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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2012
13. Jahrgang
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Von Wiss. Mit. Dr. jur. Dr. phil. Milan Kuhli, Universität Frankfurt am Main
Die Fallkonstellation, mit der sich der 2. Strafsenat am 21. Dezember 2011 zu befassen hatte, mutet zunächst nicht ungewöhnlich an: Der Angeklagte ermöglichte der Geschädigten den Konsum eines berauschenden Mittels, das schließlich zum Tode führte. Doch erweist sich bei näherer Betrachtung bereits die Frage als problematisch, ob unter dem Begriff des Drogenkonsums das Verhalten des Tatopfers überhaupt richtig erfasst werden kann. Anders etwa als in dem klassischen Heroinspritzenfall[1] aus dem Jahre 1984 verfolgte das Tatopfer in der vorliegenden Konstellation jedenfalls nicht von Anfang an den Zweck, sich selbst zu berauschen.
Der Angeklagte und das Tatopfer waren in der Vergangenheit miteinander liiert. Später trennten sie sich jedoch und der Angeklagte verlobte sich mit einer anderen Frau. Laut Sachverhalt vereinbarten er und das Tatopfer allerdings am 7. Juni 2009 (nach einem Streit mit seiner Verlobten), "einige Zeit gemeinsam in Trier[zu]verbringen[…], wo die Geschädigte über ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft verfügte".[2] Die beiden trafen sich kurze Zeit später und verbrachten einige Tage miteinander. Im Sachverhalt heißt es hierzu: "Die Geschädigte, die den Angeklagten als ‚die Liebe ihres Lebens’ bezeichnete, hoffte wieder auf eine gemeinsame Zukunft".[3] Der Angeklagte hatte zu diesem Treffen eine Flasche sogenanntes "Cleanmagic" mitgebracht, die er auf dem Tisch des in diesen Tagen gemeinsam mit dem Tatopfer genutzten Zimmers abstellte. Bei "Cleanmagic" handelt es sich um ein als Reinigungsmittel angebotenes Präparat, das aus dem Wirkstoff Gamma-Butyrolacton besteht und erhebliche berauschende Wirkung hat. Das Mittel wurde vom Angeklagten regelmäßig als Droge verwendet. Die Geschädigte wusste zwar offensichtlich von der berauschenden Wirkung, hatte aber Angebote des Angeklagten, von dem "Cleanmagic" zu probieren, in der Vergangenheit stets abgelehnt. Erst am Abend des 12. Juni 2009 füllte das Tatopfer sich ein Glas "Cleanmagic" ein, trank eine erhebliche Menge hiervon und verstarb einige Zeit später an den Folgen. Der Angeklagte hatte der Geschädigten kurz zuvor eröffnet, an der Verlobung mit der anderen Frau festzuhalten.
Die Frage, welche Motive das Opfer bewogen haben könnten, das "Cleanmagic" zu konsumieren, besitzt eine erhebliche strafrechtliche Relevanz, da hiervon sowohl Aspekte der Eigenverantwortlichkeit als auch der Garantenpflicht berührt werden. Insoweit bietet die hier besprochene Entscheidung Anlass zu einigen Anmerkungen.
Im Ergebnis bejaht der Senat die Strafbarkeit des Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB). Der Angeklagte habe dadurch, dass er für die in Lebensgefahr schwebende Geschädigte keine notärztliche Hilfe verständigte, seine Handlungspflichten verletzt und hierdurch vorsätzlich den Tod des Opfers herbeigeführt. In der Begründung geht das Gericht zunächst auf das Vorliegen einer Garantenpflicht ein (dazu 1.) und verneint anschließend ein eigenverantwortliches Handeln des Tatopfers (dazu 2.).
1. Die für eine Strafbarkeit wegen Unterlassens erforderliche Garantenpflicht erblickt der 2. Strafsenat in einer Ingerenz des Angeklagten, also in einem pflichtwidrigen gefährdenden Vorverhalten, das in dem Bereitstellen des "Cleanmagic" bestehe. Die entsprechenden abstrakten Ausführungen des Gerichts wiederholen die in der bisherigen Rechtsprechung[4] entwickelten Grundsätze, wonach jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, die zum Schutz anderer Personen erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die ein verständiger und umsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält.[5] Weiter heißt es: "Strafbar
ist die Nichtabwendung einer Gefahr aus der vom Garanten eröffneten Gefahrenquelle dann, wenn eine nahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können".[6]
Bis hierhin begegnen die Ausführungen des Senats keinen Bedenken. Doch anders verhält es sich mit der folgenden Subsumtion: Das Gericht bejaht eine Handlungspflicht des Angeklagten, da dieser durch das Abstellen der Flasche "Cleanmagic" auf dem Tisch des gemeinsam genutzten Zimmers eine erhebliche Gefahrenquelle geschaffen habe. Die spezifische Gefährlichkeit des Tuns des Angeklagten wird dabei vom Senat wie folgt begründet: "Er hatte der Geschädigten früher den Konsum angeboten, weshalb[am Tatabend]auch die Möglichkeit bestand, dass sie davon trinken würde".[7] Hierzu ist Folgendes anzumerken: Natürlich hängt die Gefährlichkeit des Verhaltens des Angeklagten – also des Bereitstellens von "Cleanmagic" – entscheidend von der erkennbaren Konsumbereitschaft der Geschädigten ab. Jedoch erweist es sich als inkonsistent, wenn das Gericht diese Wahrscheinlichkeit mit der Begründung bejaht, dass der Angeklagte dem Tatopfer in der Vergangenheit bereits von diesem Mittel angeboten habe. Wirft man nämlich einen Blick in die entsprechenden Tatsachenfeststellungen des Urteils, so liest man dort: "Er[der Angeklagte]hatte auch der Geschädigten angeboten, ebenfalls dieses Mittel [Cleanmagic]zu konsumieren, was aber nicht erfolgt war".[8]
Somit ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Geschädigte in der Vergangenheit stets von einem Konsum des "Cleanmagic" abgesehen hatte, obwohl ihr das Mittel vom Angeklagten wiederholt angeboten worden war. Die Erfolglosigkeit dieser Genussangebote ist damit vor allem Zeichen der grundsätzlichen Resistenz des Opfers – eine spezifische Konsumbereitschaft lässt sich aus den Angeboten keinesfalls ableiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Umstände der Beziehung zwischen beiden bedenkt – eine Beziehung, in der sich der Angeklagte in den Worten des Senats "dominant zeigte, während ihm die Geschädigte ‚in Hörigkeit und Liebe’ zugetan war".[9] Es heißt nun aber, die Situation in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn der Bundesgerichtshof aus den früheren Konsumangeboten des Angeklagten gegenüber dem Opfer darauf schließt, die Geschädigte sei am Tatabend konsumgeneigt gewesen. In Anbetracht der Tatsache, dass die vergangenen Angebote des Angeklagten allesamt erfolglos gewesen waren, wäre es Aufgabe des Senats gewesen darzulegen, warum am Abend des 12. Juni 2009 gleichwohl eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Konsums gegeben sein sollte, während dies in den Tagen zuvor nicht der Fall gewesen war.
Im Ergebnis wirkt sich dieser Mangel in der Urteilsbegründung aber nicht aus, da nach hier vertretener Ansicht am Tatabend tatsächlich derartige die Gefährlichkeit erhöhenden Umstände zu verzeichnen waren. Der Angeklagte hatte dem Opfer am Tatabend eröffnet, "dass er weiter an seiner Verlobung mit einer anderen Frau festhalte"[10] – eine Erklärung, die bei der Geschädigten nach den Urteilsfeststellungen tiefe Enttäuschung hervorrief. Es spricht damit einiges dafür, dass man in dieser psychischen Ausnahmesituation einen Umstand erblicken kann, der im Zusammenwirken mit der leichten Verfügbarkeit des Rauschmittels aus Sicht eines objektiven Dritten "eine nahe liegende Möglichkeit begründet[e] […], dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können".[11]
Da der Senat demnach (im Ergebnis zu Recht) vom Vorliegen einer Garantenpflicht aus Ingerenz ausgegangen ist, bestand auch keine Veranlassung, andere Quellen einer Garantenpflicht – etwa aus eheähnlicher Lebensgemeinschaft[12] – in Erwägung zu ziehen. Gegenüber der Annahme der Existenz einer solchen Garantenpflicht wären im vorliegenden Fall ohnehin einige Bedenken anzumelden. Sie resultieren vor allem aus der Tatsache, dass es nach den Urteilsfeststellungen fraglich erscheint, ob die Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem Tatopfer als eine solche charakterisiert werden kann, die nach der Art ihrer Entstehung und des dadurch begründeten Vertrauensverhältnisses die Gewähr für gegenseitige Hilfe und Fürsorge in sozialtypischen Gefahrenlagen einschloss.[13] Dies ist zwar auch bei kurzzeitigen Beziehungen nicht auszuschließen, allerdings verbietet sich eine abschließende Stellungnahme für den vorliegenden Fall, da dies weitere Feststellungen über die konkreten Vorstellungen und Pläne des Angeklagten und des Tatopfers vorausgesetzt hätte.
2. Nachdem der Senat das Vorliegen einer Garantenpflicht bejahte, widmete er sich der Frage, ob das Tatopfer eine eigenverantwortliche Selbsttötung begangen hat. Diese Frage ist nach allgemeinen Grundsätzen deswegen bedeutsam, weil ein Garant, der eine frei verantwortliche Selbsttötung geschehen lässt, nicht als Unterlassungstäter strafbar ist.[14] Zur Frage der Eigenverantwortlichkeit führt der Strafsenat aus: "Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dem spontanen Trinken des Reinigungsmittels habe kein ernstlicher Selbsttötungsentschluss zu Grunde gelegen. Da die Geschädigte in Anwesenheit des Angeklagten von dem Reinigungsmittel trank, ist davon auszugehen, dass sie dies tat, um auf sich aufmerksam zu machen. Es lag kein freiverantwortlicher Selbsttötungsentschluss zugrunde".[15] Diese Ausführungen dürften frei von Rechtsfehlern sein. Das Gericht weist zu Recht darauf hin, dass das Tatopfer der Aufforderung des Angeklagten, sich nach Konsum des "Cleanmagic" zu erbrechen, Folge leistete. Dieses – letztlich vergebliche – Bemühen des Tatopfers, die gesundheitsschädlichen Wirkungen des "Cleanmagic"-Konsums zu verhindern, dürfte ein klares Indiz dafür sein, dass es dem Opfer nicht darum ging, tatsächlich aus dem Leben
zu scheiden. Vielmehr dürfte anzunehmen sein, dass die Geschädigte beabsichtigte, durch den Konsum die Aufmerksamkeit des Angeklagten auf sich zu lenken und ihn möglicherweise für sich zurückzugewinnen. Von einem ernstlichen und autonomen Verlangen nach dem eigenen Tod, wie es diejenige Ansicht fordert, die für den Maßstab der Eigenverantwortlichkeit auf die Grundsätze der Einwilligungslehre abstellt,[16] kann hier daher keine Rede sein.
Da der Senat im vorliegenden Fall die Eigenverantwortlichkeit des Tatopfers verneinte, musste er auch nicht auf die in der Rechtsprechung[17] üblicherweise verwendete (und in der Literatur äußerst umstrittene[18] ) Konstruktion zurückgreifen, wonach eine Strafbarkeit wegen Unterlassens dann gegeben sein soll, wenn das Tatopfer aufgrund von Bewusstlosigkeit die Herrschaft über das Geschehen verliert und der garantenpflichtige Täter Rettungsmöglichkeiten ungenutzt verstreichen lässt. Inwieweit diese Konstruktion tragfähig ist, bedarf daher an dieser Stelle keiner Würdigung.
Fassen wir noch einmal zusammen: Da der Angeklagte garantenpflichtig war und da kein eigenverantwortliches Handeln des Tatopfers vorlag, hätte der Angeklagte – wie der Senat zu Recht ausführte – notwendige Gegenmaßnahmen einleiten müssen, nachdem die Geschädigte eine nicht unerhebliche Menge des Mittels "Cleanmagic" getrunken hatte. Dieser Pflicht ist der Angeklagte nicht nachgekommen, da er davon absah, unverzüglich notärztliche Hilfe zu verständigen, obwohl die Geschädigte hierdurch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden wäre. Die Bejahung der Strafbarkeit des Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) begegnet demnach im Ergebnis keinen Bedenken. Allerdings dürften die vorliegenden Ausführungen deutlich gemacht haben, dass eine klarere Subsumtion wünschenswert gewesen wäre.
[2] BGH HRRS 2012 Nr. 333, Rn. 2.
[3] Ebd., Rn. 3.
[4] Vgl. etwa BGHSt 53, 38, 41 f. = HRRS 2009 Nr. 91, Abs. 17 f.
[5] BGH HRRS 2012 Nr. 333, Rn. 9.
[6] Ebd., Rn. 9.
[7] Ebd., Rn. 9.
[8] Ebd., Rn. 2.
[9] Ebd., Rn. 2.
[10] Ebd., Rn. 4.
[11] Ebd., Rn. 9.
[12] Kretschmer JR 2008, 51, 52.
[13] Zu diesem Kriterium: Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 41. Aufl. (2011), Rn. 719.
[14] Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. (2011), Vor § 211 Rn. 15; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, 35. Aufl. (2011), Rn. 43, 54. – Vgl. zum Prinzip der Eigenverantwortlichkeit auch Kuhli HRRS 2008, 385 ff.
[15] BGH HRRS 2012 Nr. 333, Rn. 10 f.
[16] Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 473 ff.; NK/Neumann, StGB, 3. Aufl. (2010), Vor § 211 Rn. 61; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. (2011), Vor § 211 Rn. 13a. – Vgl. jedoch zu der Ansicht, die den Maßstab der Eigenverantwortlichkeit nach den Exkulpationsregeln (§§ 19, 20, 35 StGB, § 3 JGG) beurteilt: LK/Schünemann, StGB, 12. Aufl. (2006), § 25 Rn. 72 f.
[17] BGH NJW 1960, 1821; BGHSt 32, 367 (373 ff.)[mit Einschränkungen].
[18] Kritische Stimmen gegen diese Konstruktion: Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, 35. Aufl. (2011), Rn. 44; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. (2011), Vor § 211 Rn. 15.