.
2. Auch kurze Berührungen über der Kleidung können die Erheblichkeitsschwelle des § 184g Nr. 1 StGB überschreiten. Die Beurteilung einer Handlung als erheblich im Sinne des § 184g Nr. 1 StGB hängt in erster Linie von Art, Intensität und Dauer ihres sexualbezogenen Teils ab. Von wesentlicher Bedeutung sind aber auch der Handlungsrahmen, in dem der unmittelbar sexualbezogene Akt begangen wird, und die Beziehung der Beteiligten untereinander. Auch sie können dem sexuellen Zugriff im engeren Sinne mehr oder weniger Gewicht verschaffen. Ob die Erheblichkeitsschwelle überschritten wurde, bestimmt sich somit nach dem Grad der Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; ledig-
lich unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus.
3. In allen Fällen – auch solchen, in denen nicht eine am Opfer vorgenommene Handlung, sondern eine vom Opfer am Täter oder einem Dritten vorgenommene Handlung inmitten steht – kann für § 184g Nr. 1 StGB nicht allein auf die Dauer und Stärke der sexualbezogenen Handlung abgestellt werden. Vielmehr bedarf es einer Gesamtbewertung der Umstände unter Berücksichtigung des Handlungsrahmens und der sonstigen Begleitumstände, in dem der unmittelbar sexualbezogene Akt begangen wird.
4. Jedenfalls bei einer erzwungenen Vornahme einer sexualbezogenen Handlung an einem anderen entfällt die Erheblichkeit der Handlung im Sinne von § 184g Nr. 1 StGB nicht schon deswegen, weil die Berührung nicht kräftig und nachhaltig war.
1. Die berufliche Stellung als Lehrer an der Schule, die die Geschädigte als Schülerin besuchte, begründet ebenso wie die Tätigkeit als Veranstalter der von der Geschädigten wahrgenommenen Arbeitsgemeinschaft „Schulsanitätsdienst“ und als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK, deren Mitglied die Geschädigte war, nicht stets ein Obhutsverhältnis.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Voraussetzung eines Obhutsverhältnisses im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem jeweiligen Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus. Es kann daher außer im schulischen Bereich auch in anderen, den Verhältnissen an einer Schule vergleichbaren Fällen vorliegen, etwa im Einzel- oder im Mannschaftssport, ebenso in einem anderweitigen Ausbildungsverhältnis. Maßgebend sind indes in jedem Fall die konkreten, tatsächlichen Verhältnisse. Wenn sich die Obhutsbeziehung mit dem von der Strafvorschrift vorausgesetzten Anvertrautsein nicht wie bei einem Lehrer im Verhältnis zu den von ihm als Klassen- oder Fachlehrer unterrichteten Schülern nicht von selbst verstehen, kann es bei Vorliegen anderer Fallgestaltungen genauerer Darlegung der erforderlichen Voraussetzungen bedürfen.
3. Jedenfalls an größeren Schulen mit einem für den einzelnen Schüler nur schwer überschaubaren Lehrerkollegium ergibt es sich ein Obhutsverhältnis nicht schon aus der bloßen Zugehörigkeit von Lehrern und Schülern zu derselben Schule, sondern regelmäßig erst mit der Zuweisung eines Schülers an einen bestimmten Lehrer, der dadurch die in § 174 Abs. 1 StGB vorausgesetzten Pflichten übernimmt.
4. Die Annahme eines Obhutsverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler kann zwar auch unabhängig von der eigentlichen Unterrichtserteilung entstehen, etwa bei Aufsichtstätigkeiten oder im Rahmen besonderer Veranstaltungen der Schule, zu denen auch die Durchführung einer von den Schulbehörden genehmigten, nicht zum regulären Unterricht zählenden Arbeitsgemeinschaft zählt.
5. Ein „nachwirkendes“ Obhutsverhältnis erfüllt den Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht.
1. Die absichtliche Herbeiführung eines Auffahrunfalls stellt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Bereiten eines Hindernisses im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 2 bzw. des § 315 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar.
2. Mit der allgemein gehaltenen Erwägung, wegen des plötzlichen Aufpralls eines Fahrzeugs auf einen anderen Pkw habe die konkrete Gefahr erheblicher Verletzungen insbesondere im Kopf- und Halswirbelsäulenbereich bestanden, ist die erforderliche konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB nicht hinreichend belegt. Vielmehr sind regelmäßig genaue Feststellungen insbesondere zu den Geschwindigkeiten der Pkws im Zeitpunkt der Kollision und der Intensität des Aufpralls zwischen den beteiligten Fahrzeugen erforderlich.