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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 615

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 720/12, Beschluss v. 11.06.2012, HRRS 2012 Nr. 615


BVerfG 2 BvR 720/12, 2 BvR 835/12 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Juni 2012 (OLG München / LG Augsburg)

Freiheit der Person (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Untersuchungshaft; Fluchtgefahr; Verdunkelungsgefahr; Haftbefehl; Außervollzugsetzung; Sicherheitsleistung; Meldeauflage; Haftverschonungsbeschluss: Aufhebung; neu hervorgetretene Umstände; Straferwartung).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO.

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände gegenüber dem Zeitpunkt der Haftverschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten freiheitssichernden Verfahrensgarantien, die über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG mit grundrechtlichem Schutz ausgestattet sind.

2. Als neu hervorgetretene Umstände, aufgrund derer ein Haftbefehl nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO (wieder) in Vollzug gesetzt werden kann, kommen nur Tatsachen in Betracht, welche die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Maßgeblich ist, ob die Gründe die Vertrauensgrundlage für die Haftverschonung entfallen lassen. Hierfür ist eine umfassende Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.

3. Neu hervorgetretene Umstände können sich nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen, weil dieser bereits Grundvoraussetzung für den Erlass und die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist, so dass es ohne Bedeutung ist, wenn sich der Verdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung noch verdichtet hat.

4. Ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft oder die Verurteilung zu einer unerwartet hohen Strafe nach der Haftverschonung rechtfertigen deren Widerruf nur dann, wenn die beantragte oder verhängte Strafe von der bisherigen Erwartung erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. Erforderlich sind dabei insbesondere nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausgegangen ist.

5. Die Invollzugsetzung eines Haftbefehls anlässlich der - zumal noch nicht rechtskräftigen - Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe ist insbesondere dann nur mit eingehender Begründung möglich, wenn dem Beschuldigten zunächst erhebliche weitere Straftaten zur Last gelegt worden waren, von deren Verfolgung im Laufe des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO abgesehen worden ist. Dasselbe gilt, wenn dem Beschuldigten aufgrund einer gegen einen Mittäter bereits verhängten Freiheitsstrafe bewusst war, dass ihm eine mindestens vergleichbar hohe Strafe droht, und er gleichwohl den Auflagen aus dem Haftverschonungsbeschluss beanstandungsfrei nachgekommen ist.

6. Auch wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO erfüllt sind, hat das Gericht infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets darzulegen, aus welchen konkreten Gründen anstelle einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung - namentlich eine Verschärfung der Auflagen - in Betracht kommen.

Entscheidungstenor

Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 21. März 2012 - 3 Ws 220/12 - und die Beschlüsse des Landgerichts Augsburg vom 29. Februar 2012 - 10 KLs 565 Js 42270/09 - verletzen die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf jeweils 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Aufhebung von Haftverschonungsbeschlüssen wegen neu hervorgetretener Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO.

I.

1. Die Staatsanwaltschaft München leitete im Juli 2009 gegen die Beschwerdeführer und andere gesondert Verfolgte Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue, der Steuerhinterziehung und der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr ein. Die Beschwerdeführer waren im Jahr 2005 als Geschäftsführer verschiedener Komplementär-GmbH von sogenannten "Einschiffsgesellschaften" tätig. Dabei waren die Beschwerdeführer zunächst auch alleinige Gesellschafter. Diese Gesellschaften erteilten Aufträge zum Bau von Hochseeschleppern. Die Bauausführung der Schiffe übernahm jeweils ein Konsortium aus der M... AG und der M... GmbH. Bei der Auftragsvergabe soll es zu (Schmiergeld-) Zahlungen des Konsortiums an die Beschwerdeführer und andere Personen gekommen sein.

2. Am 6. Juli 2009 erließ das Amtsgericht München gegen beide Beschwerdeführer wegen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue in einem besonders schweren Fall einen Haftbefehl, der sich auf die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr stützte. Nach den Ausführungen des Amtsgerichts München sei ein Schaden von mindestens 1,5 Millionen €, vermutlich sogar von 12 Millionen € entstanden.

Zur Fluchtgefahr wurde in beiden Anordnungen gleichlautend darauf verwiesen, die Beschwerdeführer hätten mit einer mehrjährigen Haftstrafe zu rechnen, so dass ein gesteigerter Fluchtanreiz bestehe. Es bestehe insbesondere der Verdacht, dass sie Auslandsvermögen und Auslandskonten besäßen. Die jeweilige berufliche Tätigkeit würde die Beschwerdeführer nicht an einer Flucht hindern, denn mit der Entdeckung der Taten seien ihre beruflichen Existenzen im Inland ruiniert.

3. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft München ordnete das Amtsgericht Kempten gegen die Beschwerdeführer am 17. Juli 2009 die Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue in fünf besonders schweren Fällen in Tatmehrheit mit acht besonders schweren Fällen der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr an. Das Amtsgericht Kempten bejahte ebenfalls das Vorliegen von Verdunkelungs- und Fluchtgefahr und ging von einem Schaden in Höhe von 8,5 Millionen € aus.

Die Ausführungen zur Fluchtgefahr entsprechen denen in den Beschlüssen des Amtsgerichts München vom 6. Juli 2009.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 17. Juli 2009 hob das Amtsgericht München die Haftbefehle vom 6. Juli 2009 nach § 120 Abs. 3 StPO auf.

4. Der Beschwerdeführer zu 1. machte in Vernehmungen vom 8., 22. und 30. Juli 2009 und der Beschwerdeführer zu 2. in Vernehmungen vom 8., 28. Juli und 4. August 2009 Angaben zur Sache.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft München ordnete das Amtsgericht Kempten mit Beschlüssen vom 3. und vom 5. August 2009 die Aussetzung des Vollzugs der Haftbefehle an. Den Beschwerdeführern wurde unter anderem auferlegt, jeweils eine Sicherheit in Höhe von 1 Million € zu hinterlegen sowie sich wöchentlich bei der Polizei am jeweiligen Wohnort zu melden und Auslandsreisen nur nach vorheriger Genehmigung durch die Staatsanwaltschaft anzutreten.

Der Beschwerdeführer zu 1. befand sich vom 8. Juli bis zum 21. Juli 2009 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München und anschließend bis zum 4. August 2009 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Kempten in Untersuchungshaft. Gegen den Beschwerdeführer zu 2. wurde vom 8. Juli bis zum 21. Juli 2009 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München und anschließend bis zum 5. August 2009 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Kempten die Untersuchungshaft vollzogen.

5. Mit Abschluss des Ermittlungsverfahrens am 18. Dezember 2009 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren hinsichtlich des Verdachts der Bestechung im geschäftlichen Verkehr in acht Fällen (betreffend einen bis dahin angenommenen Schaden von insgesamt 4 Millionen €) nach § 170 StPO vorläufig ein, weil die Einlassung der Beschwerdeführer, den vermeintlichen Schmiergeldzahlungen hätten tatsächlich erbrachte Leistungen gegenüber gestanden, nicht zu widerlegen gewesen sei.

Unter dem gleichen Datum erhob die Staatsanwaltschaft gegen insgesamt vier Angeschuldigte Anklage vor dem Landgericht Augsburg. Darin wurden den Beschwerdeführern jeweils Untreue in drei besonders schweren Fällen sowie verschiedene Steuerstraftaten im Zusammenhang mit den für jedes Schiff erhaltenen 750.000 € zur Last gelegt. Als Schadensumme ging die Anklagebehörde hinsichtlich der Untreuehandlungen von einem Betrag in Höhe von insgesamt 1,5 Millionen € aus.

Hinsichtlich der Steuerdelikte nahm die Staatsanwaltschaft bei beiden Beschwerdeführern jeweils eine Hinterziehung von Gewerbesteuer in Höhe von circa 257.000 € (2006) und 475.000 € (2007), von Umsatzsteuer in Höhe von ungefähr 207.000 € (2006) und 479.000 € (2007) sowie von Einkommensteuer in Höhe von circa 180.000 € (2006) und 333.000 € (2007) an.

6. Mit Beschluss vom 24. Mai 2011 ließ die Kammer die Anklage unverändert zu; eine Entscheidung über die Haftbefehle unterblieb.

Am 25. Mai 2011 trennte die Strafkammer das Verfahren betreffend einen Mitangeklagten (den früheren Verantwortlichen der mit dem Schiffsbau beauftragten MAN Ferrostaal AG) ab, welches nach einer Verständigung gemäß § 257c StPO am 22. Juni 2011 endete. Der geständige Angeklagte wurde (rechtskräftig) wegen Beihilfe zur Untreue in drei Fällen, Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr in sieben Fällen sowie Steuerhinterziehung in acht Fällen und versuchter Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Für die Beihilfehandlungen zur Untreue wurden jeweils Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr und sechs Monaten verhängt.

7. Mit Beschluss vom 10. Oktober 2011 hob die Strafkammer die Haftbefehle des Amtsgerichts Kempten vom 17. Juli 2009 auf und erließ unter dem gleichen Datum neue Haftanordnungen. Diese wurden unter Reduzierung der Sicherheitsleistung auf 500.000 €, aber im Übrigen weitgehender Aufrechterhaltung der sonstigen Auflagen außer Vollzug gesetzt. Der darin jeweils beschriebene Tatverdacht entsprach den Vorwürfen der Anklage. Als durch die Untreuehandlungen verursachter Schaden ging die Kammer von einem Gesamtbetrag in Höhe von 1,5 Millionen € aus.

Zur Fluchtgefahr wurde jeweils ausgeführt, dass die Beschwerdeführer nach vorläufiger Einschätzung eine mehrjährige, nicht mehr zur Bewährung aussetzungsfähige Haftstrafe zu erwarten hätten. Zwar hätten beide ein Beschäftigungsverhältnis und familiäre Bindungen im Inland. Sie verfügten jedoch über ausgezeichnete Kontakte ins außereuropäische Ausland und die erforderlichen finanziellen Mittel, um ihre familiären Lebensmittelpunkte ins Ausland zu verlagern.

8. In der Zeit vom 31. Oktober 2011 bis zum 29. Februar 2012 fand an 13 Tagen die Hauptverhandlung statt. Die Beschwerdeführer waren seit Beginn der Haftverschonung allen Auflagen nachgekommen; insbesondere hatten sie für Reisen ins europäische Ausland sowie nach Asien und Afrika Genehmigungen eingeholt.

Zum Prozessauftakt erteilte die Kammer einen rechtlichen Hinweis, dass unbeschadet der von der Staatsanwaltschaft erfolgten Verfahrenseinstellung hinsichtlich der Bestechungsvorwürfe (als Teil der wirksam angeklagten einheitlichen prozessualen Tat) eine Verurteilung wegen Untreue auch im Hinblick auf Zahlungen von jeweils 1,5 Millionen € pro Schiff an die Beschwerdeführer zum Nachteil der Einschiffsgesellschaften in Betracht komme.

Nach Vernehmung des bereits verurteilten früheren Verantwortlichen der MAN Ferrostaal AG erging am 3. November 2011 der weitere rechtliche Hinweis, dass auch eine Verurteilung wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr möglich sei. Von der weiteren Verfolgung der Steuerdelikte wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft am 6. Februar 2012 nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig abgesehen.

9. In seinem Plädoyer vom 29. Februar 2012 beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, die Beschwerdeführer jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten zu verurteilen und den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Im Anschluss an eine 15-minütige Unterbrechung der Verhandlung erschienen beide Beschwerdeführer wieder im Saal. Zwischen den Plädoyers der Verteidiger wurde die Sitzung erneut für zehn Minuten unterbrochen; die Beschwerdeführer entfernten sich nicht.

Nachdem die Beschwerdeführer das letzte Wort erhalten hatten, ließ das Gericht sie bis zur ungefähr zweieinhalb Stunden später erfolgten Urteilsverkündung nach § 231 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StPO in Gewahrsam nehmen. Beide Beschwerdeführer wurden wegen Untreue in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt; ein Monat gilt wegen überlanger Verfahrensdauer als vollstreckt.

10. Mit der Entscheidung verkündete die Kammer auf der Grundlage der Annahme eines Gesamtschadens von 2,1 Millionen € neue Haftbefehle.

Als Haftgrund nahm die Kammer für beide Beschwerdeführer Fluchtgefahr an. Allein die Höhe der Strafe übe für die wenig hafterfahrenen Beschwerdeführer einen erheblichen Fluchtanreiz aus. Sie verfügten über ausgezeichnete Kontakte ins Ausland. Es sei ihnen ohne größere Schwierigkeiten möglich, den beruflichen und familiären Lebensmittelpunkt in ein Land zu verlagern, aus dem eine Auslieferung möglicherweise nur unter größten Erschwernissen erfolgreich betrieben werden könne. Im Inland drohe ihnen der Zusammenbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Existenz. Zurzeit hätten sie noch ausreichende finanzielle Mittel für eine Flucht.

Gegen eine Fluchtgefahr spreche auch nicht, dass die Beschwerdeführer sich bislang dem Verfahren gestellt hätten und von Auslandsreisen zurückgekehrt seien. Sie hätten offensichtlich darauf vertraut, dass man ihrer Darstellung folge oder für das Gericht nur Untreuehandlungen mit einem Schaden in Höhe von jeweils 500.000 € (insgesamt 1,5 Millionen €) in Betracht kämen.

11. Mit Beschluss vom selben Tag hob die Kammer die früheren Haftbefehle auf und setzte die neuen Haftanordnungen unter Hinweis auf § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO in Vollzug. Als "neu hervorgetretener Umstand" im Sinne dieser Vorschrift sei nicht allein die erhebliche Strafe zu werten. Hinzu träten gravierende schulderschwerende Umstände, die von der Staatsanwaltschaft noch in der Einstellungsverfügung vom 18. Dezember 2009 als nicht nachweisbar bewertet worden und deren tatsächliches Vorliegen erst im Verlauf der Hauptverhandlung zu Tage getreten sei. Damit habe sich die in der letzten Außervollzugsetzungsentscheidung enthaltene Prognose bezüglich der Straferwartung als unrichtig erwiesen. Bei Kenntnis dieser Umstände wäre eine Außervollzugsetzung nicht erfolgt, da auch eine Verschärfung der Auflagen nicht ausgereicht hätte, um das gegenständliche Verfahren zu sicheRn. Daher stelle sich die Invollzugsetzung der Haftbefehle auch nicht als unverhältnismäßig dar.

12. Mit Schriftsätzen vom 29. Februar 2012 beziehungsweise vom 2. März 2012 legten die Beschwerdeführer gegen den jeweiligen Haftbefehl Beschwerde und - wie auch die Staatsanwaltschaft - gegen das Urteil Revision ein. Nachdem der Beschwerdeführer zu 1. die Beschwerde zunächst am 5. März 2012 zurückgenommen hatte, legte er das Rechtsmittel unter dem 8. März 2012 erneut ein.

Zur Begründung wies der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer zu 2. darauf hin, dass keine neuen Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO zu Tage getreten seien, die eine Verhaftung erforderlich machten. Ihm sei in sämtlichen Haftbefehlen die Verhängung einer mehrjährigen Haftstrafe angedroht worden. Zwar habe die Staatsanwaltschaft eine Teileinstellung vorgenommen, zugleich aber nicht unerhebliche Steuerdelikte angeklagt. Er sei von den genehmigten Auslandsreisen pünktlich zurückgekehrt und habe sich mit den Finanzbehörden auf eine ratenweise Rückzahlung geeinigt. Sein Arbeitsverhältnis bestehe trotz des Urteils weiter fort. Dies zeige, dass er keine Fluchtgedanken habe. Selbst wenn man neue Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sehen wollte, wäre die Wiederinvollzugsetzung unverhältnismäßig.

Der ebenfalls nicht vorbestrafte Beschwerdeführer zu 1. nahm im Wesentlichen Bezug auf die Beschwerdebegründung des Mitverurteilten und wies ergänzend darauf hin, zu jeder Zeit mit einer mehrjährigen Haftstrafe gerechnet und dennoch immer die Auflagen befolgt zu haben. Dies zeige, dass keine Gefahr bestehe, er werde sich dem Verfahren entziehen; zumindest sei es angezeigt, den Vollzug weiterhin auszusetzen.

13. Das Landgericht Augsburg half den Beschwerden am 5. März 2012 beziehungsweise am 9. März 2012 nicht ab und nahm Bezug auf die Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung. Ergänzend wies die Kammer in dem den Beschwerdeführer zu 1. betreffenden Beschluss vom 9. März 2012 darauf hin, es sei nicht maßgeblich, ob es für die Beschwerdeführer anhand der rechtlichen Hinweise erkennbar gewesen sei, dass wesentliche schulderschwerende Umstände bei einer späteren Entscheidung berücksichtigt werden könnten. Denn diese Umstände hätten beide Beschwerdeführer bis zum Schluss der Hauptverhandlung bestritten. Dass dies erfolglos sei, sei für sie erst mit dem Urteil erkennbar geworden.

14. Mit beim Oberlandesgericht eingereichtem Schriftsatz vom 13. März 2012 ergänzte der Beschwerdeführer zu 1. seine Beschwerdebegründung. Die Voraussetzungen für eine Anwendung von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO lägen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vor. Seine ursprüngliche Straferwartung werde nicht aufgezeigt. Es werde auch nicht ausreichend berücksichtigt, dass er aufgrund des Ablaufs der Hauptverhandlung stets mit einem ungünstigen Ausgang gerechnet und sich dennoch dem Verfahren gestellt habe. Denn die Kammer habe schon frühzeitig von Schmiergeldern gesprochen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie eine Schadenserhöhung um 600.000 € eine Invollzugsetzung rechtfertigen könne.

15. Mit den angefochtenen Beschlüssen vom 21. März 2012, den Bevollmächtigten der Beschwerdeführer zugegangen am 26. März 2012, verwarf das Oberlandesgericht München die Beschwerden. Hinsichtlich des Haftgrundes der Fluchtgefahr wurde jeweils auf die Darlegung in den landgerichtlichen Entscheidungen Bezug genommen. Zur Frage der verweigerten Haftverschonung legte der Senat dar, das Landgericht bewege sich mit seinen Entscheidungen im verfassungsrechtlichen Rahmen und habe rechtsfehlerfrei das Vorliegen neuer erst im Verlauf der Hauptverhandlung zu Tage getretener schulderschwerender Umstände bejaht. Soweit die von der Generalstaatsanwaltschaft angeführten und den Beschwerdeführer zu 2. betreffenden Medienberichte über eine fristlose Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses zuträfen, läge darin ein die Fluchtgefahr wesentlich erhöhender neuer Umstand. Die Anordnungen seien auch nicht unverhältnismäßig. Die bisher verbüßten Haftzeiträume stünden nicht außer Verhältnis zu der zur erwartenden Strafe. Selbst im Falle von Halbstrafenaussetzungen verblieben zu verbüßende Strafen, die einen erheblichen Fluchtanreiz böten.

II.

Mit den am 30. März 2012 vom Beschwerdeführer zu 1. und am 17. April 2012 vom Beschwerdeführer zu 2. eingelegten Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer eine unter Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG willkürlich erfolgte Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO durch die Fachgerichte, die zu einer Verletzung der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Freiheitsrechte führe.

Das Bundesverfassungsgericht habe sich wiederholt zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Anwendung von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO geäußert. Den dabei entwickelten Maßstäben würden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. So hätten sämtliche Haftentscheidungen den Haftgrund der Fluchtgefahr wegen der drohenden Straferwartung von mehreren Jahren Freiheitsstrafe bejaht. Das Amtsgericht München habe am 6. Juli 2009 einen Schaden von 12 Millionen €, jedenfalls in Höhe von 4,5 Millionen €, zugrunde gelegt. Das Amtsgericht Kempten sei am 17. Juli 2009 von einem Schaden in Höhe von 8,5 Millionen € und die Anklageschrift von Untreueschäden in Höhe von 1,5 Millionen € sowie Steuerschäden in Höhe von rund 2 Millionen € ausgegangen.

Auch das Landgericht Augsburg habe in der Haftanordnung vom 10. Oktober 2011 nur ausgeführt, dass eine mehrjährige Haftstrafe zu erwarten sei. Diese Entscheidung sei nicht abgeändert worden, obwohl das Gericht am ersten Verhandlungstag darauf hingewiesen habe, der Untreueschaden könne möglicherweise wegen etwaiger Schmiergeldzahlungen auch höher ausfallen.

Es könne daher nicht die Rede davon sein, dass die Beschwerdeführer unerwartet streng oder aufgrund erst nachträglich bekannt gewordener schwerwiegender Tatsachen verurteilt worden seien. Das Landgericht habe in seinem angefochtenen Beschluss als "neu" nur das angeführt, was schon beim Prozessauftakt zum Gegenstand des rechtlichen Hinweises gemacht worden sei.

Die Strafkammer habe auch keine Feststellungen dazu getroffen, von welcher enttäuschten Straferwartung die Beschwerdeführer bis zur Urteilsverkündung ausgegangen seien. Bei der wiederholten Ankündigung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne, sei es abwegig anzunehmen, die Beschwerdeführer hätten eine Strafe von vier Jahren und sechs Monaten als denkbar fernliegend erachtet. Stattdessen habe die Kammer eine Straferwartung "erfunden", die nicht über die vorherigen pauschalen Formulierungen hinausgehe.

Die Strafkammer habe auch übersehen, dass die nicht unerheblichen steuerstrafrechtlichen Vorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO in der Verhandlung eingestellt worden seien, weshalb sich die ursprüngliche Straferwartung vor dem Hintergrund der strengen Rechtsprechung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofes erheblich reduziert habe.

Das Oberlandesgericht habe diese Verstöße durch seine Entscheidungen perpetuiert. Es habe sich zwar ausführlicher mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt. Letztlich stelle es aber auch nur auf die von Anbeginn im Raum stehenden Zahlungen ab, die von Relevanz für die Untreuehandlungen seien.

III.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat zu den Verfassungsbeschwerden Stellung genommen. Diese seien unbegründet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht weitgehend entzogen. Gerichtliche Entscheidungen könnten, abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot, nur auf Auslegungsfehler hin überprüft werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhten. Danach sei eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht festzustellen.

Die Gerichte hätten mit ihren Entscheidungen den von der Rechtsprechung und dem Bundesverfassungsgericht gestellten hohen Anforderungen an eine Invollzugsetzung nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO Rechnung getragen. Die Beschwerdeführer hätten lediglich auf den Fortbestand der Außervollzugsetzung vertrauen dürfen, soweit nicht eine Eigenbereicherung durch Schmiergeldzahlungen nachweisbar gewesen wäre, die eine höhere Straferwartung nach sich ziehe. Die Außervollzugsetzung am 3. August 2009 sei aufgrund der seinerzeit nicht widerlegbaren Einlassungen der Beschwerdeführer erfolgt, sie hätten für die Zahlungen Gegenleistungen erbracht. Bei Verkündung des Urteils sei der Tatnachweis der Eigenbereicherung in Gestalt der Schmiergeldzahlungen gelungen wie dies auch im Haftbefehl vom 17. Juli 2009 angenommen worden sei; es habe daher die gleiche Sachverhaltsgrundlage bestanden. Die Aufhebung der Haftverschonung sei daher konsequent. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer aufgrund des zu Beginn der Hauptverhandlung erteilten Hinweises, die vor der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft erfolgte Teileinstellung der Bestechlichkeitsvorwürfe stehe einer Verurteilung nicht entgegen, stets mit einem für sie ungünstigen Verfahrensausgang gerechnet hätten.

Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 21. März 2012 und des Landgerichts Augsburg vom 29. Februar 2012 wenden, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

Die gegen die Nichtabhilfeentscheidungen des Landgerichts Augsburg vom 5. März 2012 und 9. März 2012 gerichteten Verfassungsbeschwerden nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

I.

Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf in die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingegriffen werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in einem unlösbaren Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>; 105, 239 <247>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195>; 58, 208 <220>; 105, 239 <247>). Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar (BVerfGE 10, 302 <323>; 58, 208 <220>). Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze sind deshalb von den Gerichten so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>; BVerfGK 12, 45 <52>).

Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-) Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. BVerfGK 6, 295 <299>; 7, 239 <247>; 12, 45 <52>).

Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter kommt nach Nr. 3 jener Vorschrift nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. BVerfGK 6, 295 <300>; 7, 239 <248>; 12, 45 <52>).

"Neu" im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerfGK 12, 45 <53>).

Dabei sind die Grenzen, innerhalb derer eine Haftverschonung wegen neu hervorgetretener Umstände widerrufen werden kann, nach der einschlägigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eng gesteckt. Denn das Gericht ist an die Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, grundsätzlich gebunden. Lediglich eine nachträglich andere Beurteilung bei gleichbleibender Sachlage rechtfertigt den Widerruf nicht. Vielmehr ist angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung stets zu berücksichtigen ist deshalb vor allem, dass der Angeklagte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren (vgl. BVerfGK 7, 239 <249>; m.w.N.).

Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. Ob dies der Fall ist, ist durch Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Die insoweit heranzuziehenden Umstände müssen sich jeweils auf die Haftgründe beziehen. In Betracht kommen vor allem Fälle, in denen ein weiterer Haftgrund zu dem im Haftbefehl aufgeführten hinzutritt oder sich der dem Haftbefehl zugrunde liegende Haftgrund verschärft (vgl. BVerfGK 12, 45 <54>, m.w.N.).

Vor dem Hintergrund, dass Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden sind, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>), fordert die Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging. Bloße Mutmaßungen können insoweit nicht genügen. Selbst der Umstand, dass der um ein günstigeres Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand (vgl. § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO) als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch (vgl. BVerfGK 12, 45 <55 f.>, m.w.N.).

Neu hervorgetretene Umstände können sich dagegen nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen. Dieser ist bereits Grundvoraussetzung für Erlass und Aufrechterhaltung jeden Haftbefehls (vgl. § 112 Abs. 1 StPO). Demgemäß ist ohne Bedeutung, dass sich der dem Haftbefehl oder der Anklage zugrunde gelegte dringende Tatverdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung bestätigt hat und damit noch "dringender" geworden ist (vgl. BVerfGK 12, 45 <54>).

Der erneute Vollzug des Haftbefehls aufgrund von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kommt auch in Betracht, wenn ein Beschuldigter unerwartet streng verurteilt wird oder wenn sonstige (auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene) schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Haftverschonung veranlasst hätten. War dagegen schon zu diesem Zeitpunkt mit der später ausgesprochenen - auch höheren - Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, liegt kein Fall des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor (vgl. BVerfGK 7, 239 <250>; 12, 45 <54>).

Selbst wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vorliegen, bleibt infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets zu prüfen, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung - namentlich eine Verschärfung der Auflagen - in Betracht kommen (vgl. BVerfGK 7, 239 <251>; 12, 45 <56>).

II.

Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen werden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht lassen in ihren Ausführungen erkennen, dass nach dem beanstandungsfreien Verlauf einer Haftverschonung von zweieinhalb Jahren neu hervorgetretene Umstände die Invollzugsetzung der Untersuchungshaft erforderlich gemacht haben.

1. Die Fachgerichte haben nicht dargelegt, weshalb der Strafausspruch des Landgerichts Augsburg vom 29. Februar 2012 von den Prognosen des Haftrichters und der Strafkammer in erheblicher Weise zum Nachteil der Beschwerdeführer abweicht und sich dadurch die Fluchtgefahr ganz wesentlich erhöht hat. In allen bis zum Urteil ergangenen Haftentscheidungen wurde den Beschwerdeführern die Verurteilung zu einer mehrjährigen, nicht mehr zur Bewährung aussetzbaren Freiheitsstrafe vor Augen geführt. Vor dem Hintergrund, dass beide Beschwerdeführer während der Zeit der Haftverschonung trotz des zu erwartenden langjährigen Freiheitsentzugs keinen Anlass für Beanstandungen gegeben haben, wäre eine umfangreiche Abwägung zwischen dem Gewicht der neuen Erkenntnisse und dem auf Seiten der Beschwerdeführer auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzten Vertrauenstatbestand geboten gewesen, an der es hier fehlt.

Zu dieser Abwägung bestand auch deshalb besondere Veranlassung, weil den Beschwerdeführern noch in der von der Strafkammer zugelassenen Anklage und in dem Haftbefehl vom 10. Oktober 2011 erhebliche Steuerstraftaten zur Last gelegt worden waren, von deren Verfolgung im Laufe der Verhandlung nach § 154 Abs. 2 StPO abgesehen wurde. Mag die in der Beweisaufnahme für die Untreuehandlungen festgestellte größere Schadenssumme zu einer im Vergleich zum Verhandlungsbeginn höheren Straferwartung geführt haben, so war die Einstellung der steuerstrafrechtlichen Anklagepunkte ein Umstand, der sich auf die anfängliche Straferwartung reduzierend auswirken konnte. Das haben Landgericht und Oberlandesgericht in ihre Abwägung nicht einbezogen, sondern sind einseitig allein von dem strafschärfenden Umstand ausgegangen.

2. Hinzu tritt, dass gegen den früheren, gesondert verurteilten geständigen Mitangeklagten wegen dessen Beihilfehandlungen zu den den Beschwerdeführern zur Last gelegten Untreuetaten im Juni 2011 jeweils auf eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten erkannt worden war. Den nicht geständigen Beschwerdeführern musste daher bei Prozessbeginn bewusst sein, dass bei einer täterschaftlichen Verurteilung für sie weitaus höhere Einzelstrafen in Betracht kamen und damit auch eine hohe Gesamtfreiheitsstrafe drohte, zumal die Strafkammer bereits am ersten Verhandlungstag einen rechtlichen Hinweis auf eine mögliche Verurteilung wegen Untreue erteilt hatte. Gleichwohl haben die Beschwerdeführer in der Folgezeit wie in den Jahren zuvor die Auflagen erfüllt. Auch dies ist bei den angegriffenen Entscheidungen nicht berücksichtigt worden.

3. Das Oberlandesgericht geht zudem mit keinem Wort darauf ein, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung - namentlich eine Verschärfung der Auflagen - in Betracht kommen.

Das Landgericht hat sich unter lediglich pauschaler Bezugnahme auf die Straferwartung und den daraus folgenden Fluchtanreiz auf den Hinweis beschränkt, dass eine Verschärfung der Auflagen nicht ausreiche. Das kann angesichts des Umstandes nicht genügen, dass es in seinem Haftbefehl vom 10. Oktober 2011 mit 1,5 Millionen € einen weitaus geringeren Schaden als das Amtsgericht Kempten am 17. Juli 2009 mit 8,5 Millionen € (bei zum Teil anderen Tatvorwürfen) angenommen hatte. Folgerichtig hatte die Strafkammer die von den Beschwerdeführern zu erbringende Sicherheitsleistung von 1 Million € auf 500.000 € herabgesetzt. Es hätte daher nahegelegen, angesichts einer nach Beweisaufnahme festgestellten höheren Schadenssumme, die aber immer noch deutlich unter dem Schaden lag, der zum Zeitpunkt der ersten Haftverschonung angenommen worden war, vor einer Invollzugsetzung des Haftbefehls eine (erneute) Erhöhung der Sicherheitsleistung in Betracht zu ziehen.

III.

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG durch das Oberlandesgericht wie auch durch das Landgericht festzustellen.

Wegen der Eilbedürftigkeit der Haftsache ist es angezeigt, nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG nur den Beschluss des Oberlandesgerichts aufzuheben und die Sachen zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Es liegt im Interesse der Beschwerdeführer, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten (vgl. BVerfGE 84, 1 <5>; 94, 372 <400>). Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung über die weiteren Beschwerden gegen die Beschlüsse des Landgerichts vom 29. Februar 2012 herbeizuführen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Da der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerden von untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BVerfGE 86, 90 <122>).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 615

Bearbeiter: Holger Mann