HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 645
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 62/12, Urteil v. 24.05.2012, HRRS 2012 Nr. 645
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 7. Oktober 2011 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil - mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen - aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte wegen Totschlags verurteilt wurde und
b) im Gesamtstrafenausspruch.
3. Die weiter gehende Revision der Staatsanwaltschaft wird verworfen.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes und Totschlags zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil erheben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft die allgemeine Sachrüge. Die Staatsanwaltschaft erstrebt eine Verurteilung wegen Mordes sowie wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs eines Kindes mit Todesfolge. Ihr Rechtsmittel wird vom Generalbundesanwalt vertreten, soweit die Verurteilung des Angeklagten wegen Totschlags angegriffen ist. In diesem Umfang hat es Erfolg.
1. Die Strafkammer hat Folgendes festgestellt:
Der nicht vorbestrafte, zum Zeitpunkt der Tat 25 Jahre alte Angeklagte lebte seit Anfang Dezember 2010 mit der Nebenklägerin, der Zeugin E., sowie deren am 1. Oktober 2010 geborenen, aus einer anderen Beziehung stammenden Tochter A. E., dem Opfer der vorliegenden Straftat, zusammen. Am Abend des 24. Februar 2011 begab sich die Nebenklägerin mit einer Freundin in eine Diskothek, der Angeklagte, der dies nicht vollumfänglich akzeptierte, aber dennoch keinerlei Einwände dagegen erhob, verblieb mit A. in seiner Wohnung. Im Laufe des Abends trank der Angeklagte ungefähr acht Schnapsgläser "Jägermeister". Gegen 22.30 Uhr fütterte er den ruhig auf dem Sofa liegenden Säugling. Der Angeklagte sah fern und spielte am PC. Um 0.15 Uhr sandte er der Zeugin E. eine SMS mit dem Inhalt: "Ich liebe Dich", die sie jedoch in der Diskothek nicht empfangen konnte. In der Folgezeit zog der Angeklagte A. bis auf den Body und die Strumpfhose aus. Das Kind lag mit dem Rücken auf der Couch und sah an die Zimmerdecke.
Mit Kitzeln am Fuß und Handbewegungen vor den Augen testete der Angeklagte, ob es reagierte. Als das nicht der Fall war, entschied er sich, das Kind sexuell zu missbrauchen. Er biss A. zunächst an der Innenseite des rechten Oberschenkels in das Bein, nachdem er dieses entsprechend gedreht hatte. Sodann kniete er sich auf den Boden vor die Couch unmittelbar vor dem dort auf dem Rücken liegenden Säugling. Dann öffnete er seine Hose und manipulierte mit der linken Hand an seinem entblößten Glied. Anschließend nahm er Zeige-, Mittel- und Ringfinger seiner linken Hand - eventuell auch einen anderen glatten Gegenstand von 4-5 cm Durchmesser oder seinen Penis - und steckte sie an der Windel vorbei in den After von A., um diesen zu weiten. Mehrmals - etwa 5 Minuten lang - wiederholte er diese Handlungen: Manipulieren an seinem Penis mit der linken Hand und Einführen der Finger, des Penis oder eines Gegenstandes mindestens 6 cm tief in den After des Säuglings. Dabei hatte er schließlich zumindest eine Erektion mit der Folge, dass Ejakulat in den Analbereich des Kindes gelangte. A. begann nun aufgrund der ihr zugefügten Schmerzen laut zu weinen. Der Angeklagte versuchte das Kind zu beruhigen, indem er ihm Tee gab. Dies gelang ihm jedoch nicht; vielmehr erbrach A. den zuvor gegessenen Brei.
Es war inzwischen etwa 0.30 Uhr. A. ließ sich nicht mehr beruhigen und schrie weiter. Ob dies das Motiv für die weiteren Handlungen des Angeklagten war oder er noch weitere oder andere Beweggründe hatte, konnte die Kammer nicht klären. Jedenfalls schüttelte der Angeklagte den Säugling nunmehr so heftig, dass der Kopf mindestens fünf Mal zur Seite flog. Zudem gab er A. mehrere Backpfeifen und schlug ihr so stark gegen den Bauchraum, dass Milz und Leber einrissen. Er nahm das Kind dann auf und setzte sich auf die Couch, wobei er noch mit dem Hinterkopf des Säuglings gegen die Kante des vor der Couch stehenden Tisches stieß. Bei dem Schütteln und den Schlägen nahm er den Tod des Säuglings zumindest billigend in Kauf.
Aufgrund der zugefügten Misshandlungen war A. leblos. Um 0.46 Uhr setzte der Angeklagte einen Notruf ab. Um 0.59 Uhr traf der Notarzt in der Wohnung des Angeklagten ein und veranlasste die Einlieferung des bereits komatösen Kindes in das Klinikum Herford, wo um 3.45 Uhr sein Tod festgestellt wurde. Todesursache war ein zentrales Herz-Kreislaufversagen bei schwerem Hirnödem, das auf mehrfache stumpfe Gewalteinwirkungen gegen Kopf und Bauch zurückzuführen war.
Die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war bei Begehung der Tat weder aufgehoben noch erheblich vermindert im Sinne der §§ 20, 21 StGB.
Bei der Auswertung der Festplatte des PCs des Angeklagten wurden fünf kinderpornografische Dateien sichergestellt, die Bilder enthalten, auf denen ein unbekleidetes Kind sexuelle Handlungen an sich duldet bzw. an einem ebenfalls nackten Erwachsenen vornimmt.
2. Das Landgericht hat das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht geprüft und verneint. Anhaltspunkte für das Vorliegen anderer Mordmerkmale hat es nicht gesehen.
Die Revision des Angeklagten ist zu verwerfen. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen allgemeinen Sachrüge hat keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft ist das Urteil aufzuheben, soweit der Angeklagte wegen Totschlags verurteilt wurde. Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Strafkammer das Mordmerkmal einer Tötung aus niedrigen Beweggründen nicht geprüft hat. Das weiter gehende Rechtsmittel erweist sich als unbegründet.
1. Entgegen der Auffassung der Revision begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht den Angeklagten nicht auch wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern mit Todesfolge (§ 176b StGB) verurteilt hat. In dem Tod des Kindes hat sich nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht die tatbestandsspezifische Gefahr des sexuellen Missbrauchs verwirklicht.
Der Angeklagte hat den Entschluss zur Tötung des Kindes erst gefasst, nachdem er die sexuellen Handlungen an dem Kind vorgenommen hatte. Der Generalbundesanwalt weist zu Recht darauf hin, dass den sexuellen Handlungen auch nicht das Risiko eines tödlichen Ausgangs anhaftete, das sich im Eintritt des Todes verwirklicht hätte (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 647/98, StV 1999, 373, 374).
2. Ebenso wenig ist es rechtlich zu beanstanden, dass das Landgericht das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht verneint hat. Das Landgericht hat dabei vor allem darauf abgestellt, unter den festgestellten Umständen habe der Angeklagte keine Veranlassung gehabt, davon auszugehen, dass der sexuelle Missbrauch bekannt werden könnte.
Diese Wertung der Strafkammer beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Denn nach den Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen waren die äußeren Verletzungen am After des Säuglings minimal und wären wahrscheinlich niemandem aufgefallen. Außerdem musste der Angeklagte nicht davon ausgehen, dass die Nebenklägerin hinsichtlich der Betreuung ihres Kindes durch den Angeklagten besonders skeptisch sein würde, da es insoweit bis zu der Tat von ihrer Seite keinerlei Beanstandungen gegeben hatte. Vor diesem Hintergrund hätte es etwa für die Zeugin E. - auch aus Sicht des Angeklagten - keine zwingenden Rückschlüsse auf das Vorgeschehen zugelassen, wenn A. bei ihrer Rückkehr noch geweint hätte.
Mit ihren davon abweichenden eigenen Schlussfolgerungen kann die Revision nicht gehört werden.
3. Die Revision rügt jedoch zu Recht, dass das Landgericht eine Tötung aus niedrigen Beweggründen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB nicht erkennbar geprüft hat. Hierzu bestand jedoch nach den Feststellungen Anlass. Dem entsprechend waren Ausführungen dazu in den Urteilsgründen erforderlich, um dem Revisionsgericht die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils zu ermöglichen.
a) Ein Beweggrund ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist; ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche alle äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren einschließt (BGH, Urteile vom 2. Dezember 1987 - 2 StR 559/87, BGHSt 35, 116, 126 f.; vom 19. Oktober 2001 - 2 StR 259/01, 47, 128, 130 mwN).
An dieser Gesamtwürdigung fehlt es hier. Das Landgericht hätte vor allem berücksichtigen müssen, dass sich nach den Feststellungen - worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hinweist - der bedingte Tötungsvorsatz als Fortsetzung der im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch begangenen Körperverletzung darstellt. Der Angeklagte hat das laute Schreien und Weinen des Kindes, das zumindest auch Auslöser für die Tötung war, durch dessen brutale Misshandlung selbst verursacht. Denn das Kind hatte vor dem sexuellen Missbrauch ruhig auf dem Sofa gelegen und begann nur deshalb zu schreien und konnte nicht mehr beruhigt werden, weil der Angeklagte ihm im Zusammenhang mit der analen Penetration erhebliche Schmerzen zugefügt hatte. In dieser Situation schüttelte der Angeklagte das Kind so heftig, dass sein Kopf mindestens fünf Mal zur Seite flog, versetzte ihm mehrere Backpfeifen und schlug ihm so stark gegen den Bauchraum, dass Milz und Leber einrissen.
Mit Rücksicht auf diese Feststellungen hätte das Landgericht im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung den schweren sexuellen Missbrauch des Kindes zu dem sich in kurzem zeitlichen Abstand anschließenden, zu seinem Tode führenden Gewaltexzess in Bezug setzen und erörtern müssen, ob und inwieweit sich hieraus Rückschlüsse auf die bei der Tötung wirksamen Handlungsantriebe des Angeklagten ziehen lassen. So lag es zumindest nahe und hätte vom Landgericht in den Blick genommen werden müssen, dass der Angeklagte durch die zum Tod führenden massiven Gewalthandlungen die von ihm selbst verursachten Schmerzensschreie des Kindes beenden wollte.
Der Bundesgerichtshof nimmt bei Tötungen aus nichtigem, nicht nachvollziehbarem Anlass - etwa aus Wut und Verärgerung - besonders verwerfliche Tötungsmotive im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB an, wenn die zugrunde liegenden Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen (BGH, Urteil vom 1. Oktober 2005 - 1 StR 195/05, NStZ 2006, 284, 285 mwN; Urteil vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 273/11). Erst recht muss diese Wertung regelmäßig gelten, wenn der Täter den äußeren Impuls, der sein zur Tötung des Opfers führendes Handeln ausgelöst hat, durch vorangegangenes Verhalten selbst herbeigeführt hat. Selbst wenn der Angeklagte das Kind allein deshalb getötet haben sollte, weil es nicht aufhörte zu schreien und er es durch sein Handeln "nur" zum Schweigen bringen bzw. ruhig stellen wollte, kann dies vor dem Hintergrund, dass er selbst durch den sexuellen Missbrauch für die Schmerzensschreie die Ursache gesetzt hatte, auf einen nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehenden und deshalb besonders verachtenswerten Handlungsantrieb hindeuten. Insoweit ist der vorliegende Sachverhalt nicht mit Fällen des zum Tode führenden Schüttelns von Kleinkindern vergleichbar, in denen der Täter handelt, weil er sich mit der Versorgung des Säuglings nervlich überfordert fühlt (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 4 StR 419/06, NStZ-RR 2007, 111). Dies gilt hier auch deshalb, weil der Angeklagte über das Schütteln des Kindes hinaus weitere massive Gewalthandlungen begangen hat.
b) Da das Landgericht das mögliche Vorliegen niedriger Beweggründe nicht erörtert hat, ist die Verurteilung wegen Totschlags aufzuheben. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen können bestehen bleiben, da sie rechtsfehlerfrei getroffen wurden. Der neue Tatrichter kann ergänzende, dazu nicht im Widerspruch stehende Feststellungen treffen; die subjektive Tatseite ist ohnehin neu festzustellen. Die bisherigen Feststellungen zum Tötungsvorsatz und zur Schuldfähigkeit des Angeklagten lassen keinen Rechtsfehler erkennen.
c) Die teilweise Aufhebung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs.
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 645
Externe Fundstellen: NStZ 2012, 694
Bearbeiter: Karsten Gaede