HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2012
13. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Artikel 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der nicht verfügbare Zeuge: Weist der modifizierte Lucà-Test den Weg aus der Sackgasse?

Zugleich eine Besprechung von EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer), Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien) = HRRS 2012 Nr. 1

Von Dr. Antje du Bois-Pedain, Universität Cambridge

I. Einführung

Seit geraumer Zeit wird die Reichweite des in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierten speziellen Rechts der Verteidigung auf Befragung von Belastungszeugen von den deutschen Gerichten so verstanden, dass sich ein Strafurteil auf eine den Angeklagten belastende Aussage, die trotz nicht vorhandener oder eingeschränkter Befragungsmöglichkeiten der Verteidigung als konventionsrechtlich zulässige Ausnahme von Art. 6 Abs. 3 lit. d in den Prozess eingeführt wurde, stützen und sogar auf ihr beruhen darf, wenn das Verfahren einschließlich des Gebrauchs, der von der betreffenden Aussage gemacht wurde, insgesamt als fair anzusehen ist.[1] Diese auch von den englischen Strafgerichten praktizierte Handhabung

des Verhältnisses der speziellen Garantie des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zu der allgemeinen Garantie eines fairen Verfahrens war im Januar 2009 von der 4. Kammer des EGMR in den verbundenen Beschwerdeverfahren Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien in Frage gestellt worden.[2] Nach Auffassung der 4. Kammer war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Lucà v. Italien[3] so zu verstehen, dass es ungeachtet des Umstands, dass die Einführung des unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierten Beweismittels zulässig gewesen sei, zwingend gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EGMR verstoße, wenn sich ein Strafurteil ausschließlich oder entscheidend auf das Zeugnis einer Person stütze, die von der Verteidigung nicht (oder nicht wirksam) befragt werden konnte ("Lucà-Test"). Beide Beschwerdeführer seien aufgrund solcher Zeugenaussagen verurteilt wurden. Ihren Beschwerden wurde daher von der 4. Kammer stattgegeben.

Bei diesem Kammerentscheid wollte es der betroffene Mitgliedsstaat nicht belassen. Auf Antrag Großbritanniens wurden die Beschwerden an die Große Kammer des Gerichtshofs verwiesen. Die Urteile des englischen Court of Appeal und des Supreme Court[4] im Horncastle-Fall[5], die im März und im Dezember 2009 ergingen, waren ein offener Appell an den Gerichtshof, die starre Grenzlinie, die die 4. Kammer für die Verwertung solcher Aussagen ziehen wollte, aufzugeben. Der EGMR wurde von den englischen Gerichten aufgefordert, die Gründe für eine Entwicklung nachzuvollziehen, die den englischen Gesetzgeber in relativ kurzer Zeit zu einer Ausweitung der Möglichkeiten zur indirekten Einführung von Bekundungen in den Strafprozess und die englischen Obergerichte zu einer Abkehr von ihrer früheren strikten Rechtsprechung bewogen hatten.[6] Die Botschaft war unmissverständlich: So wie der englische Gesetzgeber und die englische Gerichtsbarkeit den Formalismus der hearsay rule überwunden hätten und die indirekte Einführung von Zeugenaussagen jetzt in breitem Umfang zuließen, soweit es der Wahrheitsfindung diene und mit dem Grundsatz eines fairen Verfahrens vereinbar sei, so sollten sich auch die Straßburger Richter auf die übergeordnete Bedeutung der Verfahrensfairness besinnen und die speziellen Garantien des Art. 6 Abs. 3 vor diesem Hintergrund ggf. auch restriktiv (sie reichen nur so weit, wie es der Verfahrensfairness dient) auslegen.

Die Große Kammer entschied abschließend am 15. Dezember 2011.[7] Vor der Großen Kammer hatte nur noch der Beschwerdeführer Tahery Erfolg, dessen Verurteilung sich auf eine vorgerichtlich gegenüber der Polizei abgegebene Erklärung eines nun "aus Angst" nicht mehr länger aussagewilligen, am Gesamtgeschehen möglicherweise nicht unbeteiligten Tatzeugen stützte. Die Beschwerde des Beschwerdeführers Al-Khawaja, dessen Verurteilung auf der polizeilichen Aussage der vor Prozessbeginn verstorbenen Geschädigten sowie auf deren Schilderungen gegenüber Bekannten, die als Zeugen gehört wurden, beruhte, wurde dagegen zurückgewiesen. Für die Reichweite des Zeugenbefragungsrechts und die künftige Anwendung von Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EMRK sind vor allem die Ausführungen des Gerichtshofs zum Lucà-Test von Bedeutung.

In diesem Beitrag wird zunächst die Rechtsprechung des EGMR zu den Grenzen zulässiger Einschränkungen des Zeugenbefragungsrechts bis zum Kammerentscheid im Al-Khawaja-Verfahren in Erinnerung gerufen (Abschnitt II). Dabei wird deutlich, dass der als Lucà-Test bezeichnete Vorbehalt, dass eine ohne ausreichende Befragungsmöglichkeit durch die Verteidigung zulässig eingeführte Aussage nicht das alleinige oder entscheidende Belastungsbeweismittel sein dürfe, durchaus als strikte äußerste Grenze für die Auswirkungen an sich zulässiger Einschränkungen des Zeugenbefragungsrechts auf die Verteidigung des Angeklagten aufzufassen sein könnte. Mit einer solchen Grenzziehung unternähme der Gerichtshof dann den Versuch, die Fälle, in denen die für die Verteidigung aus der fehlenden oder beschränkten Befragungsmöglichkeit resultierenden Nachteile nicht ausreichend kompensiert werden können, in abstrakt-genereller Form zu bestimmen.

Wie die Analyse der in den Beschwerdeverfahren Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien ergangenen Urteile im III. Abschnitt zeigt, hat sich die 4. Kammer des EGMR in der Tat auf den Standpunkt gestellt, dass in den vom Lucà-Test erfassten Fällen eine ausreichende Kompensation der für die Verteidigung entstandenen Nachteile letztlich nicht möglich sei. Von dieser Position ist die Große Kammer des EGMR jedoch abgerückt. Die Große Kammer hält zwar ausdrücklich an der im Lucà-Urteil gewählten Leitlinie fest. Gleichzeitig wird aber der Stellenwert der Untersuchung, ob die trotz unzureichender Befragungsmöglichkeit in den Prozess eingeführte Aussage das einzige oder entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten darstelle, relativiert. Im Ergebnis kommt dieser Erwägung deshalb nicht die Funktion einer absoluten "Einschränkungsschranke"[8] zu. Stattdessen eröffnet die Entscheidung der Großen Kammer bewusst die Möglichkeit, dass auch eine Verurteilung, die sich allein oder entscheidend auf eine in zulässiger Ausnahme

von Art. 6 Abs. 3 lit. d eingeführte Zeugenaussage stützt, mit dem speziellen Garantiegehalt des Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 vereinbar sein könnte. Weil die Lucà-Formel nach ihrer Rekontextualisierung keine absolute Grenze der von dem Angeklagten hinzunehmenden Auswirkungen einer zulässigen Einschränkung des Zeugenbefragungsrechtes kennzeichnen kann, macht die neu justierte Verletzungsprüfung eine intensive fallbezogene Befassung der Straßburger Richter mit den konkreten verbleibenden Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten erforderlich. In diesem Zusammenhang beharrt die Große Kammer zwar darauf, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d einen speziellen Garantiegehalt habe, der nicht – wie es einigen mitgliedsstaatlichen Gerichten vorschwebe – in amorphen Fairnesserwägungen aufgehen dürfe. Doch dieser eigenständige Garantiegehalt ist in der Anwendung des neu geordneten Prüfungsschemas auf die vorliegenden Sachverhalte durch die Große Kammer allenfalls schattenhaft erkennbar.

Trotzdem ist die Verfasserin der Auffassung, dass die Große Kammer mit der Modifikation des Lucà-Tests den richtigen Weg eingeschlagen hat. Dies wird im IV. Abschnitt mit den untragbaren Kosten einer mechanischen Anwendung des Lucà-Tests für die gerichtliche Wahrheitsfindung begründet. Auch die – oft missverstandene – Entstehungsgeschichte von Art. 6 Abs. 3 lit. d stützt die flexiblere Handhabung. Entscheidend ist aber letztendlich die bürgerrechtliche Dimension dieser Verfahrensgarantie. In ihr wird erkennbar, unter welchen Umständen von dem Angeklagten erwartet werden kann, die für die Verteidigung aus der Nichtbefragbarkeit des Zeugen entstandenen, nicht voll kompensationsfähigen "Restlasten" hinzunehmen. Als Bürger hat auch der Angeklagte Grund, den tatsächlich überzeugenden Beweis in bestimmten extrem gelagerten Fällen auch ohne Befragungsmöglichkeit zur Urteilsgrundlage werden zu lassen. So vermittelt der Bürgerstatus des Angeklagten nicht nur Grundlagen, sondern auch Grenzen seines verfahrensbezogenen Statusrechts.

II. Die Rechtsprechung des EGMR zum Zeugenbefragungsrecht bis zum Al-Khawaja-Verfahren im Überblick

1. Allgemeines

Seit jeher hat es der EGMR als selbstverständlich angesehen, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d die Zulassung von Beweismitteln, mit denen die Bekundungen eines nicht verfügbaren Zeugen indirekt in die Hauptverhandlung eingeführt werden sollen, nicht völlig ausschließen will. Insoweit garantiert die Vorschrift nicht etwa: "Zeuge her oder gar nichts." In der Entscheidung Kostovski v. Niederlande,[9] die als Beispiel für eine von dem Gerichtshof häufig verwendete Formulierung dienen kann, wird der Schutzumfang der Vorschrift wie folgt umschrieben:

"This does not mean, however, that in order to be used as evidence statements of witnesses should always be made at a public hearing in court: to use as evidence such statements obtained at the pre-trial stage is not in itself inconsistent with paragraphs (3)(d) and (1) of Article 6, provided that the rights of the defence have been respected."[10]

Positiv gewendet, heißt das: Garantiert wird eine mit den Rechten der Verteidigung vereinbare Einführung von Aussagen von Zeugen. Unter "Zeugen" sind dabei alle Personen zu verstehen, deren Bekundungen zum Zwecke des Tatnachweises direkt oder indirekt vor Gericht eingeführt werden, mögen diese vom nationalen Verfahrensrecht als Zeugen und die Art der Einführung ihrer Bekundungen als Zeugenbeweis klassifiziert werden oder nicht.[11]

Das obige Zitat zeigt auch, dass der Gerichtshof traditionell die Prüfung einer möglichen Verletzung des Zeugenbefragungsrechts (Art. 6 Abs. 3 lit. d) und die Prüfung einer möglichen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1) zusammenzieht, und zwar unabhängig davon, ob speziell die Nichtbeibringung des Zeugen in der Hauptverhandlung oder ein anderer Aspekt der Einführung oder Verwertung einer mit dem Makel fehlender oder unzureichender Befragungsmöglichkeiten durch die Verteidigung behafteten Aussage durch das Gericht von dem Beschwerdeführer selbst als konventionswidrig herausgestellt wird. Macht man sich bewusst, dass letztlich alle in den Schutzbereich des Zeugenbefragungsrechts fallenden Beschwerden gegen den Gebrauch einer unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierten und den Beschwerdeführer in einem gegen ihn betriebenen Strafverfahren belastenden Aussage gerichtet sind, ist gegen diese einheitliche Behandlung nichts einzuwenden.

Obwohl der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. d offen lässt, zu welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten das Recht auf Zeugenbefragung gewährt werden muss, geht der Gerichtshof davon aus, dass der Angeklagte grundsätzlich ein Recht darauf hat, in der Hauptverhandlung mit den Belastungszeugen konfrontiert zu werden. Dass sämtliche Beweise normalerweise in der öffentlichen Verhandlung in Gegenwart des Angeklagten im Hinblick auf ihre Kontestation durch die Verteidigung vorzulegen seien,[12] ist fester Bestandteil der in den einschlägigen EGMR-Urteilen nahezu wortgleich enthaltenen Zusammenfassung der konventionsrechtlichen Vorgaben. Hier wird der Einfluss von Art. 6 Abs. 1 auf den kombinierten Prüfungsmaßstab erkennbar. Die Verfahrensfairness verlangt unter anderem die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung und die Präsentation des Beweismaterials in einer für den Angeklagten zugänglichen Weise vor Gericht. Erst durch Art. 6 Abs. 1 verdichtet sich das Recht auf Zeugenbefragung zu einem Recht, das grundsätzlich im Gerichtssaal

selbst zu gewähren ist. Aus demselben Grund ist es deshalb denkbar, dass auch eine außerhalb der Hauptverhandlung ermöglichte Befragung eines Zeugen durch die Verteidigung unter dem isolierten Gesichtspunkt des Zeugenbefragungsrechts eine vollwertige Gelegenheit zur Rechtsausübung darstellen kann.

In den Entscheidungen des Gerichtshofs wird nicht ganz deutlich, ob der Gerichtshof bei vollwertiger Gelegenheit zur Zeugenbefragung außerhalb der Hauptverhandlung Art. 6 Abs. 3 lit. d gar nicht als berührt ansieht oder ob er gleichwohl wegen der Abwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung von einer in den Schutzbereich dieser Vorschrift fallenden Beeinträchtigung der Rechte der Verteidigung ausgeht, die notwendig gewesen sein muss (aber, soweit sie notwendig war, durch die gewährte Befragungsmöglichkeit im Vorverfahren hinreichend kompensiert wurde). Das Urteil im Fall Isgrò v. Italien[13] spricht für die letztgenannte Auffassung. Dort hatte der Angeklagte im Vorverfahren vor dem Ermittlungsrichter ausreichend Gelegenheit, die Belastungszeugen zu befragen. Der Gerichtshof stützt sich in diesem Fall ausdrücklich auch darauf, dass der Staat ausreichende Anstrengungen unternommen hatte, um die Anwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Neuere Entscheidungen insbesondere gegen Russland scheinen aber in diesem Punkt großzügiger zu sein und legen die Schlussfolgerung nahe, dass eine vollwertige Befragungsmöglichkeit im Vorverfahren eine Beeinträchtigung von Art. 6 Abs. 3 lit. d von vornherein ausschließt, so dass es nicht mehr darauf ankommt, ob der Zeuge in der Hauptverhandlung aus zwingenden Gründen abwesend war.[14] Jedenfalls in Fällen, in denen eine gewisse Beschränkung der Rechte der Verteidigung wegen der Existenz konkurrierender Rechte (und staatlicher Schutzobligationen bezüglich dieser Rechte) des betroffenen, besonders gefährdeten Zeugen hinzunehmen ist, geht der Gerichtshof davon aus, dass der Angeklagte kein unbeschränktes Recht auf Vorführung des Zeugen vor Gericht hat. Grundsätzlich sei es Aufgabe der mitgliedstaatlichen Fachgerichte, darüber zu befinden, ob es notwendig oder ratsam sei, einen Zeugen in der Hauptverhandlung zu hören.[15]

Zusammengefasst bedeutet dies: In erster Linie soll der Verteidigung Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen in der Hauptverhandlung zu befragen. Sofern diese Möglichkeit nicht gewährt wird und das Gericht von dem Inhalt der Bekundungen des Zeugen auf andere Art Kenntnis nimmt, stellt sich die Frage, ob dies mit den Rechten der Verteidigung zu vereinbaren ist. Daher ist es im Prinzip unproblematisch, wenn die Verteidigung auf die Anhörung eines Belastungszeugen verzichtet und in der Hauptverhandlung der Ersetzung der mündlichen Aussage durch ein früheres Vernehmungsprotokoll zustimmt – und zwar unabhängig davon, ob die Verteidigung bei der früheren Vernehmung Gelegenheit zur Befragung des Zeugen hatte oder nicht.[16] Diese Situation ist nämlich im Kern so beschaffen, dass die Verteidigung, weil sie auf der möglichen Befragung des Zeugen in der Hauptverhandlung hätte bestehen können, im entscheidenden Sinn Gelegenheit zur Zeugenbefragung hatte und eben hierauf verzichtet hat. Davon scharf zu trennen sind (a) Situationen, in denen die Verteidigung den Zeugen in der Hauptverhandlung befragen will, dies aber nicht tun kann, weil der Zeuge nicht beizuschaffen ist, und (b) Situationen, in denen eine effektive Infragestellung des Wahrheitsgehalts der Zeugenaussage in der Hauptverhandlung trotz Anwesenheit und Aussagebereitschaft des Zeugen nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Anwesende, aber nur eingeschränkt befragbare Zeugen fallen in eine Grauzone, wo man in Zweifel ziehen könnte, ob überhaupt der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 3 lit. d betroffen ist oder nur Art. 6 Abs. 1. Der Gerichtshof ordnet aber nicht nur Fälle, in denen der Zeuge in der Hauptverhandlung schlicht nicht da ist, sondern auch Fälle, in denen der Zeuge zwar anwesend ist, aber gleichwohl nicht effektiv befragt werden kann, dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 zu und erspart sich so eine genaue Abgrenzung der Anwendungsbereiche dieser Verfahrensgarantien.

Die Bandbreite und Komplexität möglicher Sachverhaltskonstellationen ist aus der nachstehenden Übersicht ersichtlich. Überschneidungen zwischen den hier aufgeführten Fallgruppen sind ebenso möglich wie die Bildung weiterer Untergruppen und die Verwendung anderer Zuordnungsraster.[17]

A. Eine Befragung des Zeugen durch die Verteidigung ist überhaupt nicht möglich:

(1) "tatsächliche Unmöglichkeit"

(a) vorverstorbener Zeuge

(b) nicht auffindbarer Zeuge (vorausgesetzt, mögliche und zumutbare Nachforschungen nach dem Verbleib des Zeugen wurden unternommen)

(c) kommunikationsunfähiger Zeuge

(d) nicht erinnerungsfähiger Zeuge[18]

(2) "rechtliche Unmöglichkeit"

(a) erfolglose Ausschöpfung aller staatlichen Möglichkeiten zur direkten Zeugniserlangung (Auslandszeugen)

(b) Befreiung des aussageunwilligen Zeugen von der Aussagepflicht: Der Zeuge ist in der Hauptverhandlung anwesend oder seine Anwesenheit könnte sichergestellt werden, aber der Zeuge darf sein Erscheinen vermeiden oder die Aussage verweigern.

Folgende Untergruppen[19] lassen sich unterscheiden, wobei ein Zeuge durchaus in mehrere Untergruppen fallen kann:

(aa) Der Zeuge verweigert aus einem ihm in seinem eigenen Interesse eingeräumten Zeugnisverweigerungsrecht heraus die Aussage (hierher gehören etwa bestimmte enge Angehörige des Angeklagten, denen eine Aussage gegen den Angeklagten nicht zugemutet werden kann, bestimmte Berufsgeheimnisträger wie etwa Geistliche oder Journalisten, deren Berufsethik der Preisgabe ihrer Informationsquellen entgegensteht, schweigeberechtigte Mitangeklagte, verängstigte Zeugen etc.);

(bb) Der Zeuge verweigert die Aussage, weil er aufgrund einer ihm im Interesse des Angeklagten auferlegten Verschwiegenheitsobliegenheit nicht zur Aussage befugt ist (etwa ein den Angeklagten behandelnder Arzt, den der Angeklagte nicht von seiner Schweigepflicht entbindet);

(cc) Der Zeuge verweigert die Aussage, weil ihm andere zivile Verfahrensbetroffene (Opfer, Zeugen) keine Aussageerlaubnis geben und er deshalb zur Verschwiegenheit verpflichtet ist;

(dd) Der Zeuge verweigert die Aussage, weil ihm staatliche Behörden keine Aussageerlaubnis gegeben haben (Verdeckte Ermittler, Geheimdienstmitarbeiter u.ä.).

B. Die Effektivität der Zeugenbefragung durch die Verteidigung ist erheblich eingeschränkt.

(1) Auf tatsächlichen Gründen beruhende Einschränkungen:

Zeugen mit starken Dysfunktionalitäten bei der Zeugnisablegung (sehr junge Kinder, Demenz-Kranke, geistig stark gestörte, verwirrte oder zurückgebliebene Zeugen).

(2) Auf rechtlichen Gründen beruhende Einschränkungen:

(a) Anonyme Zeugen.

(b) Zeugen, die nicht von der Verteidigung gesehen oder ohne Stimmverzerrung gehört werden können.

(c) Zeugen, die aus Gründen der Selbstbelastungsfreiheit einzelne Fragen nicht beantworten.

(d) Zeugen, die aufgrund der Art des angeklagten Delikts oder aus anderen Gründen nicht im Gerichtssaal aussagen oder sich im Gerichtssaal keiner direkten Befragung durch die Verteidigung stellen müssen, die aber außerhalb des Gerichtssaals durchaus befragt wurden (gegebenenfalls auch unter Beteiligung der Verteidigung).

Die Fallgruppen A.(2)(b) und B.(2) überschneiden sich in der Praxis häufig.

2. Die Verletzungsprüfung

Bei der Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 strebt der Gerichtshof die Klärung zweier Fragen an: Hat der Staat das Zeugenbefragungsrecht des Angeklagten auch wirklich nicht mehr als notwendig eingeschränkt?, und Ist die damit einhergehende Einschränkung der Rechte der Verteidigung konventionsrechtlich hinnehmbar?

Diese unter dem Eindruck der uneinheitlichen EGMR-Rechtsprechung[20] hier bewusst breit und allgemein gehaltenen Fragen identifizieren Themenkomplexe für die Verletzungsprüfung und geben ein grobes Raster für die

Systematisierung und Interpretation der von dem EGMR in Ansatz gebrachten Prüfungskriterien vor. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist schon jetzt darauf hinzuweisen, dass bestimmte Gesichtspunkte sowohl für die Beantwortung der ersten als auch für die Beantwortung der zweiten Frage relevant sind. Dies gilt insbesondere für den Aspekt der Kompensation.

a) Die Notwendigkeit der Einschränkung des Zeugenbefragungsrechts des Angeklagten

Der Gerichtshof weist in seinen Entscheidungen regelmäßig darauf hin, dass die Beschränkung der Rechte des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d "notwendig" sein muss. Wenn der Zeuge verstorben ist, besteht hieran kein Zweifel. Aber wenn der Zeuge noch lebt, muss die Frage der Notwendigkeit eingehender geprüft werden. Bevor sich das Tatgericht in einem solchen Fall mit außergerichtlich abgegebenen Bekundungen eines Zeugen begnügen kann, muss es vernünftige Anstrengungen unternehmen, um die Anwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung sicherzustellen.[21] Daran fehlte es z.B. im Fall Makeyev v. Russland,[22] in dem einer der drei nicht gehörten Zeugen sich in einer anderen Sache in Polizeigewahrsam befand, die zweite Zeugin bei dem Versuch der Zustellung der Ladung nicht in ihrer Wohnung angetroffen worden war, ohne dass nachgeforscht wurde, ob und wohin diese Zeugin möglicherweise verzogen sein könnte, und die dritte Zeugin so kurzfristig geladen wurde, dass sie keine Kinderbetreuung organisieren konnte und deshalb der Hauptverhandlung fernblieb. Ausreichend waren demgegenüber die in Gossa v. Polen[23] unternommenen ergebnislosen Anstrengungen des Tatgerichts, über das polnische Konsulat die ladungsfähige Anschrift einer ins Ausland verzogenen Auslandszeugin zu ermitteln.[24] Auch auf kommissarische Zeugenbefragungen im Wege der Rechtshilfe durfte zurückgegriffen werden, nachdem vorangegangene Versuche, die Teilnahme des Zeugen an der Hauptverhandlung sicherzustellen, fehlgeschlagen waren.[25] Das Recht des Angeklagten auf Zeugenbefragung erstreckt sich prinzipiell auf jeden Zeugen, auf den sich die Anklage stützen will.[26] Soweit ersichtlich, hat der Gerichtshof bisher nicht entschieden, ob die Intensität der vom Staat zu erwartenden Bemühungen um das Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung konstant ist oder mit der Bedeutung des Zeugen für die Aufklärung des Sachverhaltes ansteigt.[27] Wenn ein Zeuge nur bei besonderen Schutzmaßnahmen – etwa der Gewährung von Anonymität – zur Aussage bereit ist, wird von dem Mitgliedstaat eine eingehende Prüfung der Frage verlangt, ob die Umstände des Falles dem Zeugen tatsächlich hinreichende Gründe geben, seiner Aussagepflicht nicht im Gerichtssaal nachzukommen. Pauschale Kriterien wie etwa die Rechtsnatur oder Schwere der angeklagten Tat reichen nicht aus.[28]

Falls nach dem Vorgenannten feststeht, dass die Teilnahme des Zeugen an der Hauptverhandlung unmöglich ist, besteht im Prinzip ein guter Grund für die Einführung außergerichtlicher Aussagen, auch wenn der Angeklagte oder die Verteidigung keine Gelegenheit zur Befragung des Zeugen hatten. Dies deckt aber nur den ersten Teilaspekt der Notwendigkeitsprüfung – die Frage, ob die Rechte der Verteidigung überhaupt eingeschränkt werden mussten – ab. In vielen Fällen verlangt der Gesichtspunkt der Notwendigkeit auch eine eingehende Befassung mit einem zweiten Teilaspekt, nämlich ob die Beschränkung der Rechte der Verteidigung auch in dieser Intensität erforderlich war.[29] Gerade wenn die fehlende Durchsetzbarkeit des Anspruchs auf Zeugenbefragung auf der Anerkennung von Zeugnisverweigerungsrechten oder von Zeugnisverboten sowie auf der Beschränkung von Befragungsmöglichkeiten aus Zeugenschutzgründen beruht, kommt diese zweite Komponente der Notwendigkeitsprüfung zu ihrem Recht. Hier will der Gerichtshof zwar einerseits vermeiden, in die Prüfung von Verstößen gegen nationales Verfahrensrecht, das bei richtiger Rechtsanwendung zu einer weiter gehenden Beteiligung der Verteidigung an der Zeugenbefragung geführt hätte, verwickelt zu werden. Andererseits wird gerade in den Fällen, in denen die nationalen Fachgerichte Spielraum bei der Ausgestaltung der konkreten Befragungssituation eines aus rechtlichen Gründen nur eingeschränkt befragbaren Zeugen haben, von dem Gerichthof durchaus konkret fallbezogen erörtert, ob sich nicht andere Zeugenschutzmöglichkeiten angeboten hätten, bei denen die Effektivität der Zeugenbefragung durch die Verteidigung weniger stark beeinträchtigt worden wäre, ohne dass dies dem Zeugenschutz abträglich gewesen wäre.[30]

b) Die Ausschöpfung bestehender Kompensationsmöglichkeiten

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob der Staat die für die Verteidigung aus der fehlenden Befragungsmöglichkeit resultierenden Misslichkeiten ausreichend kompensiert hat. Kompensation ist hier nicht im Sinne von Entschädigung zu verstehen. Vielmehr geht es

darum, welche Schritte der Staat noch im Strafverfahren unternehmen kann, um die Nachteile, die für die Verteidigung des Angeklagten wegen der fehlenden oder bloß eingeschränkt möglichen Konfrontation des Zeugen entstanden sind, auszugleichen.[31]

Die Thematik der Kompensation ("counterbalancing") taucht vor allem in Entscheidungen, die besondere Umstände der Zeugnisablegung betreffen, auf. Bei genauer Betrachtung kristallisieren sich in den Entscheidungen des Gerichtshofs zwei Ebenen der Kompensation heraus. Auf der ersten Ebene verbindet sich der Aspekt der Kompensation mit der Prüfung der notwendigen Eingriffsintensität und ist Teil der Erörterung, welche konkret möglichen Ausgleichsmaßnahmen der Staat für die Verteidigung bei diversen Sonderfällen der Zeugnisablegung getroffen hat und ob er sich dabei im Rahmen des für den Zeugenschutz Notwendigen gehalten hat. Deshalb lässt sich nicht pauschal sagen, ob die mit der Beeinträchtigung des Zeugenbefragungsrechts einhergehenden Belastungen durch Maßnahmen wie etwa die Möglichkeit, einem kommissarisch vernommenen Zeugen vorformulierte Fragen durch den vernehmenden Richter stellen zu lassen, kompensiert werden können oder nicht. Denn hierfür kommt es auch darauf an, ob dem Zeugen in dem konkreten Fall die Anwesenheit des Verteidigers des Angeklagten bei der Befragung des Zeugen hätte zugemutet werden können.[32] Hat der Staat bei der konkreten Zeugenbefragung die Verteidigung ohne hinreichenden Grund nicht so weitgehend wie möglich beteiligt, dann ergibt sich der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 bereits aus dieser unnötig intensiven Einschränkung der Verteidigungsrechte. Diesen Zusammenhang verkennen Regierungsvertreter, wenn sie eine nicht gerechtfertigte (weil im konkreten Umfang unnötige) Einschränkung des Befragungsrechtes mit der Begründung, "es hat doch aber im Ergebnis nichts ausgemacht, der Angeklagte konnte sich trotzdem wirksam verteidigen und seine Argumente vorbringen", zu rechtfertigen suchen. Dass es dem Angeklagten möglich war, die unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierte Aussage mit seiner Verteidigungsstrategie anzugreifen, kann eine im konkreten Umfang unnötige Einschränkung der Verteidigungsrechte nicht rechtfertigen. Auf diesen Gesichtspunkt kommt es erst an, wenn es um die Hinnehmbarkeit einer im konkreten Umfang unvermeidlichen Einschränkung der Rechte der Verteidigung geht – mit anderen Worten, um die zweite Ebene der Kompensationsprüfung.

Die zweite Ebene der Kompensationsprüfung erreicht man also nur in der (allerdings recht großen) Restgruppe von Fällen, in denen die Beschränkung des Zeugenbefragungsrechts nach den gesamten Umständen des Falles nicht über das unvermeidliche Maß hinausgegangen ist. Hier soll das Tatgericht in anderer Weise auf Ausgleich der für die Verteidigung entstandenen Nachteile bedacht sein. Das Tatgericht wird hier vom Gerichtshof zu besonderer Vorsicht im Umgang mit dem implizierten Beweismittel aufgerufen: "Evidence obtained from a witness under conditions in which the rights of the defence cannot be secured to the extent normally required by the Convention should … be treated with extreme care."[33] Was genau hierunter zu verstehen ist, wird nicht weiter erklärt. Man könnte eine besonders eingehende Auseinandersetzung des Tatgerichts mit möglichen Lücken und Schwächen der implizierten Aussage erwarten. Denkbar wäre auch, solchen Aussagen prinzipiell mit einer gehörigen Portion Misstrauen zu begegnen und ihre Stützung durch außerhalb der Aussage liegende und von ihr unabhängige Beweismittel zu verlangen. Oder man könnte danach fragen, ob dem Angeklagten noch Angriffsmöglichkeiten verblieben sind, durch die er die Verlässlichkeit des Aussageinhalts oder die Glaubwürdigkeit des Zeugen konkret in Zweifel ziehen konnte und von dem Tatgericht verlangen, dass es insoweit auch der ansonsten vielleicht eher fern liegenden Möglichkeit, dass der Zeuge den Angeklagten fälschlich belasten könnte, echtes Gewicht beimisst. Aber alle erdenkliche Vorsicht, so legen mehrere Urteile des Gerichtshofs nahe, kann nicht genügen, wenn das implizierte Beweismittel das einzige oder entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten ist.

3. Die Bedeutung der "allein oder entscheidend"-Klausel (Lucà-Test)

Im Lucà-Urteil wird die Erwägung, dass es nicht mit Art. 6 EGMR zu vereinbaren sei, wenn sich das Urteil gegen den Angeklagten "allein oder entscheidend" auf das Zeugnis einer Person stütze, die die Verteidigung zu keinem Zeitpunkt habe befragen können, als Begleiterscheinung bzw. Folge ("corollary") der Vorgabe, dass bei Ausnahmen vom Zeugenbefragungsrecht für die Verteidigung noch ausreichend Gelegenheit zur Kontestation der unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierten Aussage bestehen müsse, bezeichnet.[34] Das liest sich so, als weise der Gerichtshof bloß auf eine Selbstverständlichkeit hin. Dass die Einführung implizierter Zeugenaussagen mit Art. 6 zu vereinbaren sei, wenn dies nötig sei und wenn der Angeklagte ausreichend Gelegenheit bekomme, diese Aussagen anzugreifen und sich dagegen zu wehren, bringe es mit sich, dass die Verteidigung stärker als mit Art. 6 vereinbar behindert werde, wenn eine solche Aussage "allein oder entscheidend" für den Ausgang des Strafverfahrens sei. Bei dem Versuch, diese Vorgabe umzusetzen,

stolpert der konventionsgehorsame Rechtsanwender aber schnell über einige Fußangeln.

Die Formulierung "allein oder entscheidend" wirft schon für sich genommen erhebliche Verständnisprobleme auf. Während Fälle, in denen das implizierte Beweismittel den einzigen Beweis für die Schuld des Angeklagten liefert, noch vergleichsweise leicht zu bestimmen sein dürften,[35] gestaltet sich die Beurteilung der Frage, ob ein Beweisstück für den Ausgang des Strafverfahrens "entscheidend" ist, schon deutlich schwieriger.[36] Falls hierunter jedes Beweismittel fallen sollte, auf dem der Schuldspruch beruht, dann könnte eine sehr breite Palette von implizierten Zeugenaussagen dieser Kategorie zuzuordnen sein.[37] Sollte die Formulierung, dass es sich um ein "entscheidendes" Beweismittel handeln müsse, dagegen enger zu verstehen sein – und das legt die sprachliche Verbindung "allein oder entscheidend" nahe – dann bildet sich hier offenbar so etwas wie eine konventionsrechtlich autonome Klassifizierung von Aussagen nach ihrer relativen Bedeutung für den Schuldnachweis gegenüber dem Angeklagten heraus.[38] Da kein mitgliedsstaatliches Verfahrensrecht traditionell eine Einteilung von Zeugenaussagen in "entscheidende" und "unentscheidende" Aussagen vornimmt bzw. in seinem Verfahrensrecht formalisiert,[39] kann man sich dem konventionsrechtlichen Interpretationsproblem auch nicht durch eine Rückkopplung mit bekannten Verfahrensvoraussetzungen (etwa, dass nach deutschem Verfahrensrecht ohne dieses Beweismittel kein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeklagten bestünde) nähern. Offensichtlich unbefriedigend, aber praktisch kaum zu vermeiden, ist es, sich an so ungenauen und bis zu einem gewissen Grad notgedrungen spekulativen Vorstellungen wie dass das Tatgericht den Angeklagten "ohne diese Aussage bestimmt nicht schuldig gesprochen hätte", zu orientieren. Die EGMR-Richter scheinen von der Kategorie des "entscheidenden" Beweismittels selbst nicht weniger verwirrt zu sein als andere Rechtsanwender: Im Fall Bielaj v. Polen, in dem das angebliche Tatopfer bei seiner Befragung durch die Polizei angegeben hatte, durch den Angeklagten angegriffen worden zu sein, später aber in einem Brief an die Polizei seine Vorwürfe zurückgezogen und behauptet hatte, dass alles "nur ein Missverständnis" gewesen sei, waren sich Mehrheit und Minderheit der Richter keineswegs darüber einig, ob die später im Wege der Rechtshilfe im Ausland abgelegte Aussage des angeblichen Geschädigten, in dem er den ursprünglichen Sachverhalt bestätigt hatte und den seine Aussage zurückziehenden Brief als Gefälligkeit gegenüber der Ehefrau des Angeklagten bezeichnet hatte, im Sinne der "sole or decisive"-Formel "entscheidend" für den Verfahrensausgang gewesen sei oder nicht. Eine knappe Mehrheit von vier Richtern sah die weitere Aussage des Geschädigten im Hinblick darauf, dass zwei andere Zeugen den Vorfall als solchen auch beobachtet und in der Hauptverhandlung ausgesagt hatten, als "nicht entscheidend" an. Die drei Richter in der Minderheit hielten die im Wege der Rechtshilfe erlangte Aussage des angeblichen Geschädigten sehr wohl für "entscheidend", da es ihrer Meinung nach für die Staatsanwaltschaft sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich gewesen wäre, das Verfahren nur mit den Zeugenaussagen der beiden Zufallszeugen weiter zu betreiben, wenn nicht der Geschädigte im Nachhinein seine Behauptung, dass alles "nur ein Missverständnis" gewesen sei, wieder zurückgezogen hätte.[40]

Vor allem aber bestehen Unsicherheiten bezüglich der Funktion und des Gewichts dieser Klausel im Gesamtzusammenhang der Verletzungsprüfung. Die im Lucà-Urteil gewählte Formulierung legt die Schlussfolgerung nahe, dass es unweigerlich gegen Art. 6 EMRK verstoßen müsse, wenn ein Strafurteil "allein oder entscheidend" auf der unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierten Aussage beru-

he. Was in den Entscheidungen, die den Lucà-Test exakt zitieren,[41] wie eine absolute "Beruhensschranke" klingt, fungiert in der praktischen Anwendung durch den Gerichtshof aber eher als Hilfs- oder Zusatzargument auf der zweiten Ebene der Kompensationsprüfung. Häufig dient der Hinweis, dass eine unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierte Aussage das "einzige" oder das "entscheidende" Beweismittel für die Schuld des Angeklagten gewesen sei, dem Gerichtshof nur als zusätzlicher Grund für eine schon wegen fehlender Notwendigkeit oder unzureichender Kompensation ohnehin festgestellte Verletzung.[42] In anderen Fällen trägt diese Feststellung die Entscheidung nur deshalb, weil der Gerichtshof es im konkreten Fall dahingestellt sein lässt, ob festgestellte Schwachpunkte bei der Zulassung von Zeugenbeweisen in Ausnahme von Art. 6 Abs. 3 lit. d durch die nationalen Gerichte die Rechte der Verteidigung bereits über das konventionsrechtlich als "notwendig" anzusehende Maß beschränkt haben.[43] Beliebt ist das Argument, jedenfalls habe sich die Verurteilung des Angeklagten nicht, wie geschehen, allein oder entscheidend auf besagte Aussage stützen dürfen, vor allem in Fällen, in denen die Klärung der Frage, ob die Einschränkung der Rechte der Verteidigung ungerechtfertigt war oder nicht, letztlich nur unter eingehender Befassung mit dem nationalen Prozessrecht erfolgen könnte – etwa weil der Staat, gegen den Beschwerde geführt wurde, eingewandt hat, dass die Verteidigung die ihr zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten schuldhaft nicht genutzt habe und ihr bei Ausschöpfung derselben eine effektive Befragung des Zeugen durchaus möglich gewesen wäre.[44] Hier ist es für den Gerichtshof nicht nur bequemer, sich auf die "sole or decisive"-Komponente der Verletzungsprüfung zu stützen. Angesichts der von dem Gerichtshof angestrebten reduzierten Prüfungsdichte, die die Gestaltung des Strafverfahrens in den Händen den Mitgliedsstaaten belassen und sich auch nicht auf technische Probleme der "richtigen" Anwendung mitgliedsstaatlicher Rechtsvorschriften einlassen will, ist diese Lösung auch leichter mit der Grundstruktur des entwickelten Prüfungsmodells zu vereinbaren.[45] Aber diese Beobachtungen helfen dann nicht weiter, wenn – wie im Al-Khawaja-Verfahren – der Ausgang der unter Art. 6 Abs. 3 lit.d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EGMR vorzunehmenden Prüfung allein von dem Eingreifen einer absoluten Beruhensschranke für die implizierte Aussage abhängt.

Dies war dann auch der Punkt, in dem der englische Supreme Court im Horncastle-Urteil dem EGMR offene Meuterei für den Fall in Aussicht stellte, dass der Gerichtshof den Lucà-Test als absolute Verwertungsgrenze verstanden wissen wollte. Abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten, vor denen der Rechtsanwender bei der Aufgabe, eine absolute Beruhensschranke für konventionsrechtlich implizierte Aussagen im nationalen Strafverfahren umzusetzen, stehen würde,[46] fehle es in d en Urteilen des Gerichtshofs an jeder Erklärung, warum eine solche Grenze aus Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 folgen solle. Sollte der Grund darin liegen, dass der EGMR es schlechthin für ausgeschlossen halte, dass die direkt oder indirekt eingeführte Aussage einer Person, die von der Vertei-

digung nicht oder nicht effektiv befragt werden konnte, so verlässlich sein könne, dass sie die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten tragen könne, dann sei diese Auffassung in dieser Absolutheit – bei aller gebotenen Vorsicht bei der Beweiswürdigung – unhaltbar.[47] Das lässt sich auch aus Sicht der Verfasserin kaum bestreiten: Im Strafverfahren steht oft Aussage gegen Aussage. Zweifel an der Verlässlichkeit der Aussage werden keineswegs immer durch die Befragung des Hauptbelastungszeugen durch die Verteidigung gesät. Meistens sind sie schon den aktenkundigen Angaben des Zeugen ins Gesicht geschrieben. Wenn sich die volle Überzeugung des Tatrichters auf eine einzige belastende Aussage eines von der Verteidigung auch befragten Zeugen stützen kann, dann ist kein logischer Grund erkennbar, warum dieselbe uneingeschränkte Überzeugung von Redlichkeit und Richtigkeit der Bekundungen eines einzigen Belastungszeugen nicht z.B. aufgrund einer Videoaufzeichnung der Vernehmung des kindlichen Zeugen gebildet werden kann. Diese Überzeugung muss sich natürlich bilden und hier ist es in der Tat wichtig, dass der EGMR den Tatrichter an seine Obliegenheit zu einer besonders vorsichtigen und kritischen Beweiswürdigung erinnert. Aber wenn keine Unsicherheiten im Ausdruck oder in der Beschreibung und keine Erinnerungsschwächen zu erkennen sind und kein Anhaltspunkt für Manipulation oder Übertreibung besteht, dann ist es irrational anzunehmen, dass einem von der Verteidigung nicht befragten Zeugen nicht geglaubt werden kann – ob dies nun der einzige Zeuge oder einer von einem Dutzend Zeugen ist. Für ein auf die Wahrheitsfindung fokussiertes Strafverfahren führt die "allein oder entscheidend"-Klausel in eine Sackgasse, weil sie – ähnlich der mittelalterlichen Korroborationsregel – dem möglichen Schuldnachweis einen Riegel vorschiebt. Die Frage ist, ob der Respekt vor den Rechten der Verteidigung diese Konsequenz gleichwohl gebietet.

Zugespitzt lautet diese Frage so: Muss sich ein Rechtsstaat wirklich der Verurteilung eines Angeklagten enthalten, wenn sich der Schuldbeweis nur durch Bekundungen führen lässt, die vom Gericht als glaubhaft und zuverlässig eingestuft werden, deren Urheber der Angeklagte aber (ohne dass dies dem Staat als sein Versäumnis angelastet werden könnte) nicht befragen oder befragen lassen konnte? Und wenn ja, wieso? Die Beschwerdeverfahren Tahery und Al-Khawaja, die im nächsten Abschnitt näher dargestellt werden, zwingen den Gerichtshof zu einer Auseinandersetzung mit genau dieser Frage.

III. Die Urteile des EGMR in Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien

1. Zum Sachverhalt

Der Beschwerdeführer Al-Khawaja, ein auf Hypnosebehandlungen spezialisierter Arzt, wurde im Jahr 2004 in zwei Fällen wegen sexueller Belästigung zum Nachteil zweier seiner Patientinnen verurteilt. Eine dieser Patientinnen hatte vor Gericht selbst ausgesagt. Die andere (S.T.) konnte dies nicht, weil sie in der Zwischenzeit Selbstmord begangen hatte. Beide angeklagte Sachverhalte warfen dem Beschwerdeführer ein im Kern sehr ähnliches Verhalten vor: dass er die betroffenen Patientinnen, während diese im hypnotisierten Zustand waren, aufgefordert habe, sich selbst und ihn sexuell zu berühren und dass er sexuelle Berührungen an bestimmten Körperstellen der Patientinnen vorgenommen habe. Keine der von den Patientinnen beschriebenen Handlungen hätte bleibende körperliche Spuren am Körper der Patientin hinterlassen können. Die Anklage im Bezug auf die Tat zum Nachteil der S.T. stützte sich auf S.T.’s detaillierte Schilderung des Tatverlaufs in ihrer polizeilichen Aussage, die sie einige Monate nach dem angeblichen Vorfall gemacht hatte. Sie erfuhr eine gewisse Stützung durch die Aussagen zweier Bekannter von S.T., denen gegenüber sich S.T. am Tag nach der angeblichen Tat in groben Zügen über das Verhalten des Angeklagten ihr gegenüber beklagt hatte. Da keine Anzeichen dafür bestanden, dass S.T. von der Anzeige der anderen Patientin gehört hatte, bevor sie sich selbst an die Polizei wandte, wurde in der Ähnlichkeit der Sachverhaltsschilderungen beider Patientinnen ein weiteres Indiz für die Glaubhaftigkeit beider Aussagen gesehen. Die Verteidigung des Angeklagten bestand in einem kategorischen Bestreiten, dass er seine Patientinnen zu unzüchtigen Handlungen aufgefordert oder solche an ihnen vorgenommen habe. Ein vom Gericht gehörter Psychologe bestätigte in allgemeiner Form die Behauptung des Angeklagten, dass es unter Hypnose zu Wahrnehmungsverschiebungen der hypnotisierten Person kommen könne. Was eine Person unter Hypnose zu erleben meine, sei deshalb nicht unbedingt mit der Realität identisch.

Der Verurteilung des Beschwerdeführers Tahery im Jahr 2005 wegen schwerer Körperverletzung lag folgender Sachverhalt zugrunde: An einem Abend im Mai 2005 war ein junger Iraner, S., durch drei Messerstiche in den Rücken verletzt worden. Die Hauptverdächtigen waren andere junge Männer, auch Iraner, mit denen das Opfer zusammen gestanden und gestritten hatte. Tahery hatte den Geschädigten S. aggressiv von vorn gepackt und gehalten, als S. seine Verletzung am Rücken spürte. S. hatte am Tatort zunächst Tahery hitzig beschuldigt, ihn "gestochen" zu haben, sich dann aber auf Taherys Leugnen hin beruhigt und sich sogar von Tahery ins Krankenhaus bringen lassen. Im Prozess sagte S. aus, nicht zu wissen, wer ihm die Stichwunden versetzt habe. Von den zahlreichen Tatzeugen sagte am Tatort niemand etwas. Nur einer der Anwesenden, T., der zusammen mit zwei Freunden hinter dem Opfer gestanden hatte, meldete sich zwei Tage später bei der Polizei und behauptete, Tahery habe das Messer geführt. In der Hauptverhandlung wollte diese Zeuge nicht aussagen. Er fürchte sich davor, wie andere Iraner in seinem Bekanntenkreis ihn nach dem Prozess schikanieren würden, wenn er gegen einen Iraner vor Gericht aussage. Der zuständige Richter hörte T. selbst an und befand, dass T.’s Ängste echt seien und diesen an einer Aussage hinderten. Damit war nach englischem Verfahrensrecht die Einführung von T.’s vorgerichtlicher Aussage gegenüber der Polizei möglich und geboten.

2. Das Urteil der 4. Kammer vom 20. Januar 2009

Die 4. Kammer des EMRK befand in ihrem Urteil vom 20. Januar 2009, dass die Verteidigung in beiden Fällen in einem über das konventionsrechtlich tragbare Maß hinaus behindert worden sei. Die ohne jede Befragungsmöglichkeit durch die Verteidigung eingeführten Aussagen von S.T. (in Al-Khawaja) und von T. (in Tahery) seien für die Verurteilung dieser Angeklagten entscheidend gewesen. Die Kammer hielt es (abgesehen von möglichen Sonderfällen wie etwa eines durch den Angeklagten an der Aussage gehinderten Zeugen) für äußerst zweifelhaft, ob die für die Verteidigung aus der Zulassung einer Aussage von diesem Gewicht entstehenden Nachteile jemals genügend aufgewogen oder ausgeglichen ("counterbalanced") werden könnten.[48] Die zur Entscheidung anstehenden Beschwerden belegten nach Ansicht der Kammer das Fehlen eines effektiven Nachteilsausgleichs. Der Beschwerdeführer Al-Khawaja habe der indirekt eingeführten Tatschilderung durch die inzwischen verstorbene angebliche Geschädigte nicht wirklich etwas entgegensetzen können, nachdem sich deren Bericht maßgeblich mit der Tatschilderung einer anderen Belastungszeugin in einem Parallelfall gedeckt habe und das Gericht befunden habe, dass es keine Hinweise auf Absprachen zwischen den beiden angeblichen Tatopfern gebe. Der Beschwerdeführer Tahery habe seine Identifikation durch T. auch

nicht effektiv angreifen können, da neben dem jetzt angeblich zur Aussage zu verängstigten einzigen Belastungszeugen keine der anderen anwesenden Personen zur Aussage bereit war. Dass der Angeklagte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, selbst auszusagen, sei rechtlich kein zu berücksichtigender Nachteilsausgleich und faktisch kein Ersatz für die fehlende Gelegenheit, den entscheidenden Belastungszeugen zu befragen und bei seiner Aussage zu beobachten.[49]

In den Ausführungen der 4. Kammer schimmert eine mögliche Erklärung der gezogenen Grenzlinie durch: dass den Angeklagten dadurch, dass sie den jeweiligen Hauptbelastungszeugen nicht befragen konnte, eine wichtige Möglichkeit, diesen Zeugen zu verunsichern oder seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern, entgangen ist. Hier brechen sich in den konkret zur Entscheidung anstehenden Beschwerdeverfahren sicher nicht einfach gerichtsromantische Vorstellungen von der Effektivität konfrontativer Zeugenbefragungen Bahn. In beiden Fällen kann man sich durchaus vorstellen, dass der Zeuge bei der Befragung "Federn gelassen" hätte. In Fall Al-Khawaja war die angebliche Tat des Angeklagten keine, die an ihrem Opfer medizinisch festzustellende Spuren hinterlassen hätte. Es wurden auch nie irgendwelche körperlichen Spuren der Tat an dem Opfer festgestellt. Zentral für die Frage, ob sich der Vorgang wirklich so abgespielt hatte wie von der Geschädigten S.T. behauptet, war deren Wahrnehmung von Berührungen durch den Angeklagten unter Hypnose. Es gibt zwar wenig Grund anzuzweifeln, dass der von der Geschädigten erhobene Tatvorwurf ihrer Erinnerung entsprach. Aber welchen Eindruck das Gericht von der Erinnerungsfähigkeit dieser Zeugin im Bezug auf das von ihr im Zustand der Hypnose Erlebte bekommen hätte und wie die Zeugin selbst auf den Vorhalt, dass der Zustand der Hypnose die Wahrnehmung von Handlungen verändere, reagiert hätte, lässt sich nicht vorhersagen. Im Fall Tahery war an der Tatschilderung des Zeugen einiges fragwürdig. Der von dem Zeugen behauptete Tatverlauf war schwer mit den von dem Opfer erlittenen Verletzungen in Einklang zu bringen. Der Zeuge hatte darüber hinaus möglicherweise sogar ein Interesse daran, den Verdacht von anderen anwesenden Personen oder sogar von sich selbst abzulenken.

Sollte die entscheidende Frage für die 4. Kammer darin bestehen, ob dem Angeklagten nachvollziehbar gerade dadurch, dass er den Hauptbelastungszeugen nicht befragen konnte, eine Chance auf effektive Auseinandersetzung mit dem Anklagevorwurf entgangen sei, dann müsste diese Vorgabe nicht unbedingt durch generelle Regeln wie den sole-or-decisive-Vorbehalt umgesetzt werden. Festzuhalten ist aber, dass die Entscheidung der 4. Kammer keinen Zweifel daran lässt, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EMRK auch Verurteilungen, die sich auf eine unter den gegebenen Umständen optimale oder nahezu optimale Beweislage stützen, zu Fall bringen kann. Der Fall Tahery hat (was das Nachgeben gegenüber dem aussageunwilligen Zeugen angeht) sicherlich seine eigenen Probleme. Aber wie häufig wird bei minder schweren Sexualstraftaten die Beweislage besser sein als in Al-Khawaja, und wie häufig ist ein späterer Befragungsnotstand zeitig vorhersehbar und demgemäß vermeidbar? Darauf, ob der Staat die spätere Befragungsnot zu verschulden hat, kommt es ja nicht an. Nach der Logik der Entscheidung der 4. Kammer ist es durchaus vorstellbar, dass es aus konventionsrechtlichen Gründen nicht mehr möglich sein könnte, die von einem Sterbenden in der Sekunde seines Todes verratene Identität des Täters einer bestimmten Tat zum zentralen Beweisstück einer Anklage zu machen.[50] Überraschend ist es nicht, wenn da bei vielen Strafrechtspraktikern eine Warnleuchte zu blinken beginnt.

3. Das Urteil der Großen Kammer vom 15. Dezember 2011

Wie bereits einleitend erwähnt, stellt die Große Kammer nur noch im Fall Tahery eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, während Al-Khawaja’s Beschwerde von der 15-köpfigen Mehrheit der Richter zurückgewiesen wird. Worin liegt der unterschiedliche Ausgang begründet?

Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass der betroffene Mitgliedsstaat im Fall Tahery über die Hürde der Notwendigkeit der Rechtsbeeinträchtigung gestolpert sein muss. Selbst wenn man akzeptieren wollte, dass T. nur deshalb nicht vor Gericht aussagen will, weil er sich vor der Reaktion anderer Iraner auf diesen "Verrat an einem Landesgenossen" fürchtet, sitzt T., was das angeht, doch ohnehin in der Patsche, denn anderen Iranern wird kaum entgangen sein, dass es T. war, der Tahery bei der Polizei angeschwärzt hatte. T. kann den für ihn hieraus resultierenden Schwierigkeiten gar nicht mehr dadurch ausweichen, dass er nicht vor Gericht erscheint. T. könnte diese Schwierigkeiten, so darf man vermuten, natürlich dadurch vermeiden, dass er im Gerichtssaal seine polizeiliche Aussage widerruft. Und wenn man erst einmal so weit gedacht hat, dann kann man sich auch vorstellen, warum der Anklagevertretung prozesstaktisch einiges daran gelegen sein könnte, dass sie diesen potenziellen Wackelzeugen nicht im Gerichtssaal produzieren muss. Bei Licht betrachtet nutzt es also hauptsächlich der Anklagevertretung, wenn T. sich aus Angst vor einer Befragung im Gerichtssaal drücken darf. Aber wehe dem, der hier Böses denkt. Der EGMR, nein, der denkt sich das nicht! Und so kommt er zu dem doch etwas überraschenden Ergebnis, dass der betroffene Mitgliedstaat hier aus konventionsrechtlich anzuerkennenden Gründen im

konkreten Fall die Beschränkung des Zeugenbefragungsrechts für notwendig befunden hat.[51]

Auch die allgemeine Vorgabe der Großen Kammer, wann ein Mitgliedsstaat einen Zeugen, der "aus Angst" nicht aussagen wolle, von seiner Zeugnispflicht befreien dürfe, gerät großzügig:

" There is … no requirement that a witness’s fear be attributable directly to threats made by the defendant in order for that witness to be excused from giving evidence at trial. Moreover, fear of death or injury of another person or of financial loss are all relevant considerations in determining whether a witness should not be required to give oral evidence. This does not mean, however, that any subjective fear of the witness will suffice. The trial court must conduct appropriate enquiries to determine first, whether or not there are objective grounds for that fear, and, second, whether those objective grounds are supported by evidence.”[52]

Es ist der Großen Kammer zwar darin zuzustimmen, dass die Furcht des Zeugen nicht durch Drohungen des Angeklagten selbst ausgelöst zu sein braucht, sondern auch auf dem Ruf des Angeklagten oder dem Verhalten von Sympathisanten des Angeklagten, die "auf eigene Faust" handeln, beruhen kann. Der Grund liegt darin, dass es vorliegend um die Grenze der Zumutbarkeit der Zeugnisablegung für den Zeugen geht. Starke Furcht kann die Zeugnisablegung zu einer nicht zu ertragenden psychologischen Belastung werden lassen und so für den Zeugen unzumutbar machen – unabhängig davon, ob diese Ängste von dem Angeklagten gezielt ausgelöst wurden oder nicht.[53] Es ist auch sinnvoll und wichtig, dass der EGMR darauf besteht, dass das Tatgericht sich insoweit nicht mit der schlichten Angabe des Zeugen, er fürchte sich, begnügen darf, sondern sich vergewissern muss, dass die Ängste des Zeugen nicht nur subjektiv vorhanden (also echt und nicht nur vorgeschoben oder vorgespielt), sondern auch nachvollziehbar und durch äußere Tatsachen gestützt (also nicht irrational oder auf falsche Annahmen des Zeugen gegründet) sind. Aber wovor muss der Zeuge sich fürchten? Dass die Zeugnisablegung das Leben oder die Gesundheit eines Menschen – sei es der Zeuge selbst oder eine andere Person – in Gefahr bringen würde, ist sicherlich ein anerkennenswerter Grund. Aber "Angst vor den möglichen finanziellen Konsequenzen der Zeugnisablegung" gehört wohl kaum in diese Kategorie! Solche Ängste erklären vielleicht, warum der Zeuge keine Lust dazu hat, vor Gericht auszusagen (er fürchtet sich davor, seinen Job zu verlieren, und ähnliches), aber sie geben sicher keine überzeugende Leitlinie dafür vor, wann von einem Staatsbürger nicht mehr länger erwartet werden darf, dass er seiner Zeugnispflicht nachkommt. Auch diese Vorgabe des Gerichtshofs erweist sich deshalb letztendlich als ein die Anklagebehörde begünstigender Schritt. Alle Gründe, aus denen ein Zeuge sich tatsächlich gerne vor der Pflicht, im Gerichtssaal zu erscheinen, drücken würde, können nun auch rechtlich genügend Grund für die "Notwendigkeit" der Einschränkung des Zeugenbefragungsrechts des Angeklagten liefern. Als anklagefreundliche Maßnahme der gesteigerten Verfahrenseffizienz war diese Ausnahme von der hearsay rule übrigens auch von dem englischen Gesetzgeber intendiert. Ernstzunehmende Kommentatoren sind heute der Meinung, dass sich der Staat so der Verpflichtung, einen Belastungszeugen auch beizuschaffen und zur Aussage anzuhalten, auf allzu bequeme und letztendlich sogar die Wahrheitsfindung gefährdende Weise entziehen kann.[54] Die Große Kammer hat hier eine Chance versäumt, der laxen Handhabung der Zeugnispflicht durch die mitgliedsstaatlichen Fachgerichte, die häufig mehr der Anklagebehörde dient als noch in nachvollziehbarer Weise berechtigte Interessen des Zeugen schützt, einen Riegel vorzuschieben. Dem übergeordneten Ziel der Verfahrensfairness hat die Große Kammer so einen Bärendienst erwiesen.

Da sowohl T.’s Identifikation des Angeklagten im Fall Tahery als auch S.T.’s Tatschilderung im Fall Al-Khawaja den einzigen direkten Beweis für die Täterschaft des Angeklagten bilden und der betroffene Mitgliedsstaat nach Ansicht der Großen Kammer beide Aussagen in zulässiger Ausnahme von Art. 6 Abs. 3 lit. d in das Strafverfahren eingeführt hat, wird die Anwendung des Lucà-Tests zum Dreh- und Angelpunkt des Ausgangs beider Beschwerdeverfahren. Die Große Kammer zeigt wenig Geduld mit dem ersten Argument des englischen Supreme Court, dem zufolge die Besonderheiten des Juryprozesses angeblich eine Sonderbehandlung der "Beruhensproblematik" erfordern sollen. Die Lucà-Formel lasse sich im englischen Juryprozess praktisch ebenso umsetzen wie in den verschiedenen kontinentaleuropäischen Strafverfahren.[55] Und, so mag man sich hinzu denken, wenn diese Formel problematisch ist, dann ist sie es in beiden Verfahrenskontexten im gleichen Maße.[56]

Ausgangspunkt für die Argumentation der Großen Kammer ist das für alle von Art. 6 Abs. 3 lit. d erfassten Fälle gleichermaßen geltende Prinzip, dass der Angeklagte in einem Strafverfahren dazu in der Lage sein müsse, sich gegen die gegen ihn vorgebrachten Beweise zu wehren. Dies verlange nach Ansicht der Großen Kammer "n ot merely that a defendant should know the identity of

his accusers so that he is in a position to challenge their probity and credibility but that he should be able to test the truthfulness and reliability of their evidence”[57] – und zwar durch Ausübung seines Zeugenbefragungsrechts. Nun erkennt der Gerichtshof zwar grundsätzlich an, dass notwendige Ausnahmen vom Zeugenbefragungsrecht von der Verteidigung hingenommen werden müssen. Die "sole-or-decisive"-Maßgabe betrifft die Frage, ob die Konsequenzen hinzunehmender Einschränkungen ihrerseits Grenzen haben und wie diese gegebenenfalls zu ziehen sind.

Die Große Kammer fasst Hintergrund und Zweck der "allein-oder-entscheidend"-Klausel wie folgt zusammen:

"The seeds of the sole or decisive rule are to be found in the   Unterpertinger v Austria   judgment, 24 November 1986, § 33, Series A no. 110, which also provides the rationale for the test to be applied: if the conviction of a defendant is solely or mainly based on evidence provided by witnesses whom the accused is unable to question at any stage of the proceedings, his defence rights are unduly restricted. ... It was in   Doorson[58]… that the Court first held that, even in a case where there was a justification for the failure to call a witness, a conviction based solely or to a decisive extent on evidence of that witness would be unfair.”[59]

Für die Große Kammer sind es zwei Erwägungen, die die "allein-oder-entscheidend"-Klausel tragen. Zum einen gebe die mögliche Unzuverlässigkeit ungeprüfter Zeugenaussagen Anlass zur Besorgnis: "[I]nculpatory evidence against an accused may well be `designedly untruthful or simply erroneous´. Moreover, unsworn statements by witnesses who cannot be examined often appear on their face to be cogent and compelling and it is … `seductively easy´ to conclude that there can be no answer to the case against the defendant … Experience shows that the reliability of evidence, including evidence which appears cogent and convincing, may look very different when subjected to a searching examination.”[60] Aber neben die Gefahr der möglichen Unverlässlichkeit der Urteilsgrundlage tritt für den Gerichtshof ein zweiter Grund für das Festhalten an der "allein-oder-entscheidend"-Regel: "[The]defendant must not be placed in the position where he is effectively deprived of a real chance of defending himself by being unable to challenge the case against him. Trial proceedings must ensure that a defendant’s Article 6 rights are not unacceptably restricted and that he or she remains able to participate effectively in the proceedings.”[61] Die instrumentale Funktion der Förderung der gerichtlichen Wahrheitsfindung und die nicht-instrumentale Funktion der Respektierung der Subjektstellung des Angeklagten im Strafverfahren stehen gleichwertig nebeneinander. Beiden Funktionen muss die Prüfung, ob das Recht des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EMRK im konkreten Fall verletzt wurde, gerecht werden. Deshalb kann es auch nicht angehen, die Prüfung – wie es dem e nglischen Supreme Court im Horncastle-Fall vorschwebt – allein daran auszurichten, ob die notwendiger Weise ohne Befragungsmöglichkeit eingeführte Aussage hinreichend verlässlich ist: " The Court’s assessment of whether a criminal trial has been fair cannot depend solely on whether the evidence against the accused appears   prima facie   to be reliable, if there are no means of challenging that evidence once it is admitted.”[62]

An dieser Stelle kam bis zur Entscheidung der Großen Kammer im vorliegenden Fall die Lucà-Formel zur Anwendung: Sie fungierte, wie das abweichende Sondervotum der Richter Sajó und Karakas korrekt hervorhebt, als " a backstop on Article 6 § 3 (d), so as to guarantee that the exception does not undermine the principle and that any resulting conviction does not rest ultimately or exclusively on hearsay.”[63] Durch die allein-oder-entscheidend-Klausel wurde eine absolute Grenze für noch mit der konventionsrechtlichen Garantie zu vereinbarende Folgen zulässiger Beschränkungen des Zeugenbefragungsrechts gezogen. Aber die Mehrheit der Richter ist nicht mehr länger von der Richtigkeit dieser Herangehensweise überzeugt. Die starre und inflexible Anwendung des Lucà-Tests stehe im Widerspruch zu der Flexibilität, mit der der Gerichtshof im Bezug auf andere Verfahrensgarantien die Frage der Vereinbarkeit von Einschränkungen dieser Rechte mit dem Recht auf ein faires Verfahren kläre.[64] Nur so könne der Gerichtshof auch angemessen auf die unterschiedlichen Strafprozesssysteme der Mitgliedsstaaten reagieren, ohne dabei das Prinzip eines letztlich gleichen konventionsrechtlichen Maßstabs für alle Mitgliedsstaaten aufzugeben.[65] Der Gerichtshof justiert deshalb die Bedeutung des Lucà-Tests in der Verletzungsprüfung neu: der Test wird zu einem bloßen – wenn auch wichtigen – Faktor in der Gesamtbetrachtung der Folgen der Rechtsbeeinträchtigung des Zeugenbefragungsrechts für die Fairness des Gerichtsverfahrens herabgestuft.[66]

Die Prüfungsreihenfolge verändert sich entsprechend: Zuerst wird – wie gehabt – die Frage geklärt, ob die Beschränkung der Verteidigungsrechte bezüglich der unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierten Zeugenaussagen in dem geschehenen Umfang notwendig war. In einem zweiten Schritt wird geprüft, ob diese Aussagen das "alleinige oder entscheidende"[67] Beweismittel für die Schuld des

Angeklagten waren. Im dritten Schritt wird erörtert, ob die vorhandenen Gegengewichte und Gegenmaßnahmen bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung insgesamt gleichwohl ein faires Verfahren möglich gemacht haben.[68]

Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf die zur Entscheidung anstehenden Beschwerden konzentriert sich die Große Kammer auf die Verlässlichkeit der implizierten Zeugenaussagen. Dem Umstand, dass das Zeugnis des potenziell selbst tatbeteiligungsverdächtigen T. nicht als "offensichtlich verlässlich" ("demonstrably reliable") gelten könne, kommt dabei erhebliche Bedeutung zu. Für die Große Kammer verlangt die gegenüber dem Zeugnis des T. gebotene Skepsis nach gewichtigen Anzeichen für die Verlässlichkeit seiner Angaben, bevor man diesen vertrauen könnte. Aus dem Fehlen solcher Anzeichen zieht der Gerichtshof den Schluss, dass sich die Geschworenen im Fall Tahery über die Glaubhaftigkeit von T.’s Aussage kein faires und angemessenes Urteil bilden konnten.[69] Im Fall Al-Khawaja habe es demgegenüber zumindest einige unabhängige Anzeichen für die Verlässlichkeit der Zeugenaussage von S.T. in Form der sehr ähnlichen Tatschilderung der zweiten Geschädigten im Parallelverfahren gegeben. In Fällen wie diesem, wo sich die angebliche Tat unbeobachtet von Dritten im Behandlungszimmer des Angeklagten ereignet haben solle, könne man sich ein stärkeres Glaubwürdigkeitsanzeichen schwer vorstellen.[70] Die Jury sei außerdem von dem Richter gewarnt worden, dass sie der ungeprüften polizeilichen Aussage von S.T. nicht dasselbe Gewicht beilegen solle wie der Aussage eines im Gerichtssaal befragten Zeugen. Mit Blick auf die von der Anklage vorgelegten Beweise und die Instruktion der Jury kommt der Gerichtshof deshalb zu dem Ergebnis, dass in Al-Khawajas Fall eine angemessene und faire Beurteilung der Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeugin S.T. und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben durch die Jury möglich gewesen sei.[71]

Diese Erörterungen decken aber nur die erste der von dem Gerichtshof selbst herausgestellten doppelten Zielsetzung des Zeugenbefragungsrechts ab: die Sicherung der Verlässlichkeit der Urteilsgrundlage. Dass das Zeugenbefragungsrecht dem Angeklagten bedeutungsvolle Möglichkeiten der Gegenwehr gegenüber dem Anklagevorwurf sichern will, gleitet aus dem Blickfeld. Es besteht daher durchaus die Gefahr, dass die mitgliedsstaatlichen Gerichte nun eben doch in der Sache nur eine allgemeine Fairnessprüfung vornehmen werden, bei der Fairness mit der Verlässlichkeit des zugelassenen Beweismittels gleichgesetzt wird. Das ablehnende Sondervotum der Richter Sajó und Karakas erinnert aber mit gutem Grund daran, dass der EGMR in keiner seiner Entscheidungen akzeptiert habe, dass ein Verfahren bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung insgesamt noch als fair gelten könne, wenn eines der speziell gewährten Verfahrensgrundrechte seines Kerngehalts beraubt worden sei.[72] Anders als die Richterminderheit glaubt die Verfasserin zwar nicht, dass der Kern des Zeugenbefragungsrechts nur gesichert werden könne, wenn der Gerichtshof an der starren Anwendung des Lucà-Tests festhielte. Für die Verfasserin liegt die eigentliche Schwäche der von der Richtermehrheit vorgenommenen Gesamtbetrachtung darin, dass nicht deutlich wird, wie dem Wesensgehalt der speziellen Garantie des Zeugenbefragungsrechts bei diesem Prüfungsschritt praktisch Rechnung getragen werden soll.

Zumindest der Intention nach unterscheidet sich der modifizierte Lucà-Test nämlich von einer den Fachgerichten vorschwebenden Gleichsetzung der zweiten Prüfungsstufe mit allgemeinen Fairnesserwägungen in der Fokussierung dieses Prüfungsschritts auf die Möglichkeit des Angeklagten, sich mit dem Anklagevorwurf effektiv auseinanderzusetzen. Es ist diese Möglichkeit, die dem Angeklagten als Staatsbürger, der aufgefordert ist, sich gegen einen Anklagevorwurf zu verteidigen, als Teil der rechtsstaatlichen Mindestanforderungen gewährleistet werden muss. Ein solcher Maßstab weist eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit der Prüfung der Verletzung der Wesensgehaltsgarantie von Grundrechten auf. Mit der Feststellung, dass sich das Tatgericht bei der Zulassung des implizierten Beweismittels im Rahmen des strikt Notwendigen gehalten und das Befragungsrecht nicht unnötig stark beschränkt habe, ist noch nicht abschließend über die uneingeschränkte Verwertbarkeit des Beweismittels entschieden. Vielmehr muss (noch bevor auf allgemeine Fairnessüberlegungen rekurriert wird) als nächstes die Frage gestellt werden, ob die Einführung des implizierten Beweismittels mit dem Wesensgehalt der speziellen Verfahrensgarantie vereinbar war. Dabei kommt es darauf an, ob dem Angeklagten wirklich nachvollziehbar gerade dadurch, dass er den Hauptbelastungszeugen nicht befragen konnte, eine Chance auf effektive Auseinandersetzung mit dem Anklagevorwurf entgangen ist. Generelle Regeln lassen sich hier nicht aufstellen. Die Antwort hängt von der einzelfallbezogenen Analyse der konkreten Verteidigungssituation ab.

So betrachtet liegt der Fall Al-Khawaja exakt an der Grenze hinzunehmender Einschränkungen. Denn obwohl es dem Beschwerdeführer möglich war, sein Verteidigungsvorbringen, die Anschuldigungen gegen ihn beruhten auf Fehlwahrnehmungen der hypnotisierten Patientinnen, in den Prozess einzuführen und durch das Zeugnis eines Experten zu erhärten, so dass sich das Tatgericht mit dieser Möglichkeit konkret auseinander setzen konnte, war ihm doch die Chance genommen, die Reaktion der verstorbenen Zeugin S.T. auf einen diesbezüglichen Vorhalt zu testen. Hierin liegt durchaus eine gewisse Schwächung seiner Verteidigungsstrategie, die den Gerichtshof zu der Schlussfolgerung hätte veranlassen können, dass eine ausreichende Kompensation der für die Verteidigung entstandenen Nachteile nicht stattgefunden hat.

IV. Die Modifikation des Lucà-Tests als Schritt in die richtige Richtung

Trotz der verbleibenden Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser Vorgaben hat die Große Kammer mit der Modifikation des Lucà-Tests den richtigen Weg eingeschlagen. Dies wird deutlich, wenn man sich allgemeiner mit dem legitimen Umfang der Rechtsgarantie des Art. 6 Abs. 3 lit. d befasst. Ausgangspunkt ist dabei die real bestehende Möglichkeit, dass zwischen der funktionalen – auf die Sicherung der Verlässlichkeit der Urteilsgrundlage ausgerichteten – und der nicht-funktionalen – auf die Sicherung der Subjektstellung des Angeklagten bezogenen – Dimension des Zeugenbefragungsrechts ein Zielkonflikt entstehen kann.

1. Die praktischen Kosten einer starren Anwendung der "allein-oder-entscheidend"-Regel

Trotz der absolut klingenden Formulierung des Lucà-Tests hat sich der EGMR immer eine Sensibilität dafür bewahrt, dass eine mechanisch angewandte Verwertbarkeitsgrenze für unter Art. 6 Abs. 3 lit. d implizierte Zeugenaussagen, die die Verurteilung des Angeklagten allein oder entscheidend tragen müssten, der Wahrheitsfindung in der Tatsacheninstanz abträglich wäre. Nuancen der Beweissituation sind alles entscheidend für die Beurteilung der Frage, ob der Schuldbeweis im konkreten Fall sicher geführt wurde oder nicht. Es sind nach Ansicht der Verfasserin gerade diese nicht in ein starres Schema zu pressenden feinen Unterschiede zwischen den Fällen, die letztendlich erklären, wieso Sachverhalte, die bei abstrahierender Fallgruppenbildung in dieselbe Kategorie gehören, vor dem EGMR unterschiedlich entschieden worden sind. Warum der Gerichtshof im Fall Unterpertinger v. Österreich[73] eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellt, im Fall Artner v. Österreich[74] aber nicht, kann man nicht begreifen, wenn man beide Sachverhalte nur als Fälle, in denen der Hauptbelastungszeuge in der Hauptverhandlung nicht befragt werden konnte und im Ermittlungsverfahren nur Angaben gegenüber der Polizei machte, versteht. Wenn man aber die Einzelheiten der Beweislage auf sich wirken lässt, dann wird einem nicht entgehen, dass es im Fall Artner ein Muster in der Vorgehensweise des Angeklagten gab. Die Zeugin, deren Anschrift nicht mehr zu ermitteln war, war nicht die einzige Person, der der Angeklagte "gegen Gebühr" einen Kredit vermittelt hatte. Es gibt nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass der Angeklagte ausgerechnet bei dieser Kreditvermittlung nicht die von der Geschädigten behauptete stattliche Summe als Gebühr für seine Kreditvermittlung verlangt und bekommen hatte. Man hat auch keinen Anlass, sich zu fragen, wieso denn die Hauptzeugin in der Hauptverhandlung nicht mehr erreichbar sei. Der seit der Tat verstrichene lange Zeitraum lässt den Wegzug der Hauptbelastungszeugin als natürliche, ihre Glaubwürdigkeit nicht in Zweifel ziehende Lebensentwicklung erscheinen. Im Fall Unterpertinger war dagegen schon nicht ganz klar, wer in dem Familienstreit, aus dem der Angeklagte und ursprüngliche Anzeigenerstatter selbst nicht ohne Blessuren hervorgegangen war, zuerst Gewalt angewendet hatte: der Angeklagte oder seine Ehefrau. Da ist es schwer vorstellbar, dass sich das Gericht über den Wahrheitsgehalt der Tatschilderung der Ehefrau klar werden kann, ohne die Frau selbst vor Gericht zu hören. Außerdem würde man gerne wissen, wieso die Hauptbelastungszeugin, obschon inzwischen vom Angeklagten geschieden, nicht bereit ist, vor Gericht gegen den Angeklagten auszusagen. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass dies deshalb geschieht, weil sie Anlass und Verlauf der Auseinandersetzung, die zu ihren Verletzungen führte, in ihrer polizeilichen Aussage, zu der es nur deshalb kam, weil der ebenfalls verletzte Angeklagte zunächst sie angezeigt hatte, falsch geschildert hatte. Die Verurteilungsgrundlage ist entsprechend schwächer.

Darüber hinaus gibt es Fälle, in denen dem Angeklagten trotz der fehlenden Möglichkeit, den Hauptbelastungszeugen zu befragen, von seiner Verteidigungsstrategie im Kern nichts genommen wird, wenn er den Zeugen nicht befragen kann. Vielmehr ist es dem Angeklagten weiterhin möglich, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Aussage effektiv anzugreifen, und der Entscheidungsfinder ist in der Lage, sich mit diesen Angriffen nachvollziehbar auseinanderzusetzen. So kann es sich z.B. dann verhalten, wenn es vollständige Videoaufnahmen von der polizeilichen Befragung des Zeugen gibt und die Verteidigung keine in dieser Befragung nicht angesprochenen Punkte mit dem Zeugen klären will. Steht aber der Angeklagte verglichen mit der Situation, in der er sich befände, wenn er den Zeugen befragen könnte, nicht fühlbar schlechter da, dann gibt es wenig Grund, ihn durch Anwendung einer Ausschlussregel besser zu stellen als er stünde, wenn er sein Befragungsrecht uneingeschränkt ausüben könnte. Eine nicht auf die konkrete Verteidigungssituation bezogene absolute Verwertbarkeitsgrenze für solche Aussagen, die die Verurteilung allein oder entscheidend tragen, ist nicht in der Lage, die Situationen, in denen dem Angeklagten keine wirksame Erwiderung auf den Anklagevorwurf durch Infragestellung der Bekundungen der Belastungszeugen mehr möglich wäre, zuverlässig zu identifizieren. Auch das destabilisiert den Lucà-Test.

Ein weiterer Grund gegen die Anerkennung einer starren "allein-oder-entscheidend"-Verwertungsgrenze liegt in dem Risiko extremer "Zufallsgewinne" für die Verteidigung. Wenn die Verteidigungsstrategie nicht durch die fehlende Möglichkeit, den Zeugen selbst zu befragen, frustriert oder beeinträchtigt wird, sondern nachgerade an dem dadurch geschaffenen Hoffnungsschimmer auf Ausschluss einer niet- und nagelfesten Bekundung hängt, droht Art. 6 Abs. 3 lit. d von der Garantie einer effektiven Befragungsmöglichkeit zur Garantie der Beweismittelzerstörung zu werden. Man denke etwa an den Sachverhalt im englischen Fall R. v. Davis,[75] in dem sich das House of Lords noch einmal zum Hohepriester der Reinheit des Konfrontationsrechts des Common Law aufgeschwungen hatte (und prompt von dem Gesetzgeber die Schwingen ge-

stutzt bekam).[76] Die beiden Opfer war während einer Feier kaltblütig niedergeschossen worden. Der wegen mehrerer Gewaltdelikte einschlägig vorbestrafte Angeklagte hatte sich am nächsten Tag mit falschem Pass in die USA abgesetzt. Nach seiner Auslieferung behauptete er zunächst, für die Tatzeit ein Alibi zu haben. Dies konnte widerlegt werden. Im Prozess sagten sieben Zeugen gegen den Angeklagten aus – alle, aus Angst vor dem gewalttätigen Umfeld des Angeklagten, anonym. Einer der Partygäste war die damalige Freundin des Angeklagten gewesen. Und so verfiel der Angeklagte auf den Gedanken, die gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen als Verschwörung seiner Exfreundin zu präsentieren. Es ist, mit Verlaub gesagt, bei diesem Sachverhalt schwer, sich vorzustellen, dass diese Verteidigungslinie durch die Möglichkeit, die Exfreundin vor Gericht zu befragen, an Plausibilität gewonnen hätte. Der Verteidigung des Angeklagten diente nur der Ausschluss dieser anonymen Zeugenaussagen. Von der Kenntnis der Identität dieser Zeugen und die Möglichkeit, diese direkt befragen zu lassen, hatte er nichts zu erwarten – außer dem lauten Platzen seiner absurden Verschwörungstheorie. Winkt Art. 6 Abs. 3 lit. d hier wirklich mit dem Lottohöchstgewinn durch ein zufällig in der Ecke gefundenes Los: der Vernichtung aller belastenden Beweismittel schlicht aufgrund des formalen Umstands, dass die Verteidigung die Belastungszeugen nicht konfrontieren und befragen kann, wenn gleichzeitig materiell die Möglichkeit, dass es dem Angeklagten dadurch erschwert werden könnte, mit seiner Verteidigungslinie vor Gericht durchzudringen, praktisch ausgeschlossen werden kann? Trotz der Behauptung der Großen Kammer, dass der EGMR im Fall Davis wohl auch eine Verletzung von Art. 6 festgestellt hätte – "not only was the anonymous witness evidence the sole or decisive basis on which Davis had been convicted, but effective cross-examination had been hampered"[77] – wäre es überraschend, wenn Art. 6 Abs. 3 lit. d einem Angeklagten gerade eine solche Glücksspielchance eröffnen wollte (und, so mag man sich denken, hier bestünde wohl auch Anlass für den EGMR, in einem gleich gelagerten Fall genauer hinzusehen, ob die Verteidigung sich nicht vielleicht absichtlich wenig bemüht haben könnte, die ihr verbleibenden prozessualen Möglichkeiten effektiv zu nutzen.[78] ) Die "allein-oder-entscheidend"-Regel gerät deshalb auch ins Schaukeln, wenn ein starres Beharren auf dieser Grenzlinie eine Beweismittelvernichtung nach sich zöge, die das Recht auf Zeugenbefragung weder ermöglichen noch schützen will. Diese Konsequenz wird vollends unerträglich, wenn an der inhaltlichen Richtigkeit und Verlässlichkeit des nun nicht als Urteilsgrundlage verwertbaren Zeugenbeweises kein vernünftiger Zweifel bestehen kann.

2. Die EMRK und das Konfrontationsrecht des Common Law

Man kann von dem EGMR auch nicht verlangen, dass er sich in der Interpretation des Rechts auf Zeugenbefragung enger an die im Common Law entwickelte hearsay rule und deren anerkannte Ausnahmen anlehnen sollte. Diese unter anderem von dem englischen Supreme Court im Horncastle-Fall geäußerte Erwartung beruht auf einem Missverständnis der Entstehungsgeschichte und des Sinns der konventionsrechtlichen Garantien und verkennt, dass es zwischen diesen beiden Rechtsinstituten durchaus wichtige Unterschiede geben kann.

Viele konventionsrechtliche Auslegungsschwierigkeiten lassen sich vermeiden, wenn man Art. 6 EMRK nicht von vornherein durch die Brille des angloamerikanischen Strafprozesses zu lesen versucht. Weder zielt Art. 6 Abs. 3 lit. d auf die Garantie eines der angloamerikanischen Verfahrenstradition nachgebildeten Rechts auf Konfrontation im kontinentaleuropäischen Rechtskreis ab, noch schwebt Art. 6 Abs. 1 insgesamt der angloamerikanische Strafprozess als Litmustest für das beschworene Ideal der Fairness des Strafverfahrens vor. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift macht vielmehr deutlich, dass es sich um eine echte Hybride handelt: eine völkerrechtliche Neuzüchtung, die in verschiedenen Rechtskreisen historisch gewachsene Verfahrensgrundsätze miteinander kreuzt und in einen neuen Prioritätenzusammenhang stellt.

Es ist zwar durchaus richtig, dass es die Verhandlungsführer des Vereinigten Königreichs waren, die jene Vorschriften, die sich im Text der EMRK u.a. in Artikel 6 Abs. 1 und in Artikel 6 Abs. 3 lit. d wiederfinden sollten, in die Vorbereitungen zur EMRK einbrachten.[79] Während der Verhandlungen war lange Zeit strittig gewesen, ob sich die EMRK – wie im Entwurf der Europäischen Bewegung vorgesehen – auf eine schlichte Auflistung der von der Konvention garantierten Rechte beschränken und die inhaltliche Konkretisierung dieser Rechte einem einzusetzenden Gerichtshof überlassen sollte, oder ob – wie von Großbritannien gefordert – an einer möglichst genauen Definition dieser Rechte in der Konvention selbst gearbeitet werden sollte. Großbritanniens Ansatz, die individuellen Rechte nicht nur katalogmäßig zu benennen, sondern auch so genau wie möglich im Konventionstext selbst zu definieren, setzte sich durch – und damit auch der Gesamtentwurf für den "Grundrechtsteil" der EMRK, bei dem Großbritannien federführend war.[80]

Weniger bekannt ist der Umstand, dass dieser Entwurf nicht von britischen Juristen aus ihrer eigenen Rechtstradition heraus (die keinen geschriebenen Grundrechtskatalog kennt) konzipiert worden war. Vielmehr orientierte sich der britische Entwurf des Menschenrechtskatalogs der EMRK an dem damals (1949) erreichten Sachstand für das Dokument, das viele Jahre später zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) werden sollte.[81] Insbesondere der Text des späteren Art. 6 EMRK war keine britische Eigenleistung, sondern folgte wortgleich dem Textvorschlag zur IPBPR.[82] Und diese Fassung war in die Verhandlungen der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen[83] nicht etwa von einem Standartenträger des angloamerikanischen Strafprozesses eingebracht worden, sondern von den Philippinen:[84] einem Land, in dessen eigener Rechtstradition sich kontinentaleuropäische und angloamerikanische Einflüsse gegenseitig überlagerten und vermengten.[85]

Die rechtsschöpferische Leistung des unbekannten Entwurfsverfassers der Philippinen kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Vorentwürfe zum IPBPR eng an die angloamerikanischen Prozessgrundsätze angelehnt.[86] In dem Vorschlag der Philippinen wurde dies zugunsten einer eigenständigen, vom Begriff der Konfrontation gelösten Formulierung durchbrochen. Inhaltlich war die Kreuzung der Verfahrenstraditionen eine selektive: vorgenommen unter dem übergeordneten Gesichtspunkt, inwieweit die in unterschiedlichen Verfahrensordnungen vorzufindenden Praktiken, durch die der Angeklagte Einfluss auf die Beweisaufnahme durch das Gericht nehmen kann, zum unabdingbaren Kern eines legitimen strafrechtlichen Verfahrens gehören und deshalb Gegenstand eines völkerrechtlichen Mindeststandards sein sollten. Man braucht sich deshalb auch nicht zu wundern, dass die geistige Verwandtschaft zum Unmittelbarkeitsgrundsatz und zum Beweisantragsrecht des Angeklagten, wie es im reformierten Strafprozesses des 19. Jahrhunderts ausgebildet und u.a. in der Reichsstrafprozessordnung inkorporiert wurde, in dem Recht auf Zeugenbefragung ebenso stark ausgeprägt zu sein scheint wie die Anklänge an das aus dem Common Law herrührende Konfrontationsrecht. In dem Katalog der speziellen Garantien in Art. 6 Abs. 3 wird gleichsam die Schnittmenge aus den verschiedenen Verfahrens-traditionen gebildet.

Es wäre deshalb schon im Ansatzpunkt verfehlt, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK allein im Lichte des Konfrontationsrechtes und seiner etablierten Ausnahmen interpretieren zu wollen. Wie der Blick auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeigt, sind die in ihr enthaltenen Mindestgarantien für den Angeklagten im Strafverfahren weniger stark an der angloamerikanischen Rechtstradition orientiert, als gemeinhin angenommen wird. Die Interpretation muss sich deshalb auf den Gesichtspunkt konzentrieren, der für die Entwurfsverfasser der Menschenrechtskonventionen zentral war: dem systemunabhängig einzuhaltenden Mindeststandard für die Rechte eines Angeklagten im Strafverfahren.

3. Bürgerstatus und Zeugenbefragungsrecht

Aus staatsbürgerlich-politischer Perspektive ist das Strafverfahren von so herausgehobener Bedeutung, weil es den Menschen als Träger individueller und politischer Rechte anerkennt und sein politisches Verhältnis zum machtausübenden Staat mit gestaltet. Die verfahrensprägenden Rechte des Angeklagten sind Errungenschaften der Rechtskultur, in denen sich der ethische Subjektstatus des Menschen und sein politischer Status als Bürger spiegeln. Als Mensch hat man das Recht zu erwarten, dass man nicht zum bloßen Objekt des Handelns anderer gemacht wird – d.h., dass auch ein Mensch, der Gefahren setzt, nicht einfach als Gefahrenquelle behandelt werden kann, sondern auch als Interaktionspartner angesprochen und anerkannt werden muss. Als Bürger hat man das Recht zu erwarten, dass mit der Anklage – der Aufforderung, auf den Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens zu antworten – auch die Gelegenheit einhergeht, auf diesen Vorwurf zu reagieren. Man wird nicht wirklich angesprochen und mit einem Tatvorwurf konfrontiert, wenn man

sich diesen Vorwurf nur anhören, ihn aber nicht in Frage stellen, auf Überprüfung bestehen und sich gegen ihn wenden kann. Dies schließt das Recht auf Verteidigung denknotwendig mit ein.

Wenn also die Mindestgarantien in Art. 6 Abs. 3 systemübergreifend einen Kernbereich von Teilhaberechten im Strafverfahren sichern, die wiederum selbst Ausdruck und Ausfluss der Subjektstellung des Angeklagten im Strafverfahren sind, dann ist über eine Auslegung, die das Zeugenbefragungsrecht allein in den Dienst der Wahrheitsfindung stellen und ihm ausschließlich oder primär die Funktion der Fernhaltung unzuverlässiger Beweismittel vom Tatgericht zuschreiben will, der Stab zu brechen. Es geht in Art. 6 Abs. 3 lit. d zwar auch um die Wahrheitsfindung. Aber dieses Ziel ist dem prozeduralen Kerngehalt der Verfahrensgarantie gegenüber subsidiär und durch diesen vermittelt. Dem Angeklagten soll in dem auf Wahrheitsermittlung gerichteten Verfahren die Möglichkeit gegeben werden, die gegen ihn vorgebrachten Beweismittel herauszufordern und das Gericht dazu zu zwingen, Beweise, die er für entlastend hält, auch zur Kenntnis zu nehmen. Man wird Struktur und Inhalt dieser Mindestgarantie nicht gerecht, wenn man den Umfang dieser Garantie dem Ziel der Wahrheitsfindung unterordnen will.

Wie hoch ist nun aber der Preis, den die Rechts-gemeinschaft für ihr Versprechen, dem Angeklagten im Strafverfahren konkrete Verteidigungsmöglichkeiten zu gewähren, zahlen muss? Sind wir dazu gezwungen, uns für eine Lesart der EMRK zu entscheiden, bei der sich die Möglichkeit der effektiven Infragestellung von entscheidenden Belastungszeugen als Teilaspekt der Wahrung der Subjektstellung des Angeklagten im Strafprozess immer und notwendig gegenüber dem Interesse an der Rechtsdurchsetzung durch die Verwertung ausreichend zuverlässiger indirekter Beweismittel durchsetzen muss? Diese extreme Konsequenz wird durch die Anerkennung des Subjektstatus des Angeklagten meines Erachtens nicht verlangt.

Menschenrechtskonventionen sind Ausdruck einer zivilisatorischen Leistung, nämlich die Veränderung der Rechtsstellung des Rechtsunterworfenen vom Untertan zum Bürger mit bestimmten elementaren Rechten. Mit dem Recht auf ein faires Strafverfahren sichert die EMRK die Respektierung der Bürgerstellung auch im Strafverfahren. Das von Andreas von Hirsch als "Bürgerstaat" bezeichnete Ideal – ein System staatlicher Autorität, in dem Menschen als verantwortliche Bürger angesprochen werden sollen[87] – bringt dieses Grundverhältnis des Staates zu allen Verfahrensbeteiligten als Bürger zum Ausdruck. Es ist aus meiner Sicht Teil dieses politischen Grundverhältnisses, dass der Angeklagte im Strafverfahren eben nicht nur speziell als Beschuldigter, sondern auch allgemein als Staatsbürger angesprochen ist. Als Staatsbürger ist er auch ein mögliches Verbrechensopfer, das den Schutz des Strafrechts begehrt, und ein möglicher Nebenstehender, der aus Solidarität mit dem Mitbürger der Durchsetzung des Strafanspruchs gegenüber Rechtsbrechern bejahend gegenübersteht. Begreift man den Angeklagten auch in diesen anderen staatsbürgerlichen Dimensionen, so wird deutlich, dass auch er Grund dazu hat, sich für die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu entscheiden, wenn bei einer staatlicherseits nicht zu verantwortenden und nicht weiter linderungsfähigen Befragungsnot des Angeklagten ein nicht auflösbarer Konflikt zwischen der Verwertung eines (den Test der Verlässlichkeit nach Überzeugung des Tatgerichts bestehenden) Zeugnisses zulasten des Angeklagten und eines Unbestraftlassens dieses Angeklagten trotz des faktisch möglichen Schuldnachweises entsteht.

Dieser Gedanke segnet aber nicht die gesamte Bandbreite der nach dem Urteil der Großen Kammer in Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien hinzunehmenden Nachteile für die Verteidigung des Angeklagten ab. Nicht in allen Fällen, in denen die Verteidigung nach dem Urteil der Großen Kammer damit leben muss, dass sie durch die fehlende Möglichkeit, den Zeugen zu befragen, an der möglichen Erhärtung einer plausiblen Verteidigungsstrategie gehindert wird, kann von dem Angeklagten als Staatsbürger erwartet werden, dass er diese Risikoverteilung als gerecht hinnimmt. Vielmehr müsste insoweit ein differenzierendes Modell entwickelt werden, das stärker als bisher erstens auf Obliegenheiten der Verfahrensbeteiligten zur Konfliktvermeidung abstellt und zweitens stärker nach den Gründen und Zwecksetzungen gesetzgeberischer und gerichtlicher Zeugniseinschränkungen differenziert. Unter dem Aspekt der Obliegenheitspflichten aller Verfahrensbeteiligten kann zum einen – bezüglich des Angeklagten – auch schon im Vorfeld konkreter, auf das Verfahren bezogener Bedrohungen auf das bisherige Kriminalregister, das nachweislich kriminelle Umfeld und einer daraus resultierenden Angst des Zeugen vor offener Zeugnisablegung verwiesen werden. Unter diesem Aspekt kann aber auch – bezüglich des Zeugen – zwischen hinzunehmenden und nicht mehr hinzunehmenden Risiken und Belastungen der Zeugnisablegung und ihren prozessualen Konsequenzen unterschieden werden. Der Vorstellung, dass es legitim sein könnte, einem Beschuldigten das Risiko dafür zuzuschieben, dass ein Zeuge, der negative finanzielle Konsequenzen seiner Zeugnisablegung befürchtet, aus diesem Grund von seiner Zeugnispflicht befreit wird, muss ein Riegel vorgeschoben werden. Wenn ein Prozessrecht einen Zeugen (wegen fehlender Erwartung wahrheitsgemäßer Zeugnisablegung oder ähnlichem) unter solchen Umständen von der Zeugnispflicht befreit, dann muss es ohne den dadurch unmöglich gemachten Beweis leben. Ähnlich verhält es sich in den Fällen, in denen Verwandte des Angeklagten keine diesen belastende Aussage machen wollen. Jedenfalls dann, wenn diese Personen auch die angeblich Geschädigten sind und der Angeklagte diese zu seiner Verteidigung befragen will, kann man durchaus von dem Staat verlangen, dass das Risiko des nicht einführbaren Zeugenbeweises bei ihm verbleibt.

Zu verlangen ist auch, dass der potentielle Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber Missetätern auf der einen Seite und dem Recht auf Verfahrensteilhabe des Angeklagten auf der anderen Seite so weit wie möglich schon im Vorfeld entschärft wird. Dies bedeutet,

dass Mitgliedsstaaten eine umfassende Verpflichtung zur Konfliktvermeidung trifft. Soweit der "Befragungsnotstand" in der Hauptverhandlung absehbar ist, obliegt es den Mitgliedsstaaten, einer zu befürchtenden Aushöhlung des Befragungsrechts durch geeignete gesetzliche und behördliche Maßnahmen vorzubeugen. Sonst drohen die Ausnahmen vom Zeugenbefragungsrecht zu einem Freibrief für Bequemlichkeit der Gerichte und der Anklagebehörden bei der Beibringung von Zeugen zu werden. Hier liegt die eigentliche Gefahr für das Strafverfahren. Der EGMR sollte deshalb seine Zurückhaltung bei der Analyse der verfahrensrechtlichen Regelungen der Mitgliedsstaaten aufgeben und konkrete Feststellungen dazu treffen, welche Verfahrensrechte zur zeitigen Vermeidung eines späteren "Befragungsnotstands" gesetzlich vorgesehen werden sollten. Die Fälle, in denen ein unvermeidbarer Befragungsnotstand für die Verteidigung eintritt, werden dann zumindest weniger häufig sein.

V. Schlussbemerkung

Für einen deutschen Strafverteidiger ist das Urteil der Großen Kammer in Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien sicherlich eine herbe Enttäuschung. Nachdem die Richtermehrheit jeder absoluten "Beruhensschranke" eine Absage erteilt hat und die Kompensationsstufe der Verletzungsprüfung ausdrücklich für die Beweiswürdigungslösung geöffnet hat, muss die aus konventionsrechtlicher Sicht teilweise stark kritisierte Praxis des BGH, wie sie etwa in der Entscheidung BGH 4 StR 662/08[88] umgesetzt wird, als geradezu mustergültig gelten. Die Auswirkungen der konventionsrechtlichen Garantien auf die Anwendung von §§ 244 und 252 StPO sind vermutlich noch geringer als bisher angenommen.

Das Zeugenbefragungsrecht wird so weniger strikt und weniger stark. Trotzdem war die Modifikation des Lucà-Tests aus Sicht der Verfasserin die bessere Lösung. Die Verletzungsprüfung ist sachlogisch auf das Ziel der Aufrechterhaltung wirksamer Verteidigungsmöglichkeiten für den Angeklagten bezogen. Als absolute und starre Beruhensgrenze würde die "allein-oder-entscheidend"-Klausel in problematischer Weise über dieses Ziel herausschießen und deshalb letztlich zu untragbaren Ergebnissen führen.


[1] Zuletzt BGH 4 StR 461/08 – Beschluss vom 9. Juni 2009, HRRS 2009 Nr. 803; dazu kritisch Dehne-Niemann HRRS 2010, 189.

[2] EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (4. Kammer), Urteil vom 20. Januar 2009 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien), HRRS 2009 Nr. 459, mit Bespr. von Jung GA 2009, 235 und Ashworth 2009 Crim.L.R. 352. Vgl. auch Dehne-Niemann HRRS 2010, 189, 195.

[3] EGMR Nr. 33354/96, Urteil vom 27. Februar 2001 (Lucà v. Italien) = HRRS 2006 Nr. 62.

[4] Als Teil einer umfassenden Restrukturierung der obersten Verfassungsorgane Großbritanniens hat ein neu geschaffener Supreme Court seit dem 1. Oktober 2009 das House of Lords als höchstes britisches Gericht abgelöst. (Die legislative Rolle des House of Lords blieb erhalten.) Die bisherigen Lordrichter wurden unter Beibehaltung ihres Titels dem Supreme Court zugeordnet.

[5] R. v. Horncastle and another; R. v. Marquis and another; R. v. Carter[2009]EWCA Crim 964,[2010]2 WLR 47; 51-91 (Court of Appeal; Urteil vom 22. Mai 2009) und R. v. Horncastle and another; R. v. Marquis and another[2009]UKSC 14,[2010] 2 WLR 47; 91-152 (Supreme Court; Urteil vom 9. Dezember 2009) mit Anm. von Spencer 2010/1 Archbold News 6.

[6] Dazu grundlegend Spencer, Hearsay Evidence in Criminal Proceedings, 2008, Kap. 1.

[7] EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer), Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien) = HRRS 2012 Nr. 1.

[8] Jung GA 2009, 235, 238 spricht diesbezüglich von einer "Toleranzgrenze".

[9] Kostovski v. Niederlande, Urteil vom 20. November 1989, (1989) 12 EHRR 434.

[10] Ibid, § 41.

[11] St. Rspr. des EGMR, vgl. nur Asch v. Österreich, Urteil vom 26. April 1991, Series A no. 203, § 25. Der Begriff "Zeuge" wird in diesem Beitrag im konventionsrechtlich autonomen Sinne verwendet, schließt also den Mitangeklagten und die Verlesung von Vernehmungsniederschriften und ähnlichem ein.

[12] Siehe nur Van Mechelen u.a. v. Niederlande, Urteil vom 23. April 1997, Reports   1997-III, §  51.

[13] Isgrò v. Italien, Urteil vom 19. Februar 1991, Series A no. 194-A.

[14] Siehe EGMR, Nr. 23610/03, Urteil vom 14. Januar 2010 (Melnikov v. Russland), § 69 unter Verweis auf EGMR, Nr. 60333/00, Zulassungsentscheidung vom 9. November 2006 (Slyusarev v. Russland).

[15] EGMR, Nr. 23220/04, Urteil vom 27. Januar 2009 (A.L. v. Finnland), § 37 ("Article 6 does not grant the accused an unlimited right to secure the appearance of witnesses in court. It is normally for the national courts to decide whether it is necessary or advisable to hear a witness") unter Verweis auf Bricmont v. Belgien, Urteil vom 7. Juli 1989, Series A no. 158, § 89, EGMR Nr. 14151/02, Urteil vom 24. April 2007 (W. v. Finnland) § 43 und EGMR Nr. 46602/99, Urteil vom 10. Mai 2007 (A.H. v. Finnland) § 40. In diesem Fall stellte der EGMR aber im Ergebnis eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 fest, weil die Verteidigung ihr Fragerecht gegenüber dem einzigen direkten Zeugen – dem kindlichen angeblichen Opfer der angeklagten Sexualstraftat – überhaupt nicht hatte ausüben können, obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, diesem Zeugen (ggf. durch eine geeignete, psychologisch geschulte Verhörsperson) während einer Befragung außerhalb des Gerichtssaals von der Verteidigung formulierte Fragen zu stellen und die Antworten aufzuzeichnen.

[16] Ein solcher Verzicht muss aber eindeutig erfolgt sein und darf nicht leichthin angenommen werden: vgl. EGMR Nr. 28490/95, Urteil vom 19. Juni 2003 (Günes v. Türkei) § 95 unter Verweis auf Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Series A no. 89, § 26.

[17] Eine andere Einteilung der Fallgruppen findet sich z.B. bei Gerdemann, Die Verwertbarkeit belastender Zeugenaussagen bei Beeinträchtigungen des Fragerechts des Beschuldigten (2010). Da Gerdemanns Unterteilung ihre Interpretation der EGMR-Rechtsprechung, die von der Verfasserin dieses Beitrags nicht in allen Punkten geteilt wird, widerspiegelt, wird Gerdemanns Schema hier nicht übernommen.

[18] Wenn bei (c) und (d) eine eingeschränkte Befragung möglich ist, fällt dies in die Gruppe B.

[19] Gerdemann differenziert zwischen Zeugen, bei denen die Beschränkung der Konfrontationsmöglichkeit auf einer "individuellen Abwägung durch die am konkreten Verfahren beteiligten staatlichen Stellen", die Verteidigungsinteressen bewusst zugunsten der kollidierenden Interessen des Zeugen opfere, beruhe, und Zeugen, hinsichtlich derer die Beschränkung der Verteidigungsrechte auf "eine antizipierte Abwägung des Gesetzgebers" von relativ pauschalem Charakter zurückzuführen sei, vgl. (Fn. 17), S. 402 f. Die Verfasserin dieses Beitrags glaubt nicht, dass dieser möglichen Unterscheidung in den Urteilen des EGMR das grundlegende Gewicht zukommt, das Gerdemann ihr beimessen will. Auch wenn man dies bis zum Al-Khawaja-Urteil der Großen Kammer anders beurteilen wollte, kann aus dieser Unterscheidung nach dem Al-Khawaja-Urteil jedenfalls keine Aufspaltung der Prüfungsmodelle, wie sie Gerdemann vorschwebt, abgeleitet werden. Siehe Abschnitt III. unten.

[20] In den 1990er Jahren wird es für den EGMR zunehmend üblich, die rechtlichen Kriterien einer Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d i.V. mit Art. 6 Abs. 1 in seinen Urteilen in allgemeiner Form zusammenfassen. Die verwendeten Textbausteine lesen sich aber eher als eine Ansammlung von Gesichtspunkten, ohne dass aus der Reihenfolge ihrer Erwähnung auf eine bestimmte Systematik rückgeschlossen werden könnte. Die gewählten Formulierungen sind weitgehend, aber nicht völlig identisch, wobei unklar bleibt, ob die zu beobachtenden Variationen zufällig sind, bewusst vorgenommene einzelfallbezogene Schwerpunktsetzungen reflektieren oder grundlegende Differenzierungen zwischen anders gelagerten Gruppen von Fällen widerspiegeln sollen, die der Gerichtshof aber niemals selbst ausdrücklich anspricht und ausformuliert.

[21] Vgl. etwa EGMR Nr. 43643/04, Urteil vom 27. April 2010 (Bielaj v. Polen), § 56.

[22] EGMR Nr. 13769/04, Urteil vom 9. Februar 2009 (Makeyev v. Russland).

[23] EGMR Nr. 47986/99, Urteil vom 9. Januar 2007 (Gossa v. Polen).

[24] Vgl. auch den ähnlich gelagerten Fall EGMR Nr. 35556/05, Urteil vom 13. Januar 2009 (Makuszewski v. Polen), § 42.

[25] Siehe etwa EGMR Nr. 73047/01, Nichtzulassungsentscheidung vom 23. November 2005 (Haas v. Deutschland) = HRRS 2006 Nr. 63 und EGMR Nr. 43643/04, Urteil vom 27. April 2010 (Bielaj v. Polen).

[26] EGMR Nr. 47698/99 und 48115/99, Urteil vom 28. März 2002 (Birutis u.a. v. Litauen).

[27] Die Ausgleichsmaßnahmen können bei nicht fallentscheidenden Zeugen jedenfalls weniger intensiv sein: siehe EGMR Nr. 43149/98, Zulässigkeitsentscheidung vom 4. Juli 2000 (Kok v. Niederlande) und EGMR Nr. 26668/95, Urteil vom 14. Februar 2002 (Visser v. Niederlande), § 46.

[28] Siehe EGMR Nr. 26668/95, Urteil vom 14. Februar 2002 (Visser v. Niederlande) und Van Mechelen u.a. v. Niederlande, Urteil vom 23. April 1997, Reports   1997-III.

[29] EGMR Nr. 33900/96, Urteil vom 20. Dezember 2001 (P.S. v. Deutschland) § 23.

[30] Van Mechelen u.a. v. Niederlande, Urteil vom 23. April 1997, Reports   1997-III, §§ 60-61 (Befragung anonymer Polizeibeamter über Videolink, obwohl andere Tatzeugen im Gerichtssaal aussagen mussten, war nicht zu rechtfertigen). Großzügiger wohl EGMR Nr. 35253/97, Nichtzulassungsentscheidung vom 31. August 1999 (Verdam v. Niederlande) hinsichtlich der Zulassung von Aussagen von Zeugen aus dem Rotlichtmilieu.

[31] Siehe etwa EGMR Nr. 47698/99 und 48115/99, Urteil vom 28. März 2002 (Birutis u.a. v. Litauen), § 29.

[32] EGMR Nr. 26668/95, Urteil vom 14. Februar 2002 (Visser v. Niederlande), EGMR Nr. 47698/99 und 48115/99, Urteil vom 28. März 2002 (Birutis u.a. v. Litauen), § 30 (" the authorities were justified in protecting anonymous witnesses, possibly the applicants’ co-detainees. However, this circumstance, as such, could not justify any choice of means by the authorities in handling the anonymous evidence”). Vgl. auch EGMR Nr. 33900/96, Urteil vom 20. Dezember 2001 (P.S. v. Deutschland) und EGMR Nr. 23220/04, Urteil vom 27. Januar 2009 (A.L. v. Finnland) hinsichtlich fehlender Observations- und Befragungsmöglichkeiten bei kindlichen Belastungszeugen.

[33] EGMR Nr. 43643/04, Urteil vom 27. April 2010 (Bielaj v. Polen) § 56, EGMR Nr. 26668/95, Urteil vom 14. Februar 2002 (Visser v. Niederlande) § 44, EGMR Nr. 34209/96, ECHR 2002-V (S.N. v. Schweden) § 53.

[34] EGMR Nr. 33354/96, Urteil vom 27. Februar 2001 (Lucà v. Italien), § 40.

[35] Der Gerichtshof spricht in mehreren Verfahren wegen Sexualstraftaten vom Zeugnis des Geschädigten als dem "einzigen direkten Beweis" für die angeklagte Tat, auch wenn andere Personen, denen der Geschädigte die Tat geschildert hat, als Zeugen gehört wurden (siehe etwa EGMR Nr. 23220/04, Urteil vom 27. Januar 2009 (A.L. v. Finnland) § 44: "the video recording of the child complainant, played back before the trial courts, constituted the only direct evidence against the applicant" und EGMR Nr. 33900/96, Urteil vom 20. Dezember 2001 (P.S. v. Deutschland) § 30: "the information given by the girl was the only direct evidence of the offence in question and the domestic courts based their finding of the applicant’s guilt to a decisive extent on[the girl’s]statements" ). Der "einzige direkte Beweis" ist dann aber, verfahrensrechtlich gesehen, wohl akkurater als "entscheidender Beweis" zu klassifizieren.

[36] Vernichtende Kritik an der inhaltlichen Unschlüssigkeit des Merkmals "entscheidend" übt auch Gerdemann (Fn. 17), S. 376-380.

[37] Die Minderheit in Artner v. Österreich, Urteil vom 25. Juni 1992, Series A no. 242a, scheint diesem Ansatz folgen zu wollen: "That there was other incriminating evidence is beside the point. It appears that without the use of the statement the conviction could not have been obtained. If the case were otherwise, there would have been no need to admit the statement." Ähnlich auch das Minderheitsvotum in Van Mechelen u.a. v. Niederlande, Urteil vom 23. April 1997, Reports   1997-III, Sondervotum des Richters Van Dijk, para. 10: "if the testimony of anonymous witnesses is used by the court as part of the evidence, that will always be because the court considers it a `decisive´ part of that evidence."

[38] Klar gesehen wird dies auch von Emmerson/ Ashworth, Human Rights and Criminal Justice, 2001, S. 469: "The distinction between Doorson[v. Niederlande, Urteil vom 26. März 1996,   Reports   1996-II]and Saidi[v. France, Urteil vom 20. September 1993, Series A no. 261-C]seems to turn largely on the strength of the other evidence in the case. This may have important but novel implications for English law.” Auf S. 470 weisen dieselben Autoren darauf hin, dass die EGMR-Rechtsprechung gerade das Gegenteil von dem zu fordern scheine, was das englische Gesetzesrecht dem Tatrichter vorgebe. Während das englische Recht verlange, dass der Tatrichter gerade besonders wichtige Beweismittel vom Hörensagen, die nicht leicht durch andere Beweise ersetzt werden könnten, zulassen solle, verlange der EGMR "that a conviction should not rest solely or mainly on evidence adduced under provisions such as those [admitting hearsay evidence], even if the judge is … meticulous."

[39] In England wurde diese Unterscheidung jetzt im Coroners and Justice Act 2009 bezüglich der Zulässigkeit der Einführung anonymer Zeugenaussagen in das gesetzliche Regelungswerk inkorporiert. Allerdings hat der Gesetzgeber insoweit nur die Straßburger Terminologie übernommen, ohne eine eigenständige Definition zu entwickeln. Gerichtliche Erfahrungen mit der Anwendung dieses Gesetzesmerkmals liegen noch nicht vor.

[40] EGMR Nr. 43643/04, Urteil vom 27. April 2010 (Bielaj v. Polen).

[41] Auch hier gibt es die von den Selbstzitaten des EGMR sattsam bekannten Instabilitäten. So ist in EGMR Nr. 45756/05, Urteil vom 20. April 2010 ( Novikas v. Litauen) plötzlich davon die Rede, dass die Rechte der Verteidigung "möglicherweise" in einem mit der Konvention nicht zu vereinbarenden Maß beschränkt sein könnten (§ 33: "may thereby be restricted to an extent…"), falls solche Aussagen für die Verurteilung des Angeklagten allein oder entscheidend seien, und in EGMR Nr. 23220/04, Urteil vom 27. Januar 2009 (A.L. v. Finnland) heißt es eher großzügig, dass "a conviction should not be based either solely or to a decisive extent on statements which the defence has not been able to challenge" (§ 37). Unerklärt bleibt auch, wieso der Gerichtshof in ein und demselben Urteil häufig zunächst von Aussagen spricht, die "allein oder entscheidend" für das Verfahren gegen den Angeklagten seien, später aber nur noch darauf abstellt, ob die implizierte Aussage "das einzige Beweismittel" gewesen sei. Vgl. etwa EGMR Nr. 47986/99, Urteil vom 9. Januar 2007 (Gossa v. Polen) § 55, EGMR Nr. 73047/01, Nichtzulassungsentscheidung vom 23. November 2005 (Haas v. Deutschland) unter Verweis auf EGMR Nr. 69116/01, Urteil vom 14. Juni 2005 (Mayali v. Frankreich).

[42] Siehe etwa Van Mechelen u.a. v. Niederlande, Urteil vom 23. April 1997, Reports   1997-III, §§ 60- 63, EGMR Nr. 26668/95, Urteil vom 14. Februar 2002 (Visser v. Niederlande) §§ 48, 50 und EGMR Nr. 33900/96, Urteil vom 20. Dezember 2001 (P.S. v. Deutschland) §§ 29-30.

[43] Siehe z.B. EGMR Nr. 28490/95, Urteil vom 19. Juni 2003 (Günes v. Türkei), §§ 95-96.

[44] Etwa in EGMR Nr. 28490/95, Urteil vom 19. Juni 2003 (Günes v. Türkei) und EGMR Nr. 26668/95, Urteil vom 14. Februar 2002 (Visser v. Niederlande).

[45] Vgl. auch EGMR Nr. 17444/04, Urteil vom 21. Oktober 2010 (Kornev und Karpenko v. Ukraine) § 56.

[46] R. v. Horncastle[2010]2 WLR 94, 118 (para. 90) (Lord Phillips): "In the case of a jury trial, a direction to the jury that they can have regard to a witness statement as supporting evidence but not as decisive evidence would involve them in mental gymnastics that few would be equipped to perform."

[47] R. v. Horncastle[2010]2 WLR 94, 118 (para. 86) (Lord Phillips).

[48] EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (4. Kammer), Urteil vom 20. Januar 2009 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien), § 37.

[49] Ibid., §§ 42, 46.

[50] Diese mögliche Konsequenz wird von Spencer in seiner Fallbesprechung des Horncastle-Urteils des englischen Supreme Court ausdrücklich angesprochen: "Let us hope the Grand Chamber does not decide to take a strictly fundamentalist approach to Article 6 (3) (d), because … this leads to outcomes that are practically unjust. … It would mean, for example, that there could be no conviction in a case where, immediately after he had been fatally wounded and just before his death, a murder victim convincingly identified the defendant as his attacker; or where, having given overwhelmingly convincing evidence in chief, the key prosecution witness drops dead just as the defence begin their cross-examination.” (Spencer 2010/1 Archbold News 6).

[51] Zur Subsumtion siehe EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer), Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien), § 159.

[52] Ibid., § 124.

[53] Falls der Angeklagte die Ängste des Zeugen gezielt ausgelöst hat, muss er sich schon aus diesem Grund die Einschränkung seines Zeugenbefragungsrechts gefallen lassen: i bid., § 123.

[54] Vgl. etwa Requa Int’l J. Evidence & Proof 14 (2010) 208, 227: "[There] will remain a genuine danger of unsafe convictions through the application of the CJA[Criminal Justice Act]2003’s hearsay provisions. The Supreme Court’s decision in Horncastle sanctioned an increasingly lax regime, providing little guidance on any judicial responsibility to protect confrontation rights.”

[55] EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer), Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien), §§ 132-137.

[56] Gerdemann sieht in der "allein-oder-entscheidend"-Klausel eine verbotene Beweisregel, die aus diesem Grund nicht über die vom BGH favorisierte Beweiswürdigungslösung in das deutsche Strafverfahren integriert werden könne, vgl. (Fn. 17), S. 385-389.

[57] Ibid., § 127.

[58] Doorson v. Niederlande, Urteil vom 26. März 1996,   Reports   1996-II.

[59] EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer), Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien), § 128.

[60] Ibid., § 142.

[61] Ibid., § 142.

[62] Ibid., § 142.

[63] Ibid., Gemeinsames Sondervotum der Richter Sajò und Karakas.

[64] Ibid., § 146.

[65] Ibid., §§ 146 und 130.

[66] Ibid., § 147.

[67] Zur Interpretation des Merkmals "decisive" hält der Gerichtshof an anderer Stelle fest, dass "the word `decisive´ should be narrowly understood as indicating evidence of such significance or importance as is likely to be determinative of the outcome of the case. Where the untested evidence of a witness is supported by other corroborative evidence, the assessment of whether it is decisive will depend on the strength of the supportive evidence; the stronger the corroborative evidence, the less likely that the evidence of the absent witness will be treated as decisive.” (§ 131).

[68] Ibid., §  152.

[69] Ibid., § 165.

[70] Ibid., § 156.

[71] Ibid., § 157.

[72] Ibid., Gemeinsames Sondervotum der Richter Sajò und Karakas: "in applying the holistic approach (now presented as `an overall examination´) in order to determine the fairness of the trial, this Court has never stated that fairness can still be achieved if one of the fundamental rights is deprived of its essence.”

[73] Urteil vom 24. November 1986, (1986) Series A/110.

[74] Urteil vom 25. Juni 1992, (1992) Series A/242a.

[75] R. v. Davis,[2008]UKHL 36.

[76] Criminal Evidence (Witness Anonymity) Act 2008, jetzt abgelöst vom Coroners and Justice Act 2009.

[77] EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer), Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien), para. 49.

[78] Aus dem Urteil im Davis-Fall wird nicht klar, ob die Verteidigung die Möglichkeit gehabt hätte, die Exfreundin vorzuladen und zu befragen. Verfahrensrechtlich ist kein Grund erkennbar, warum die Verteidigung diesen Schritt nicht hätte gehen können. Verfahrenstaktisch allerdings schon.

[79] Die später exakt in Art. 6 Abs. 3 lit. d zu findende Formulierung wurde von dem Vertreter der britischen Regierung am 6. März 1950 in die Verhandlungen eingebracht (DOC.CM/WP I(50)2;A915, siehe Council of Europe, Collected Edition of the Travaux Préparatoires (8 Bde), 1975, Bd. 3, S. 284. Die damalige Nummerierung des Artikels war Art. 8 Abs. 2 lit. c).

[80] Siehe generell zu diesem Aspekt der Entstehungsgeschichte der EMRK Marston, Int.l & Comp.L.Q. 42 (1993), S. 796, S. 802-808, Simpson, Human Rights and the End of Empire. Britain and the Genesis of the European Convention (2001), Kap. 13, insb. S. 670-74 zum Entwurf der Europäischen Bewegung, S. 690 zur Vorlage Großbritanniens an den Expertenausschuss, der im wesentlichen aus Groß-britanniens Stellungnahme zu den Entwürfen für den Menschenrechtspakt der Vereinten Nationen bestand, und S. 695 ff. zur "heißen" Verhandlungsphase.

[81] Großbritannien brachte am 6. März 1950 ein 15 Menschenrechtsartikel umfassendes Dokument ein, das als "Entwurf B" für den späteren Konventionstext maßgeblich wurde. Dieses Dokument löste den früheren Entwurf eines ausformulierten Grundrechtskatalogs, der sich an der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte orientiert hatte, ab und war dem damaligen Stand der Diskussionsvorlagen vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen nachgebildet (Simpson, End of Empire, S. 695).

[82] Die verschiedenen Fassungen der IPBPR-Vorentwürfe sind nachzulesen bei Weissbrodt, The Right to a Fair Trial: Articles 8, 10 and 11 of the Universal Declaration of Human Rights (2001). Die in EMRK Art. 6 Abs. 3 lit. d aufgegriffene Textfassung findet sich auf S. 54.

[83] Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (UN Commission on Human Rights) wurde 1947 durch den Wirtschafts- und Sozialausschuss (Economic and Social Council) der Vereinten Nationen gemäß Art. 68 der UN-Charter eingesetzt, um eine internationale Menschenrechtscharta zu schaffen. Aus der Arbeit der Kommission und ihrer Unterausschüsse gingen u.a. 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und 1966 der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte hervor.

[84] Weissbrodt (Fn. 83), S. 49 unter Bezugnahme auf U.N. Doc. E/CN.4/232 und 232/Corr.1 (23. und 27. Mai 1949) und für die im Unterausschuss angenommene Fassung S. 54 unter Bezugnahme auf U.N. Doc. E/CN.4/SR.11 (6. Juni 1949), S. 8.

[85] Zur Rechtsgeschichte der Philippinen siehe ASEAN Law Association, Legal History of Philippines, online-Veröffentlichung ohne Jahr, Kap. 1 ( http://www.aseanlawassociation.org/papers/phil_chp1.pdf ).

[86] Eine der ersten und von dem Formulierungsvorschlag der Philippinen effektiv abgelösten Textfassungen stammte von den Vereinigten Staaten von Amerika und sprach von einem "fair public trial at which he[der Angeklagte]has had the opportunity for a full hearing, the right to be confronted with the witnesses against him, the right of compulsory process for obtaining witnesses in his favour, and the right to consult with and be represented by counsel." Siehe Weissbrodt (Fn. 83), S. 45 unter Bezugnahme auf U.N. Doc. E/CN.4/AC.1/8 (11. Juni 1947), S. 1. Weissbrodt stellt auch klar, dass "the United Kingdom draft which was used as the basis for most of the initial discussions of the Covenant did not include a provision relating specifically to the right to a fair trial" (Ibid., S. 44).

[87] Von Hirsch, "Ein grundrechtliches Verbot exzessiver Strafen? Versuch einer Begründung" in: Herzog/ Neumann, Festschrift für Winfried Hassemer (2010), S. 373 (dort Fn. 9).

[88] Beschluss vom 17.3.2009 (LG Bielefeld) = HRRS 2009 Nr. 458.