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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2011
12. Jahrgang
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1. Schutz der Meinungsfreiheit für die Anzeige einer Mitarbeiterin gegen ihren Arbeitgeber wegen vermeintlich strafbarer Handlungen in seinem Herrschaftsbereich („whistleblowing“) und Verletzung durch eine Kündigung der Mitarbeiterin.
2. Der Staat unterliegt der Pflicht, die Wahrnehmbarkeit der Meinungsfreiheit auch im privaten Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu schützen. Die Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber ist jedoch auch hier zu beachten. In Fragen öffentlichen Interesses sind jedoch nur geringe Einschränkungen der Meinungsfreiheit hinzunehmen. Der gutgläubig agierende Arbeitnehmer hat prinzipiell ein Recht, strafbare Handlungen auch seines Arbeitgebers zur Anzeige zu bringen.
3. Die Vertragsstaaten der EMRK dürfen erforderliche, nicht aber exzessive Maßnahmen treffen, um falschen Anschuldigungen entgegenzuwirken, die ohne jeden Grund
oder in bösem Willen gegen den Arbeitgeber erhoben werden. Jede Person, die Informationen preis gibt, muss nach den Umständen des Einzelfalls sorgfältig prüfen, ob die Informationen zutreffend und verlässlich sind. Von dem gutgläubigen Erstatter einer Strafanzeige kann aber vernünftigerweise nicht erwartet werden, vorherzusehen, ob die strafrechtlichen Ermittlungen auch zu einer Anklage führen werden.
1. Bei gewichtigen Grundrechtsbeeinträchtigungen entfällt das Rechtsschutzinteresse für eine Verfassungsbeschwerde nicht mit der Erledigung der Maßnahme. Dies gilt insbesondere für kurzfristige Eingriffe, bei denen eine vorherige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig nicht erlangt werden kann.
2. Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes innerhalb angemessener Zeit stellt jedenfalls dann einen gewichtigen Grundrechtsverstoß dar, wenn der dem Eilrechtsschutzbegehren zugrundeliegende Eingriff seinerseits schwer wiegt.
3. Eine Fesselungsanordnung stellt einen gewichtigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) dar.
4. Die Fesselung während eines Gerichtstermins beeinträchtigt außerdem die Möglichkeit des Betroffenen zur Rechtsverteidigung. Daher ist auch im Falle einer ansonsten gerechtfertigten Fesselungsanordnung gesondert zu prüfen, ob die Fesselung während eines Gerichtstermins nicht zumindest teilweise aufgehoben werden kann.
5. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Wirksam ist Rechtsschutz nur, wenn er innerhalb angemessener Zeit gewährt wird.
6. Den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG werden die Gerichte bei Eilanträgen nicht gerecht, wenn sie es versäumen, Vorkehrungen für eine Entscheidung vor Erledigung der angegriffenen Maßnahme zu treffen. Zu den erforderlichen Vorkehrungen gehört es insbesondere, eine zügige Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten sowie eine wirksame Fristkontrolle sicherzustellen.
7. Die Gerichte dürfen auch nach Erledigung des Rechtsschutzbegehrens nicht eine Überprüfung verweigern, ob sie mit ihrer Verfahrensführung dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gerecht geworden sind.
8. Diese Maßgaben für eine Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes beanspruchen auch dann Geltung, wenn die Verzögerungen auf einem bloßen Versehen innerhalb des Justizbetriebes beruhen.
1. Die Auflage gemäß § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB, einen Geldbetrag zu Gunsten einer gemeinnützigen Organisation zu zahlen, kann insbesondere einen Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder ggf. in das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) darstellen.
2. Eine Geldauflage greift hingegen nicht – auch nicht mittelbar – in das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ein, weil sie oftmals gerade den Verzicht auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ermöglicht und weil ein Verstoß nicht zwingend zum Widerruf der Strafaussetzung führt.
3. Die verfassungsrechtliche Rüge einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht bei der Festsetzung einer Geldauflage ist ausgeschlossen, wenn der Verurteilte an der Aufklärung nicht in der ihm obliegenden Weise mitgewirkt hat.
4. Zur Mitwirkung an der Aufklärung der eigenen Vermögensverhältnisse genügt jedenfalls die Vorlage eines einzelnen Einkommensteuerbescheides aus einem von mehreren relevanten Veranlagungszeiträumen nicht.
5. Diese Maßstäbe gelten nicht nur für die Verhängung einer Geldauflage, sondern auch im Verfahren der nachträglichen Abänderung einer Auflage nach § 56e StGB.
1. Rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafen sind grundsätzlich auch zu vollstrecken. Dies folgt aus der insbesondere im Rechtsstaatsprinzip begründeten Pflicht des Staates zur Durchsetzung seines Strafanspruchs.
2. Der staatliche Strafanspruch wird begrenzt von der Menschenwürde des Verurteilten und von dessen Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
3. Die Würde des Menschen erfordert eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden. Hiermit ist es unvereinbar, wenn die Aussicht auf Freiheit auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert wird.
4. Das Interesse des Gefangenen an der Erhaltung seiner Gesundheit und Lebenstüchtigkeit ist in einer Gesamt-
würdigung aller Umstände des Einzelfalls mit dem staatlichen Strafspruch abzuwägen. Dabei sind auch die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zu berücksichtigen.
5. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wird in der Regel unverhältnismäßig, wenn aufgrund des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er bei Fortsetzung der Vollstreckung sein Leben verlieren oder schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden erleiden wird.
6. Die gebotene Abwägung hat auf der Grundlage einer hinreichenden Tatsachengrundlage zu erfolgen. Hierzu haben die Gerichte den Sachverhalt aufzuklären und gegebenenfalls auch eine ärztliche Stellungnahme über die aktuelle gesundheitliche Verfassung einzuholen. Unbeschadet sachkundiger Ausführungen zur Gesundheit und Gefährlichkeit des Verurteilten obliegt die endgültige Prognoseentscheidung jedoch allein den Vollstreckungsgerichten.
7. Insbesondere, wenn eine lebenslange Freiheitsstrafe als schuldangemessen erachtet worden ist, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn bei der Entscheidung über die Reststrafaussetzung verbleibende Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose zu Lasten des Verurteilten gehen.
8. Auch soweit die Gerichte von der Möglichkeit der Festsetzung einer Sperrfrist gemäß § 57a Abs. 4 StGB Gebrauch gemacht haben, ist der Verurteilte bei deutlich veränderter Sachlage – hier: erheblich verschlechterte gesundheitliche Umstände – nicht gehindert, einen erneuten Antrag auf Strafaussetzung zu stellen.
1. Rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafen sind grundsätzlich auch zu vollstrecken. Dies folgt aus der insbesondere im Rechtsstaatsprinzip begründeten Pflicht des Staates zur Durchsetzung seines Strafanspruchs.
2. Der staatliche Strafanspruch wird begrenzt von der Menschenwürde des Verurteilten und von dessen Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Würde des Menschen erfordert eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden. Hiermit ist es unvereinbar, wenn die Aussicht auf Freiheit auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert wird.
3. §§ 56 ff. StVollzG und § 455 Abs. 4 StPO tragen dem Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Strafanspruch und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner Gesundheit und Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit grundsätzlich angemessen Rechnung.
4. Angesichts der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Strafgefangenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG kann es im Einzelfall geboten sein, eine Strafunterbrechung auch über die in § 455 Abs. 4 StPO ausdrücklich genannten Fälle hinaus zuzulassen. Eine Unterbrechung des Strafvollzuges ist hingegen nicht geboten, soweit einer nahen Lebensgefahr oder schweren Gesundheitsgefahr auch ohne Haftunterbrechung in adäquater Weise begegnet werden kann.
5. Die Entscheidung über die Haftunterbrechung hat die Vollstreckungsbehörde auf der Grundlage einer Tatsachenbasis zu treffen, die ihrerseits auf einer hinreichenden Sachverhaltsaufklärung beruhen muss. Dabei ist sie gehalten, Einzelheiten des Gesundheitszustandes, der Lebenserwartung und der Gefährlichkeit des Verurteilten zu klären. Erforderlichenfalls hat sie eine ärztliche Stellungnahme bzw. ein Sachverständigengutachten einzuholen.
1. Bei der Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB handelt es sich um die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts, die grundsätzlich Sache der Strafgerichte ist. Das Bundesverfassungsgericht prüft solche Entscheidungen nur daraufhin nach, ob die Strafgerichte in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen sind oder ob sie die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 GG verbürgten Freiheitsrechts verkannt haben.
2. Die mit der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung verbundene Prognose trifft allein das Gericht. Hat sich das Gericht eines Sachverständigen bedient, so muss es dessen Gutachten im Hinblick auf das Ergebnis und die Qualität prüfen und kritisch hinterfragen.
3. Die abweichende Beurteilung eines Sachverständigengutachtens durch das Gericht ist verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn das Gericht seiner Entscheidung eine vertretbare Abwägung der maßgeblichen Kriterien zugrunde legt. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, wenn es die abgeurteilte Tat, die Vorstrafen, ein Bewährungsversagen und eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt anders gewichtet als der Gutachter.
1. Aus den verfahrensrechtlichen Gewährleistungen der Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgt in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, dass alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen müssen.
2. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung und die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung steigen mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzuges.
3. Bei der Prognose über die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten ist das Gericht in der Regel verpflichtet, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Hiervon kann es auch bei einer turnusmäßigen Überprüfung der Unterbringung nach § 67e Abs. 2 StGB nur dann absehen, wenn im Einzelfall anderweitig eine hinreichende Gründlichkeit bei der Entscheidungsfindung gewährleistet ist.
4. Im Falle einer Negativprognose muss die gerichtliche Entscheidung erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen das Gericht tatsächlich von der weiterhin bestehenden Gefährlichkeit des Beschwerdeführers überzeugt ist. Dabei sind die Anknüpfungstatsachen darzustellen, aus denen die aktuelle Gefährlichkeit hergeleitet wird.
5. In seine Prognoseentscheidung hat das Gericht insbesondere den bisherigen Therapieverlauf, den aktuellen Zustand des Untergebrachten sowie Art und Maß der von ihm gegenwärtig ausgehenden Gefahr einzustellen. Bei Sexualdelikten ist auch zu erwägen, ob das Risiko weiterer Straftaten durch eine den Sexualtrieb dämpfende Medikation gesenkt werden kann.