Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2010
11. Jahrgang
PDF-Download
Von Dr. Nina Nestler, Universität Würzburg
"Die Vorschrift des § 119 StPO i. d. F. vom 29. Juli 2009 findet in Niedersachsen für den Bereich der Untersuchungshaft keine Anwendung." Zu diesem Ergebnis gelangt das OLG Celle in einem Beschluss vom 9. Februar 2010.[1] Die durch Beschwerde der Staatsanwaltschaft angegriffene landgerichtliche Entscheidung[2] betraf unter anderem die Kontrolle des Brief‑ und Paketverkehrs sowie die optische und akustische Besuchsüberwachung in der Untersuchungshaft. Auf Grundlage von § 119 Abs. 1 StPO n. F. hatte das LG eine Reihe einzelner Anordnungen zur Abwehr von Haftgründen i. S. d. §§ 112, 112a StPO gegenüber dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeschuldigten getroffen, deren Ausführung es nur zum Teil und widerruflich der Staatsanwaltschaft übertrug. Im Übrigen, insbesondere hinsichtlich der Überwachung des Schrift‑ und Paketwechsels sowie der Erlaubniserteilung für Besuchsempfang und Telekommunikation, verblieb dies Aufgabe des Gerichts.
Das OLG Celle vertritt – anders als die Vorinstanz – die Auffassung, dass "nachdem das Land Niedersachsen durch Erlass des NJVollzG mit den Regelungen zum Vollzug der Untersuchungshaft[3] von der ihm nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zustehenden Gesetzgebungskompetenz in zulässiger Weise Gebrauch gemacht hat ... dieses Landesrecht nicht durch die Neufassung des § 119 StPO verdrängt werden" könne und hält die letztgenannte Norm der Strafprozessordnung damit insoweit für unanwendbar.[4] In der Konsequenz sollen in Niedersachsen allein §§ 133 ff. NJVollzG Anwendung finden, die in § 146 Abs. 1 S. 1 NJVollzG unter anderem eine generelle Überwachung des Schriftwechsels vorsehen und somit in
ihrer Reichweite zum Teil über § 119 Abs. 1 StPO hinausgehen. Soweit die niedersächsischen Regelungen Eingriffe gestatten, nehmen sie durchaus Bezug auf den "Zweck der Untersuchungshaft" (vgl. z. B. §§ 137 Abs. 1 S. 1, 144 Abs. 1 S. 2 NJVollzG) und konkretisieren somit den Wirkungsbereich der aus den Haftgründen nach §§ 112, 112a StPO folgenden Beschränkungen. Als logische Folge dieser Auffassung könnte sich eine Rechtszersplitterung im Umgang mit den Haftgründen und insbesondere ihrer Reichweite entwickeln, die an dieser Stelle weder wünschenswert noch zweckmäßig wäre.[5]
Die Entscheidung ist allerdings im Ergebnis wie auch in der dahin führenden Begründung kritisch zu betrachten. Das OLG Celle wendet – methodisch insoweit nicht zu beanstanden – im Rahmen der Argumentation verschiedene Auslegungsmethoden an, die seine Auffassung bestätigen sollen. Den Ausgangspunkt bildet zunächst, dass die Gesetzgebungskompetenz für die Regelung des Untersuchungshaftvollzugs nach der Föderalismusreform bei den Ländern liegt; das gerichtliche Verfahren (im Übrigen) zu normieren, obliegt weiterhin dem Bund, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.[6] Nun stellt sich die Frage, zu welchem der beiden Bereiche – Strafverfahren oder Vollzug – die hier verfahrensgegenständlichen Einzelfallanordnungen zählen. Dies erscheint im Zusammenhang mit der Untersuchungshaft besonders problematisch, da ihre Anordnung einerseits zwar der Verfahrenssicherung dient und somit eindeutig Verfahrensbezug aufweist, andererseits aber auch ihr Vollzug einer Ausgestaltung bedarf. Beschränkungen, die dem Inhaftierten auferlegt werden, mögen dabei der Verhinderung von Haftgründen und folglich der Sicherung des Verfahrens geschuldet sein; sie können aber auch ausschließlich den Ablauf des Haftalltags sowie die Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt betreffen, d. h. vom eigentlichen Strafverfahren unabhängig sein. Entscheidend kommt es somit darauf an, ob bei der Einordnung solcher Maßnahmen deren jeweiliger Zweck (hier: Abwendung eines Haftgrundes) als maßgeblich berücksichtigt werden muss. Das OLG Celle umschreibt dies als engen Begriff des Untersuchungshaftvollzugsrechts, während der weite Begriff eine derartige Einbeziehung des Anordnungszwecks ausschließt.[7]
Das OLG Celle beginnt seine Argumentation mit einer grammatischen Auslegung: Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der Bevölkerung – der für die Auslegung (vor allem) von Verfassungsrecht ohnehin nur untergeordnete Bedeutung erlangt[8] – seien unter "Vollzug von Untersuchungshaft", ähnlich wie bei dem Begriff des Strafvollzugs, alle hoheitlichen Maßnahmen zu verstehen, "die einen Verdächtigen treffen, weil und solange er in einer Justizvollzugsanstalt eingesperrt ist".[9] Bereits dieser Definitionsansatz greift aber zu kurz, weil er etwa die Verbringung in die Haft aus dem Begriff herausnimmt. Er unterstellt somit, der allgemeine Sprachgebrauch treffe eine Differenzierung zwischen dem Vorgang der Inhaftierung bzw. der Ingewahrsamnahme des Angeschuldigten und der Ausgestaltung der Haft als solcher. Realistisch ist dies jedoch kaum; vielmehr liegt nahe, dass nach dem gängigen Wortsinn bereits der Verbringungsvorgang in die Untersuchungshaft zu deren "Vollziehung" zählt. Vollziehung und Vollzug werden jedoch gemeinhin als Synonyme verwendet.
Sein Ergebnis stützt das OLG Celle zudem auf die Erwägung, der juristische Laie unterscheide nicht nach der Zweckrichtung der jeweiligen Maßnahme, d. h. er grenze nicht danach ab, ob es sich um Beschränkungen handelt, welche der Zweck der Untersuchungshaft erfordert, oder ob eine sonstigen Zielen im Zusammenhang mit der Einsperrung dienende Maßnahme vorliegt. Schon eine Unterscheidung zwischen Vollzugsrecht und Verfahrensrecht kennt jedoch der allgemeine Sprachgebrauch jedenfalls in diesem konkreten Zusammenhang nicht – da es im Gegensatz zum Untersuchungshaftvollzugsrecht keinen Begriff des "Untersuchungshaftverfahrensrechts" gibt. Wenn hier aber bereits eine Abgrenzung zwischen dem "Ob" und dem "Wie" der Inhaftierung terminologisch nicht stattfindet, dann kann freilich dem Fehlen einer weiteren darauf aufbauenden Differenzierung für deren Erforderlichkeit nur eine äußerst begrenzte Aussagekraft zukommen.
Zum juristischen Sprachgebrauch führt der Senat aus, auch hier sei nie eine weitergehende Abgrenzung bei den einen Untersuchungshäftling zusätzlich zur Einsperrung treffenden Eingriffen vorgenommen worden. Daher habe die Praxis bisher auch sämtliche diesbezüglichen Maßnahmen auf § 119 StPO a. F. gestützt.[10] Dass nun aber § 119 StPO a. F. als Rechtsgrundlage herangezogen wurde, überrascht keineswegs, war eine andere Norm als taugliche Grundlage bislang schlichtweg nicht vorhanden, wenngleich unzweifelhaft die Notwendigkeit zum Erlass von derlei Anordnungen bestand. Eine entsprechende Differenzierung zwischen zur Verfügung stehenden Rechtsgrundlagen nach dem jeweiligen Zweck einer Maßnahme war somit weder veranlasst noch möglich. Es verwundert daher auch nicht, dass sich in der juristischen Terminologie eine Unterscheidung, wie sie das OLG Celle vermisst, nicht herausbilden konnte.
Der Senat rekurriert weiter darauf, sämtliche Maßnahmen nach der UVollzO seien bisher einheitlich dem Untersuchungshaftvollzugsrecht zugeordnet worden. Es erscheint schon nicht unproblematisch, Verwaltungsvorschriften zur Auslegung von Verfassungsrecht heranzuziehen.[11] Dieser Verweis des Gerichts verliert zudem an Gewichtigkeit, wenn man bedenkt, dass die Strafprozessordnung selbst vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts[12] keine solche Differenzierung traf, die UVollzO als bloße Verwaltungsvorschrift aber lediglich auf die dort bestehenden Vorschriften Bezug nimmt. Somit liefert eine Zuordnung der UVollzO zum Untersuchungshaftvollzugsrecht zwar möglicherweise ein Indiz zur Beurteilung des Falls, erlaubt aber keinesfalls eine Schlussfolgerung, wie sie das OLG Celle erwägt.
Auch die Rechtsprechung des BVerfG wird ausgewertet. So legt der erste Strafsenat des OLG Celle unter Bezug-
nahme auf dessen frühere Entscheidungen dar, Maßnahmen wie die verfahrensgegenständlichen seien ausdrücklich dem Vollzug der Untersuchungshaft zugeordnet worden.[13] Zum Nachweis zitiert werden allerdings verfassungsgerichtliche Entscheidungen, denen kein vergleichbarer Sachverhalt zu Grunde lag, d. h. die mit Anordungen in der Untersuchungshaft überhaupt nicht zusammenhingen. Vielmehr hatte die zuerst genannte Entscheidung BVerfGE 34, S. 369 ff. den Vollzug einer einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zum Gegenstand; zudem betraf die dort untersuchte Maßnahme ausdrücklich die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt und somit unzweifelhaft den rein vollzuglichen Bereich ohne jeden Konnex zu etwaigen Haftgründen, wie ihn § 119 Abs. 1 StPO n. F. vorsieht. In concreto ging es dort um den Empfang von Paketen mit Nahrungs‑ und Genussmitteln, den "die Ordnung in der Vollzugsanstalt"[14] in der Regel nicht zulasse. In der bekannten, vom OLG Celle ebenfalls bemühten Entscheidung BVerfGE 109, S. 190 ff., geht das BVerfG – weil insoweit durch den Sachverhalt auch nicht veranlasst – mit keinem Wort auf die Untersuchungshaft ein.[15]
Das OLG Celle führt weiter aus, eine Differenzierung nach dem Zweck der jeweiligen Maßnahme könne nicht aus dem Willen des Gesetzgebers abgeleitet werden. Die Gesetzesbegründung[16] bilde keine taugliche Quelle, diese Unterscheidung zu stützen, da es für die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenz allein auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers ankomme.[17] Diese Aussage ist zweifellos zutreffend, aber für die hier zu erörternde Problematik jedenfalls insoweit zu pauschal, als für die Frage, wie § 119 Abs. 1 StPO n. F. zu verstehen sein muss, durchaus der Wille desjenigen Gesetzgebers maßgeblich ist, der eben diese Norm erlassen hat. Hiervon unterscheiden lässt sich das (vorliegend ausschlaggebende) Problem der Anwendbarkeit jener Vorschrift trotz entgegenstehendem Landesrecht. Erst dafür muss die Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers herangezogen werden, welcher die Regelungen zur Gesetzgebungskompetenz in ihrer aktuellen Form wie sie § 119 Abs. 1 StPO n. F. zu Grunde liegen, geschaffen hat.
Zum ersten Punkt bleibt zunächst festzustellen, dass der Gesetzgeber des § 119 StPO n. F. wohl eher den (vom OLG Celle so bezeichneten) engen Vollzugsbegriff vertreten und der Norm durchaus eine entsprechende Differenzierung nach dem Maßnahmenzweck zu Grunde gelegt hat. So stellt nämlich die Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts fest, dass die Regelungskompetenz des Bundes auch Bestimmungen umfasse, die das Ziel haben, die ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens zu sichern; sie schließe mithin Maßnahmen ein, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert. Lediglich der Erlass von Vorschriften über die Art und Weise der Durchführung von Untersuchungshaft sei in die Länderkompetenz übergegangen.[18]
Den hier entscheidenden Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers in diesem Zusammenhang lassen die Materialien – insoweit vom OLG Celle zutreffend herausgearbeitet[19] – nicht eindeutig erkennen ("die Kompetenzen für das Strafvollzugsrecht und den Untersuchungshaftvollzug …[werden]den Ländern übertragen"[20]). Die simultane Übertragung der Zuständigkeit für den Untersuchungshaftvollzug und den Strafvollzug, d. h. einem schlussendlich aus der Materie des Strafverfahrens gänzlich ausgegliederten Regelungsbereich der Vollziehung einer Unrechtsreaktion, lässt im Umfang der Reichweite dieser Kompetenzverlagerung einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Bereichen erkennen – die Regelung jeweils verwandter Rechtsmaterien soll in ein und derselben Hand liegen.[21] Konvergent ist der Untersuchungshaftvollzug mit dem Strafvollzug aber lediglich, soweit er den rein vollzuglichen Bereich, bspw. die gesetzliche Ausgestaltung des Haftalltags oder die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt, betrifft. Spekulationen darüber, ob sich der Bund nur einer problematischen und streitbeladenen Materie habe vollständig "entledigen" wollen[22], sind müßig und wenig weiterführend. Diese Unterstellung mag zwar nicht gänzlich von der Hand zu weisen sein; konfliktbeladen zeigte sich dabei aber vor allem die Frage, wie letztlich mit den Inhaftierten umzugehen sei, also die Ausgestaltung des Alltags in den Haftanstalten, in denen üblicherweise auch die Untersuchungshaft vollzogen wird.[23] Die darüber herrschende Uneinigkeit setzt sich jedoch nicht zwingend bei Maßnahmen fort, die der Verfahrenssicherung dienen und nicht den Zweck haben, den Tagesablauf in der Vollzugsanstalt zu reglementieren sowie die dortige Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten.
Ferner konstatiert das OLG Celle, eine systematische Auslegung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gebe zu erkennen, dass "Untersuchungshaftvollzug" ein Teil des gerichtlichen Verfahrens ist.[24] Dies wird man ernsthaft aber ohnehin nicht in Zweifel ziehen wollen, und es sagt gewiss auch nichts darüber aus, ob und inwieweit Maßnahmen abhängig von ihrer Zwecksetzung letztlich zum Untersuchungshaftvollzug zählen. Allerdings deduziert das OLG Celle aus dieser Feststellung, das Untersuchungshaftvollzugsrecht verliere bei Vornahme einer solchen zweckorientierten Differenzierung seinen konkreten Bezug zum Strafverfahren.[25]
Das Grundgesetz zumindest geht an dieser Stelle von einem umfassenden Verfahrensbegriff aus; dies zeigt ein
Blick auf Art. 7 Nr. 3 Var. 1 WRV, der dem heutigen Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG entsprach und das gerichtliche Verfahren (sogar) "einschließlich des Strafvollzugs" der konkurrierenden Gesetzgebung zuschrieb.[26] Für das Untersuchungshaftvollzugsrecht resultiert ein Bezug zum Strafverfahren nicht allein aus der Realisierung der Haftgründe und der damit zusammenhängenden Verfahrenssicherung. Vielmehr gilt es darüber hinaus während der gesamten Dauer der Untersuchungshaft bspw. die Grundsätze des Strafverfahrens zu wahren. Es greift zu Gunsten des in der Untersuchungshaft befindlichen Angeschuldigten z. B. die Unschuldsvermutung, die eine gewisse Privilegierung dieses Häftlings etwa gegenüber Strafgefangenen notwendig macht.[27] So wird der Besitz persönlicher Gegenstände, welche die Sicherheit und/oder Ordnung der Anstalt beeinträchtigen können, in sehr viel weitergehendem Umfang zu gestatten sein, als bei einem auf Grund erwiesener Schuld verurteilten Strafgefangenen, der eine Freiheitsstrafe verbüßt.[28] Ebenso verhält es sich mit der Erlaubnis, sich selbst zu beschäftigen, die dem Untersuchungshäftling in aller Regel zu erteilen ist, während dies bei Strafgefangenen nicht den Regelfall darstellt.[29] Die daneben existierenden Besonderheiten, die z. B. bei der Praktizierung des Akteneinsichtsrechts oder der Umsetzung eventuell erweiterter Belehrungspflichten aus dem Verfahrensbezug folgen, sollen hier nur am Rande erwähnt werden. Jedenfalls bleibt der konkrete Verfahrensbezug somit selbst bei enger Auslegung des Begriffs des Untersuchungshaftvollzugs bestehen.
Der Zweck der Grundgesetzänderung, mit welcher der Gesetzgeber eindeutig eine Aufteilung der Kompetenzen intendiert habe, steht in teleologischer Hinsicht nach Auffassung des OLG Celle dem von ihm gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Dabei ist es – was der Senat auch anerkennt – durchaus zweckmäßig, wenn dem Bundesgesetzgeber neben der Kompetenz für die Regelung von Anordnung und Beendigung der Untersuchungshaft ebenso jene für die zur Sicherung ihres Zwecks notwendigen Beschränkungen zukommt.[30]
Wenn der Senat formuliert, das Ziel der Änderung stehe seiner Auffassung nicht entgegen, so kommt darin bereits eine gewisse Zurückhaltung zum Ausdruck. Denn die mit der Gesetzesänderung intendierte Stärkung der Landesgesetzgeber[31] spricht auch nicht zwingend für die Auffassung des Gerichts, sondern verhält sich hierzu weitgehend neutral. Der erste Strafsenat des OLG Celle vertritt dabei allerdings die Ansicht, (nur) durch eine vollständige Übertragung der Materie auf die Länder könne den Widrigkeiten begegnet werden, die bislang einer bundeseinheitlichen Regelung in diesem Bereich entgegenstanden.[32] Der Erlass eines solchen Gesetzes misslang jedoch nicht auf Grund eines differierenden Verständnisses bzw. einer abweichenden Auslegung der Haftgründe und der zu ihrer Verhinderung notwendigen Maßnahmen. Sein Scheitern bedingten vielmehr vor allem die in den Ländern vorhandenen unterschiedlichen Standpunkte zum Umgang mit den Inhaftierten und zur Ausgestaltung des Haftalltags, insbesondere bei Fragen der Sicherheit und Ordnung in der Haftanstalt.[33] Dies betraf nicht nur die Untersuchungshaft, sondern auch andere staatlich angeordnete Freiheitsentziehungen wie den Vollzug von Freiheits‑ oder Jugendstrafe; den Nachweis hierfür liefern die nunmehr vorhandenen zum Teil erheblichen Unterschiede bei den Landes-(Jugend‑)Strafvollzugsgesetzen.
Sämtliche vom OLG Celle aufgeführten Argumente erscheinen zwar für sich genommen nicht gänzlich abwegig oder unplausibel. Eine isolierte Betrachtung allein des Begriffs des Untersuchungshaftvollzugs wird jedoch der Bedeutung der hier aufgeworfenen Frage für das Strafverfahren insgesamt nicht gerecht.[34] Denn Sinn und Zweck der Neuregelung der Gesetzgebungskompetenzen durch das Föderalismusreformgesetz war sicherlich nicht, den Angeschuldigten im Strafverfahren einer Ungleichbehandlung infolge divergierender landesrechtlicher Regelungen auszusetzen. Zumindest soweit Maßnahmen unmittelbar dessen Rechtsstellung als Verfahrensbeteiligter tangieren, gebietet daher bereits der Grundsatz des fairen Verfahrens die Einheitlichkeit der angewandten Normen. Dies betrifft zuvorderst Anordnungen, die einen direkten Konnex zu den Haftgründen der §§ 112, 112a StPO aufweisen. Denn insoweit beeinflussen Beschränkungen u. a. die Verteidigungsmöglichkeiten bzw. die Korrespondenz mit dem Verteidiger. Eine insbesondere bei der Auslegung von Verfassungsrecht angebrachte Folgenanalyse[35] zeigt damit, dass die Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG divergierende Regelungen in diesem Bereich nicht bezweckt haben kann. Als der konkurrierenden Gesetzgebung der Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zugehörig, obliegt es dem Bundesgesetzgeber, zur Abwehr der Haftgründe aus §§ 112, 112a StPO Regelungen – wie § 119 Abs. 1 StPO – zu erlassen, auf deren Grundlage Anordnungen für den konkreten Einzelfall getroffen werden können.[36]
Erwähnt sei schließlich der Verweis des OLG Celle darauf, dass auch seiner Auffassung folgend in Niedersachsen die Norm des § 119 Abs. 1 StPO nicht obsolet sei. Die Vorschrift könne nach wie vor für andere Formen der Freiheitsentziehung Anwendung finden, für welche die Gesetzgebungskompetenz weiterhin beim Bund liegt. Hierzu führt der Senat die einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt gem. § 126a StPO, die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 275a StPO
sowie die Auslieferungshaft, § 77 Abs. 1 IRG an.[37] Erheblich eingeschränkt wäre die Bedeutung des § 119 Abs. 1 StPO freilich trotzdem, denn für diese Haftformen müssen Flucht‑, Verdunkelungs‑ oder Wiederholungsgefahr (auf die § 119 Abs. 1 StPO explizit Bezug nimmt) überhaupt nicht vorliegen. So können zwar gem. § 126a Abs. 2 StPO i. V. m. § 119 Abs. 1 StPO während der Unterbringung Maßnahmen etwa gegen Flucht‑ und Verdunkelungsgefahr getroffen werden. Ob im Übrigen für Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO auch allgemein der Zweck der einstweiligen Unterbringung (Schutz der Allgemeinheit vor gemeingefährlichen Geisteskranken[38]) herangezogen werden darf, scheint zweifelhaft bzw. spricht jedenfalls der insoweit eindeutige Wortlaut der Vorschrift dagegen.[39]
Ein Argument, das sich ggf. für die Ansicht des OLG Celle anführen ließe, ist pragmatischer Natur und liegt in den Abgrenzungsschwierigkeiten begründet, die mit einem engen Verständnis des Begriffs des Untersuchungshaftvollzugs und der damit einhergehenden Differenzierung nach dem Zweck der jeweiligen Maßnahme verbunden sind. Dies drängt die zuständigen Gerichte, welche gestützt auf § 119 Abs. 1 StPO Anordnungen erlassen wollen, in eine Begründungspflicht, darzulegen, inwieweit gerade die Abwehr eines Haftgrundes eine der in dieser Norm genannten Maßnahmen erfordert.[40] Das jedoch erscheint sogar wünschenswert, denn über die Freiheitsentziehung hinausgehende Eingriffe in die Rechte eines Inhaftierten sollten ohnehin nicht leichtfertig vorgenommen, sondern stets sorgfältig geprüft und umfassend begründet werden.
Keinesfalls zu begrüßen wäre es jedenfalls, wenn sich – als Konsequenz der Auffassung des OLG Celle naheliegend – eine Rechtszersplitterung im Untersuchungshaftrecht beim Umgang mit den Haftgründen entwickelt. Wann ein Haftgrund vorliegt und Untersuchungshaft verhängt werden darf, wie auch die Frage, welche konkreten über die Freiheitsentziehung hinausreichenden Beschränkungen gerade dieser Haftgrund für den Betroffenen mit sich bringt, berühren direkt dessen Stellung in einem Strafverfahren. Beide Bereiche sind insofern untrennbar miteinander verbunden[41] und müssen daher hinsichtlich legislativer Kompetenzen in einer Hand liegen. Ein Untersuchungshäftling, zu dessen Gunsten bis zu seiner Verurteilung die Unschuldsvermutung eingreift, erbringt mit seiner Inhaftierung ein Sonderopfer, das ohnehin nur in sehr begrenztem Umfang gerechtfertigt werden kann. Eine Ungleichbehandlung Angeschuldigter bei der Frage, welche Maßnahmen die Abwehr gerade derjenigen Gründe erfordert, die unmittelbar ihre Inhaftierung bedingen, erscheint schon deshalb aus rechtsstaatlicher Sicht geradezu unerträglich.
Die besseren Gründe sprechen dafür, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG so zu verstehen, dass dem Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz jedenfalls im Bereich der Haftgründe verblieben ist. Eine Auslegung der Norm erlaubt zunächst diese Einordnung; ein Blick auf den Sinn und Zweck der Vorschrift, sowie auf die Konsequenzen eines anderen Verständnisses legen dieses Ergebnis nahe. Die Argumentation des OLG Celle ist somit zwar grds. nachvollziehbar – sein Standpunkt entspricht allerdings nicht der Rechtslage und weckt zudem im Ergebnis Bedenken.
[1] OLG Celle StV 2010, 194 ff.
[2] LG Hildesheim 26 KLs 19 Js 30791/09, Beschluss v. 4.1.2010.
[3] §§ 133 bis 169 NJVollzG.
[4] OLG Celle StV 2010, 194.
[5] Siehe dazu sogleich Abschn. III.
[6] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Föderalismusreformgesetz) vom 28. August 2006, BGBl. I/2006, Nr. 41, S. 2034.
[7] OLG Celle StV 2010, 194, 195.
[8] Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. (2009), Einl. Rn. 12.
[9] OLG Celle StV 2010, 194, 195.
[10] OLG Celle StV 2010, 194, 196.
[11] Jarass/Pieroth, a.a.O. (Fn. 8), Einl. 12.
[12] Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl. I/2009, S. 2274.
[13] OLG Celle StV 2010, 194, 196.
[14] BVerfGE 34, 369 ff., Rn. 9, 29.
[15] Die Feststellungen betrafen die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz für die nachträgliche Straftäterunterbringung in der Sicherungsverwahrung; vgl. dazu etwa Ullenbruch NJW 2008, 2609 ff.
[17] OLG Celle StV 2010, 194, 196.
[18] Vgl. BT‑Drs. 16/13097 S. 1; BT‑Drs. 16/11644, S.1, 12.
[19] OLG Celle StV 2010, 194, 196.
[21] Kazele StV 2010, 258, 260.
[22] OLG Celle StV 2010, 194, 196 f.
[23] Laubenthal, Strafvollzug, 5. Aufl. (2008), Rn. 60, 74, 914.
[24] OLG Celle StV 2010, 194, 196.
[25] OLG Celle StV 2010, 194, 196.
[26] Seiler, in: BeckOK‑GG, 2010, Art. 74 Rn. 10.
[27] Schroeder, Strafprozessrecht, 4. Aufl. (2007), Rn. 150; Laubenthal, a.a.O. (Fn. 23), Rn. 60.
[28] Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl. (2001), Rn. 963.
[29] Vgl. dazu Laubenthal, a.a.O. (Fn.23), Rn. 419 ff.
[30] OLG Celle StV 2010, 194, 196 f.; Paeffgen StV 2009, 46.
[32] OLG Celle StV 2010, 194, 196 f.
[33] Schlothauer/Wieder, a.a.O. (Fn. 28), Rn. 946.
[34] Kazele StV 2010, 258.
[35] Jarass/Pieroth, a.a.O. (Fn. 8), Einl. Rn. 12.
[36] So auch Bittmann NStZ 2010, 13, 15 f.; Kazele StV 2010, 258 ff.; Krauß, in: BeckOK‑StPO, 2010, § 126a Rn. 1; Michalke NJW 2010, 17, 19 f.; ebenso OLG Oldenburg StV 2008, 195; AG Meppen NZS 21 Gs 276/08, Beschluss v. 11.September 2008.
[37] OLG Celle StV 2010, 194, 195.
[38] Schultheis, KK‑StPO, 6. Aufl. (2008), § 126a Rn. 5; Pollähne R&P 2002, 229 ff.
[39] Ähnlich Münchhalffen/Gatzweiler, Recht der Untersuchungshaft, 3. Aufl. (2009), S. 147 f.; a. A.: Krauß, in: BeckOK‑StPO, 2010, § 126a Rn. 5.
[40] Bittmann NStZ 2010, 13, 16.
[41] Kazele StV 2010, 258, 259.