HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2012
13. Jahrgang
PDF-Download


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

649. EGMR Nr. 5123/07 – Urteil der 5. Kammer vom 22. März 2012 (Rangelov v. Deutschland)

Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit durch eine Sicherungsverwahrung bei Verhängung gegenüber Ausländern (Diskriminierungsverbot und bevorstehende Ausweisung; Freiheit der Person; Gleichheitsgrundsatz); Zulässigkeit der Individualbeschwerde (Opferstatus; Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel).

Art. 7 EMRK; Art. 5 EMRK; Art. 14 EMRK; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 3 GG; Art. 34 EMRK; Art. 35 EMRK; § 66 StGB aF

1. Auch wenn eine in Sicherungsverwahrung genommene Person aus Deutschland auszuweisen ist, müssen ihr Therapieangebote gemacht werden, damit sie die Möglichkeit erhält, nicht mehr als gefährlich eingestuft zu werden. Eine nur auf die Ausweisung gestützte Verweigerung ist eine gegen Art. 14 EMRK verstoßende Konventionsverletzung.

2. Art. 14 EMRK verbietet in Anknüpfung an die von der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten Ungleichbehandlungen, die sich nicht durch objektivierbare und vernünftige Gründe rechtfertigen lassen. Zwischen der eintretenden Ungleichbehandlung und der geltend gemachten Rechtfertigung muss Verhältnismäßigkeit bestehen.


Entscheidung

615. BVerfG 2 BvR 720/12, 2 BvR 835/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss

vom 11. Juni 2012 (OLG München / LG Augsburg)

Freiheit der Person (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Untersuchungshaft; Fluchtgefahr; Verdunkelungsgefahr; Haftbefehl; Außervollzugsetzung; Sicherheitsleistung; Meldeauflage; Haftverschonungsbeschluss: Aufhebung; neu hervorgetretene Umstände; Straferwartung).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO.

1. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände gegenüber dem Zeitpunkt der Haftverschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten freiheitssichernden Verfahrensgarantien, die über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG mit grundrechtlichem Schutz ausgestattet sind.

2. Als neu hervorgetretene Umstände, aufgrund derer ein Haftbefehl nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO (wieder) in Vollzug gesetzt werden kann, kommen nur Tatsachen in Betracht, welche die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Maßgeblich ist, ob die Gründe die Vertrauensgrundlage für die Haftverschonung entfallen lassen. Hierfür ist eine umfassende Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.

3. Neu hervorgetretene Umstände können sich nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen, weil dieser bereits Grundvoraussetzung für den Erlass und die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist, so dass es ohne Bedeutung ist, wenn sich der Verdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung noch verdichtet hat.

4. Ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft oder die Verurteilung zu einer unerwartet hohen Strafe nach der Haftverschonung rechtfertigen deren Widerruf nur dann, wenn die beantragte oder verhängte Strafe von der bisherigen Erwartung erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. Erforderlich sind dabei insbesondere nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausgegangen ist.

5. Die Invollzugsetzung eines Haftbefehls anlässlich der – zumal noch nicht rechtskräftigen – Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe ist insbesondere dann nur mit eingehender Begründung möglich, wenn dem Beschuldigten zunächst erhebliche weitere Straftaten zur Last gelegt worden waren, von deren Verfolgung im Laufe des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO abgesehen worden ist. Dasselbe gilt, wenn dem Beschuldigten aufgrund einer gegen einen Mittäter bereits verhängten Freiheitsstrafe bewusst war, dass ihm eine mindestens vergleichbar hohe Strafe droht, und er gleichwohl den Auflagen aus dem Haftverschonungsbeschluss beanstandungsfrei nachgekommen ist.

6. Auch wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO erfüllt sind, hat das Gericht infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets darzulegen, aus welchen konkreten Gründen anstelle einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung – namentlich eine Verschärfung der Auflagen – in Betracht kommen.


Entscheidung

614. BVerfG 2 BvR 644/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. Juni 2012 (OLG Dresden / LG Dresden / AG Dresden)

Freiheit der Person (Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Untersuchungshaft; Einlieferungshaft: Auslieferungshaft bei Auslieferung aus Paraguay; Haftbefehl; Haftgrund; Flucht; Fluchtgefahr; Straferwartung; Abwägungsausfall).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; § 112 Abs. 2 StPO; § 51 Abs. 3 StGB; § 57 StGB

1. Bei dem einer Straftat lediglich Verdächtigen ist eine Freiheitsentziehung im Strafverfahren zur Wahrung der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise und nur dann zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung das Freiheitsrecht des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

2. Das Freiheitsgrundrecht hat auch Auswirkungen auf die Verfahrensgestaltung. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft steigen deshalb die Anforderungen an die Zügigkeit der Verfahrensbearbeitung, an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund sowie an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen.

3. Die Gerichte sind gehalten, sich in Haftfortdauerentscheidungen eingehend mit den einzelnen Voraussetzungen der Untersuchungshaft auseinandersetzen. Insbesondere müssen sie auf die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens, auf die im Raum stehende konkrete Straferwartung und für den Fall der Verhängung einer Freiheitsstrafe auf das hypothetische Strafende eingehen. Dabei sind auch die Möglichkeiten der Anrechnung einer Freiheitsentziehung nach § 51 StGB sowie der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu berücksichtigen.

4. Eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts kann ein Beschuldigter bereits dann mit inländischen Rechtsbehelfen geltend machen, wenn er aufgrund eines in der Bundesrepublik ausgestellten Haftbefehls im Ausland festgenommen worden ist und er sich dort in Auslieferungshaft befindet.


Entscheidung

613. BVerfG 2 BvR 22/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. Juni 2012 (OLG München)

Freiheit der Person (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Freiheitsstrafe; Reststrafaussetzung zur Bewährung; Maßregelvollzug; Legalprognose; Resozialisierungsanspruch).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 57 Abs. 1 StGB; § 67 Abs. 5 StGB; § 67d StGB

1. Bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel ist das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit dem Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder am Schutz der Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen abzuwägen. Die Freiheit der Person darf dabei nur beschränkt werden, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist.

2. Angesichts ihrer unterschiedlichen Zielrichtung dürfen Strafen und freiheitsentziehende Maßregeln zwar grundsätzlich nebeneinander angeordnet werden. Dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch nicht nur isoliert hinsichtlich jeder einzelnen freiheitsentziehenden Maßnahme, sondern auch für die Maßnahmen in ihrer Gesamtwirkung gewahrt sein. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit.

3. Wenngleich bei Strafen bereits im Strafurteil über die Verhältnismäßigkeit der zu vollstreckenden Strafe grundsätzlich entschieden worden ist, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Rahmen der Prüfung einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen. In die Abwägung ist auch die Dauer einer vorangegangenen Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug aus Anlass derselben Tat mit einzustellen.

4. Ein Gericht verletzt das Freiheitsgrundrecht eines Strafgefangenen, wenn es allein unter Hinweis auf eine negative Legalprognose die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Strafvollstreckung unter Berücksichtigung auch der Dauer einer zuvor vollstreckten Maßregel grundsätzlich ablehnt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Maßregel gerade angesichts der langen Dauer der Freiheitsentziehung für erledigt erklärt worden war.


Entscheidung

616. BVerfG 2 BvR 2207/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. Mai 2012 (OLG Frankfurt am Main / LG Kassel)

Effektiver Rechtsschutz bei der Rechtsbeschwerde; Rechtsprechung (einheitliche); Verfahrensverstoß; Gehörsverstoß.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 116 Abs. 1 StVollzG

1. Das von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Recht auf effektiven Rechtsschutz verbietet es den Gerichten, einen von der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Rechtsbehelf durch die Art und Weise, in der die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung ausgelegt und angewendet werden, ineffektiv zu machen.

2. Gegen eine fehlerhafte oder von der Rechtsprechung anderer Gerichte abweichende gerichtliche Entscheidung über Maßnahmen im Strafvollzug ist grundsätzlich die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Ausnahmsweise kann das Beschwerdegericht gleichwohl von einer Zulassung der Rechtsbeschwerde absehen, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Rechtsfehler in weiteren Fällen Bedeutung erlangen wird.

3. Allerdings verlangt Art. 19 Abs. 4 GG in derartigen Fällen, dass konkrete tatsächliche Umstände die Prognose rechtfertigen, die Strafvollstreckungskammer werde den Rechtsfehler künftig vermeiden. Die bloße Vermutung, das Ausgangsgericht werde sich durch die Erwägungen des Beschwerdegerichts in der Beschlussbegründung belehren lassen und diese bei künftigen Entscheidungen berücksichtigen, rechtfertigt eine Verwerfung der Rechtsbeschwerde hingegen nicht. Dies gilt insbesondere bei schwerwiegenden Verfahrensmängeln wie etwa Gehörsverstößen, die regelmäßig die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde begründen.