HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2010
11. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

"Nie sollst du mich befragen" – Zur Behandlung des Rechts zur Konfrontation mitbeschuldigter Belastungszeugen (Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK) durch den BGH

Zugleich Besprechung von BGH 4 StR 461/08 – Beschluss vom 9. Juni 2009, HRRS 2009 Nr. 803 und EGMR HRRS 2009 Nr. 459.

Von Assessor Jan Dehne-Niemann, Heidelberg/Freiburg i.Br. *

I. Sachverhalt und Entscheidungsinhalt

Dem BGH lag der folgende Verfahrenssachverhalt zur Entscheidung vor: Das Landgericht hat den Angeklagten (im Folgenden: A.) u.a. wegen schwe­ren räuberischen Diebstahls, räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer sowie wegen schweren Raubes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Während des Verfahrens konnte A. seinen Mitangeklagten K., der in der Hauptverhandlung den Revisionsführer belastet hatte, nicht durch seinen Verteidiger (§ 240 Abs. 2 S. 2 StPO) befragen lassen, weil K. gegenüber dem Verteidiger des A. wie auch gegenüber dem Verteidiger eines Mitangeklagten von seinem Recht auf Selbstbelastungsfreiheit Gebrauch gemacht hatte. Das LG Berlin verwertete die Angaben des Mitangeklagten K. zu Lasten des A. In welcher Weise die Verwertung geschah – ob sich K. vor Gericht (ggf. nur über seinen Verteidiger) geständig eingelassen oder ob er nur im Ermittlungsverfahren gestanden hatte und dann in der Hauptverhandlung das Geständnisprotokoll nach § 254 StPO verlesen worden war [1] –, teilt der BGH nicht mit.

A. stützte die Verfahrensrüge in der Revision auf eine Verletzung des Konfrontationsrechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK. Das Tatgericht habe unter Hinweis auf die besondere Bedeutung des Befragungsrechts der Verteidiger der anderen Angeklagten an den Mitangeklagten K. appellieren müssen, deren Fragen zu beantworten, nachdem dieser durch seinen Verteidiger hatte erklären lassen, Fragen der anderen Verteidiger nicht beantworten zu wollen. Jedenfalls sei es der Kammer verwehrt gewesen, die den A. belastenden Angaben des Mitangeklagten K. im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen, weshalb das Tatgericht mit der Einbeziehung der belastenden Aussagen des K. gegen § 261 StPO verstoßen habe. Dem folgte der 4. Strafsenat des BGH nicht, vielmehr verwarf er die Revision des R und führte aus, zwar habe der Verteidiger des R nicht das von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK geschützte Fragerecht ausüben können, weil K. die Fragen – was nach Meinung des BGH zulässig war – nicht beantworten wollte. Doch stehe dies "der Verwertung der Angaben des Mitangeklagten K. nicht entgegen", weil der BGH "das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung" für fair hielt [2], sei es doch nicht der Justiz anzulasten, dass A. bzw. dessen Verteidiger keine Gelegenheit zur konfrontativen Befragung des K. hatte: Über das "verfassungsrechtlich durch die gemäß Art. 1, 2 Abs. 1 GG garantierten Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde sowie der freien Entfaltung der Persönlichkeit" abgesicherte und "zum Kernbereich des von Art. 6 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahren" gehörende Recht auf Selbstbelastungsfreiheit des K. zu Recht habe sich die Kammer nicht hinwegsetzen dürfen und, weil eine Verpflichtung, (rechtlich) Unmögliches zu leisten nicht existiere, es auch nicht müssen. [3] Jedenfalls weil der Verteidiger des Mitangeklagten K. in der Hauptverhandlung mitgeteilt habe, sein Mandant habe "von vornherein" nicht vorgehabt, sich durch die Verteidiger der anderen Angeklagten befragen zu lassen, sei es auch nicht zu beanstanden, dass die Kammer nicht weiter auf den belastenden Mitangeklagten K. eingewirkt habe. Die danach noch vorliegende, nicht der Justiz anzulastende und auf einem sachlichen Grund – nämlich auf

dem Schweigerecht des K. – beruhende "Nichtgewährung des Konfrontationsrechts" des A. habe "das Landgericht im Übrigen … im Rahmen der Beweiswürdigung ausreichend kompensiert." [4]

Die Problematik des entschiedenen Sachverhalts liegt in der Behandlung des Konfrontationsrechts durch den BGH, die in der Sache auf eine Versagung des Konfrontationsrechts hinausläuft; dies nicht etwa schon deshalb, weil der Revisionsführer A. nicht befragen konnte (Primärebene der Beweiserhebung), sondern vielmehr erst wegen der Konsequenzen der fehlenden Befragungsmöglichkeit (Sekundärebene der Beweisverwertung). Indem der Senat in seiner – mit Blick auf die Schilderung des Verfahrenssachverhalts und auf die Begründung – eigentümlich schwachen Entscheidung eine Verurteilung des A. aufgrund einer unkonfrontierten Aussage des K. für möglich gehalten hat und nur eine "Kompensation" mittels einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung (Tertiärebene der Beweiswürdigung) angenommen hat, hat er gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verstoßen.

II. Hintergrund der Revision: Das Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK

1. Der konventionsrechtliche Zeugenbegriff und der Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK: Examinationsrecht auch gegenüber Mitangeklagten

Von grundsätzlichem Interesse ist die Entscheidung zunächst schon deshalb, weil der BGH die Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK für in personaler Hinsicht auf K. anwendbar hält und die die Berufung des K auf das Zeugenkonfrontationsrecht nicht schon daran scheitern lässt, dass es sich bei K., den der Verteidiger des A. vergeblich zu befragen trachtete, nicht um einen Zeugen im Sinne der Vorschriften der StPO handelt, sondern um einen (Mit‑)Beschuldigten, der nach deutschem Strafprozessrecht nicht zugleich Zeuge sein kann. Der BGH hatte in seiner früheren Rechtsprechung den Zeugenbegriff des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (angesichts Art. 31 WVRK höchst bedenklich [5] ) im Lichte des nationalen Zeugenbegriffs ausgelegt [6] und lange Zeit mit prinzipieller Billigung des BVerfG [7] aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ein "Fragerecht nur bei Fragen an den Belastungszeugen und nicht bei solchen an den Mitbeschuldigten" abgeleitet. [8] Demgegenüber vertritt der EGMR zu Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK bekanntlich einen konventionsrechtlich-eigenständigen Zeugenbegriff, den die deutsche Rechtsprechung – nach langem Zögern und bis in die jüngste Zukunft nur halbherzig – übernommen hat. Zeuge ist danach jeder, dessen Aussage durch das Gericht in die Urteilsfindung einbezogen wird, [9] namentlich also auch ein Mitbeschuldigter. [10] Dass der dem angelsächsischen Parteiprozess entstammende, sich eigentlich an eine adversatorische Verfahrensstruktur [11] anlehnende konventionsrechtliche Zeugenbegriff auch für das refor­mier­te Inquisitionsprozessrechtssystem der deutschen StPO gilt und sich diese Erkenntnis auch am BGH durchzusetzen beginnt, kann als erfreulicher Aspekt der Entscheidung verbucht werden; eine Selbstverständlichkeit ist es nicht, hatte doch zuletzt der 1. Strafsenat des BGH in einer Art "Restabbild" der früheren formalen Deutung des Zeugenbegriffs eine analoge Anwendung des § 168c Abs. 1, 2 StPO auf die Vernehmung eines Mitbeschuldigten abgelehnt und deshalb einen Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht aus § 168 Abs. 5 S. 1 StPO verneint [12] – angesichts der von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK bezweckten Gleichstellung von Mitbeschuldigten und von Zeugen im formellen Sinne gewiss ein konventionsrechtlich unhaltbarer Standpunkt. [13]

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährleistet das Recht, Fragen an Zeugen zu stellen und – anders als die deutsche Übersetzung es nahelegt – im Sinne voller Waffengleichheit auch die konfrontative Überprüfung ("Examinierung") der Aussage eines Belastungszeugen; [14] es geht um ein

Recht auf "Infragestellung". [15] Deshalb – das sei nur um der Vermeidung übersetzungsbedingter Missverständnisse erwähnt – lässt sich das Problem der fehlenden Konfrontationsmöglichkeit des K. nicht etwa dadurch aus der Welt räumen, dass man sophistisch darauf verweist, der Verteidiger des Angeklagten habe ja Fragen stellen können und nur keine Antworten erhalten. [16] Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK möchte dem Angeklagten die Möglichkeit gewähren, den Nachweis einer falschen Beschuldigung durch den Belastungszeugen zu führen, "die Glaubwürdigkeit (des Belastungszeugen) auf die Probe zu stellen, Ergänzungen zu den bereits vorliegenden Informationen zu verlangen, mit dem Ziel der vollständigen Tatsachenaufklärung", [17] weshalb Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK auch verlangt, dass der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger (§ 240 Abs. 2 S. 2 StPO) examinationsfähige Antworten auf seine Fragen im Wege unmittelbarer Wahrnehmung erhält, andernfalls der Angeklagte ja keine Möglichkeit hat "darzutun, dass die Person (scil. der Zeuge, J.D.-N.) voreingenommen, feindselig oder unglaubwürdig sei". [18] Angesichts dieser rechtlichen Ausgangslage hätte daher der Beschuldigte A. in strikter Anwendung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK "im Prinzip" auch die Überprüfung des vom Mitangeklagten K. vorgebrachten belastenden Tatsachenmaterials durch Beantwortung der von seinem Verteidiger an K. gerichteten Fragen verlangen können.

2. Der Konflikt zwischen dem Konfrontationsrecht des Beschuldigten und dem Schweigerecht des Mitbeschuldigten

Dem Anspruch des A. auf Examination des Mitbeschuldigten K. standen jedoch dessen Recht auf Selbstbelastungsfreiheit und das damit verbundene Schweigerecht entgegen, die zum Kernbereich des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fairen Strafverfahrens gehören. [19] Die Bedeutung dieser Rechte des K. hat der BGH derart ausführlich hervorgehoben, dass es einem oberflächlichen Leser scheinen mag, streitbefangen sei nicht das Konfrontationsrecht des A., sondern das Schweigerecht des K. Allerdings hat der 4. Strafsenat damit glatt das Thema verfehlt, denn dem Revisionsführer A. war es ja nicht darum zu tun, den beschriebenen Konflikt zwischen seinem Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und dem Recht des K., (auch teilweise) zu den Vorwürfen zu schweigen, einseitig zulasten des Schweigerechts zu lösen; soweit ersichtlich, möchte auch dann niemand einem Beschuldigten das (Teil‑)Schweigerecht nehmen, wenn dieser nur gegen einen Mitbeschuldigten aussagt und im Übrigen schweigt. In der Praxis dürften diese Konstellationen, nebenbei bemerkt, hauptsächlich dann auftreten, wenn mit einem oder mehreren Beschuldigten eine Verständigung (eine "Absprache", ein "Deal") zustande kommt und sich diese Beschuldigten dann geständig und in einer die übrigen Mitbeschuldigten belastenden Weise einlassen, die übrigen Beschuldigte sich aber an der Absprache nicht beteiligen und schweigen oder gar bestreiten. Ob auch das den A. mitbelastende Geständnis des K. aufgrund einer Verständigung zustande kam, teilt der BGH nicht mit; für die Auflösung der Kollision zwischen Schweigerecht und Konfrontationsrecht ist es ohne Bedeutung.

Es fällt auf, dass der BGH mit der Begründung des Schweigerechts des Mitbeschuldigten K. zugleich offensichtlich die Beeinträchtigung des Konfrontationsrechts des Revisionsführers A. für gleichsam "dem Grunde nach" gerechtfertigt hält und nur noch floskelhaft die – angebliche – Fairness des Verfahrens "in seiner Gesamtheit" bemüht (dazu unten III. 1.) und die von ihm für maßgeblichen Kompensationskriterien nennt (unten III. 2. und 3.). Aber die Wahrung des Schweigerechts des K. gibt der Justiz noch kein Recht zum Eingriff in das Konfrontationsrecht des A. Zwar trifft es zu, dass die Beachtung des Schweigerechts des Einen mit einem Eingriff in das Konfrontationsrecht des Anderen notwendig verbunden ist, also – sozusagen auf der Primärebene – in einem gegen mehrere Mitbeschuldigte geführten Strafverfahren immer nur entweder das Schweigerecht des einen oder das Konfrontationsrecht des anderen gewahrt werden kann, wenn einer der Mitbeschuldigten den anderen belastet und auf dessen Fragen im Übrigen schweigt; eine andere, vom BGH nur äußerst kursorisch behandelte Frage ist es jedoch, ob und gegebenenfalls unter welchen zusätzlichen Voraussetzungen die ohne die Möglichkeit einer Konfrontation erlangte belastende Aussage gegen A. – auf der Sekundär- bzw. Tertiärebene – verwertet werden durfte.

Dass die Beachtung der Rechte des Einen noch keine ausreichende Grundlage für eine konfrontationslose Verwertung zulasten des Anderen und damit für eine Versagung des Konfrontationsrechts (auch) auf der Verwertungsebene bietet, erhellt aus Folgendem: Was sich aus Sicht des K. gerade als Schutz einer verfahrensmäßigen Menschenrechtsposition darstellt, wirkt aus der Perspektive des A. als Beeinträchtigung; gegenüber A. hat die Praktizierung des Defensivrechts des K. eine stark offensive Wirkung, weil es seine Verteidigungsmöglichkeiten erheblich einschränkt. Diese Doppelwirkung hoheitlicher Handlungen gegenüber mehreren Verfahrensbeteiligten ist im Strafverfahren nichts Ungewöhnliches. In einem gegen mehrere Beschuldigte geführten Strafverfahren greifen die Strafverfolgungsbehörden in die Grund- oder Menschenrechte mehrerer Personen ein; geraten dabei verschiedene Interessen miteinander in Konflikt, so kann man von einem mehrpoligen Menschenrechtsverhältnis sprechen. In solchen mehrpoligen Menschenrechtsverhältnissen ist der Staat grundsätzlich jeder menschen-

rechtlichen Gewährleistung verpflichtet, weshalb die Beeinträchtigung jeder einzelnen menschenrechtlichen Gewährleistung nach ihren je eigenen Zulässigkeitsregeln zu beurteilen ist. Die Zulässigkeit der Beschränkung einer menschenrechtlichen Gewährleistung bemisst sich also auch in mehrpoligen Menschenrechtsverhältnissen grundsätzlich nach dem Verhältnis der Menschenrechteinhabers zum Staat, nicht aber nach dem Verhältnis einzelner Rechteinhaber untereinander.

Daher erwächst – anders als es der BGH anzunehmen scheint – aus dem Individualrecht eines Mitbeschuldigten dem Staat noch kein Eingriffsrecht in die Rechtsposition eines anderen Beschuldigten. In einer solchen Situation darf der Schutz der Rechtsposition des Schweigeberechtigten nicht per se zu einer Beeinträchtigung der Rechtsposition des Konfrontationsberechtigten verwendet werden. Umgekehrt formuliert und auf den vorliegenden Fall gewendet folgt daraus, dass die Beeinträchtigung des Konfrontations- und Fragerechts des A. nicht gottgegeben-schicksal­haft als unausweichliche Begleiterscheinung des Schweigerechts des K. akzeptiert werden kann. Dies muss umso mehr gelten, als die strikte Beachtung beider konventionsrechtlicher Gewährleistungen – des Konfrontations- und Fragerechts (auf der sekundären Beweisverwertungsebene) einerseits, des Schweigerechts (auf der Primärebene) andererseits – im vorliegenden Strafverfahren möglich gewesen wäre, also keine Notwendigkeit bestand, beide konventionsrechtliche Garantien – und damit letztlich auch die Interessen beider Beschuldigter – gegeneinander auszuspielen. Die Beeinträchtigung des Fragerechts auf der Primärebene durch das nicht zu beseitigende Schweigerecht auf der Primärebene wäre nämlich auf der Sekundärebene durch die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes auszugleichen gewesen (unten III. 3.).

III. Kritik der Entscheidung BGH HRRS 2009 Nr. 803

Dass die Beeinträchtigung des Fragerechts nicht ohne weiteres einseitig zugunsten des Schweigerecht aufgelöst werden kann, ist dem 4. Senat denn auch nicht entgangen. Seiner Apologie des Schweigerechts des K. hat er in wenigen dürren Worten die Paraphrase hinzugefügt, die "Nichtgewährung des Konfrontationsrechts, die aus den vorgenannten Gründen (scil. wegen des Schweigerechts des K., J.D.-N.) auf einem relevanten Grund" beruhe, habe "das Landgericht im Übrigen, wie der Generalbundesanwalt im Einzelnen zutreffend dargelegt hat, im Rahmen der Beweiswürdigung ausreichend kompensiert." [20] Sie stehe "der Verwertung der Angaben des Mitangeklagten K. nicht entgegen, weil das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war." [21]

Diese Sätze sind bei näherem Zusehen in mehrfacher Hinsicht rechtlich problematisch: Zum einen offenbart der Senat ein durch die "Gesamtbetrachtungsrechtsprechung" des EGMR nicht gedecktes und auch inhaltlich unzu­treffendes Verständnis der Verhältnisses des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK und kommt so zur Verwertbarkeit von Zeugenaussagen, die Teil eines – nach welchen Kriterien auch immer – "in seiner Gesamtheit fairen" Verfahrensablaufs sein sollen (sogleich 1.). Zweitens wird man bezweifeln dürfen, dass der BGH – selbst wenn man den von ihm angelegten, unangebracht verengten Prüfungsmaßstab akzeptieren und die Prüfung mit dem BGH sozusagen durch die Brille des EGMR fortsetzen wollte – die Kriterien der Gesamtbetrachtung richtig verstanden und zutreffend angewandt hat (unten 2.). Und schließlich wird – zumal im hier streitbefangenen Bereich der Verwertung von belastenden Aussagen eines Mit­angeklagten – als Konsequenz der fehlenden Befragungs- und Konfrontationsmöglichkeit auf der Primärebene einzig ein Beweisverwertungsverbot auf der Sekundärebene der sachlichen Problematik gerecht (unten 3.).

1. Die Bezugnahme des BGH auf die "Gesamtbetrachtungsrechtsprechung" des EGMR

Hinter der kryptischen Bezugnahme des 4. Senats auf die "Gesamtheit" des "einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung" fairen Verfahrens steckt eine weit verbreitete Deutung der Rechtsprechung des EGMR, wonach es sich bei den Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 EMRK um unselbständige Ausprägungen der allgemeinen Verfahrensfairness nach Art. 6 Abs. 1 EMRK handele, [22] weshalb die Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK unter dem Vorbehalt der Verletzung des "Gesamtrechts" nach Abs. 1 stehe. Bei einem solchen Verständnis des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK als einem unselbständigen Teilrecht des Art. 6 Abs. 1 EMRK ließen sich eventuelle Versäumnisse bei der Gewährung des Konfrontationsrechts im Rahmen einer die Gesamtfairness betreffenden Abwägung durch ausgleichende Maßnahmen ("counterbalancing measures") kompensieren. Doch erstens trifft diese Deutung der Rechtsprechung des EGMR nicht zu (sogleich a]), zweitens wäre sie, selbst wenn sie der Position des EGMR entspräche, kaum sachgerecht (unten b]), und drittens hat der BGH offensichtlich ein Judikat des EGMR aus jüngster Zeit übersehen, mit dem möglicherweise der Anfang vom Ende der "Gesamtbetrachtungsdoktrin" eingeläutet worden ist (unten c]).

a) Die Bedeutung der Gesamtbetrachtungsrechtsprechung des EGMR

Einem zu einem Kategorienfehler führenden Missverständnis ist der BGH zunächst dort erlegen, wo er davon auszugeht, dass der EGMR mit dem Erfordernis eines im Ganzen unfair verlaufenen Verfahrens inhaltlich-materielle Abstriche an die Feststellung eines Verstoßes gegen die Gewährleistung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK machen möchte. In Wahrheit resultiert die Gesamtbetrachtung, die der EGMR bei der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vornimmt, nämlich nicht aus

einem bestimmten systematischen Verständnis des Verhältnisses der Absätze 1 und 3, sondern daraus, dass sich der EGMR nur in einem möglichst geringen Maße in die Besonderheiten der nationalen vertragsstaatlichen Rechtsordnungen einmischt. Der dabei praktizierte judicial self restraint soll also gerade keine Relativierung der ausdrücklich gewährleisteten Konfrontationsmöglichkeit bewirken, sondern trägt nur dem Umstand Rechnung, dass der EGMR nicht – ähnlich wie auf nationaler Ebene das BVerfG nur spezifische Verfassungsrechtsver­let­zungen prüft – nicht die Anwendung nationalen Prozessrechts kontrolliert, sondern ausschließlich die Beachtung der Konventionsgarantien überwacht und nicht zu einer Superrevisionsinstanz werden möchte. [23] Besonders deutlich hat der EGMR dies in seiner Entscheidung im Fall Haas betont:

"Die Zulässigkeit von Beweismitteln muss in erster Linie durch staatliches Recht geregelt werden, und es ist grundsätzlich Aufgabe der staatlichen Gerichte, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen. Aufgabe des Gerichtshofs ist es festzustellen, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich des Beweisverfahrens, fair war." [24]

Diese (im Beweisrecht mittlerweile wohl überholte, s.u. c]) Zurückhaltung des EGMR ist in der Literatur Gegenstand heftiger Kritik; man wirft dem Gerichtshof mit einiger Berechtigung vor, die Verletzung von Konventionsrechten zu tolerieren, obwohl der EGMR zur Wahrung derselben gerade berufen sei. [25] Auch sei die Propagierung einer "Gesamtfairness" maßstabslos, vermöge dem Rechtsanwender keine Leitlinie vorzugeben [26] und führe zu einem Bedeutungsverlust des Art. 6 EMRK. [27] Ferner entspreche das Paradigma der Entscheidungs- und Deutungshoheit der Mitgliedstaaten über die Auslegung, Anwendung und Umsetzung des Art. 6 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR ohnehin nur einer "general rule", [28] einem allgemeinen Grundsatz, von der der Gerichtshof in den verschiedensten Fällen ad libidum abgewichen ist: Zunehmend – das ist ins­besondere für das im vorliegenden Fall streitbefangene Konfrontationsrecht bedeutsam – verzichte der EGMR auf eine nur allgemeine Gesichtspunkte der Verfahrensfairness überprüfende zurückhaltende Einzelfallrechtsprechung zu einzelnen Teilrechten des Art. 6 Abs. 3 EMRK. In diesem Bereich nehme der EGMR seine "supervisory role" also zunehmend ernster – gerade bei der Beurteilung der Anwendung nationalen Beweisrechts schaue der EGMR mitunter sehr konkret hin, [29] habe damit sein Postulat, wonach Art. 6 EMRK den Mitgliedstaaten keine Vorgaben im Einzelnen mache, längst partiell durchbrochen und zum Teil recht detaillierte Vorgaben gesetzt, unter welchen Voraussetzungen sich die Verwertung einer unkonfrontierten Zeugenaussage als "insgesamt unfair" darstellt. [30] Der Topos der vertragsstaatlichen Verfahrenshoheit entpuppe sich damit als Feigenblatt, hinter das sich der EGMR in bestimmten Fällen nach Belieben zurückziehen könne[31] und das den Topos von der "Gesamtverfahrensfairness" insgesamt in Frage stelle.

Ungeachtet all dieser begründeten Kritik des mit der Verfahrensgesamtbetrachtung verbundenen self restraint, die an dieser Stelle keiner vertieften Auseinandersetzung bedarf und die die Perspektive und den Prüfungsmaßstab ausschließlich des EGMR betrifft, sich aber erst recht gegen die vom BGH betriebene materielle Relativierung des Konfrontationrechts in Stellung bringen lässt, kann festgehalten werden, dass – was für den vom BGH entschiedenen Verfahrenssachverhalt entscheidend ist – der dogmatische Gehalt der Gesamtbetrachtungsdoktrin jedenfalls nur in einem aus dem Charakter des EGMR als des Hüters nur der EMRK resultierenden reduzierten Prüfungsmaß­stab besteht. Diese Einordnung der Rechtsprechung des EGMR ist keine beckmesserische Spitzfindigkeit, sondern hat erhebliche Konsequenzen, was die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Überwachung der Frage- und Konfrontationsmöglichkeiten anbelangt: Da die Gesamtbetrachtung nur die Prüfungsdichte des EGMR klarstellt und jedes Gericht die ihm nach seiner Funktion im Rechtsschutzsystem zukommende je eigene Perspektive bei der Prüfung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK einnehmen muss (Art. 19 Abs. 4 GG), können sich – entgegen der Praxis des BGH – die vertragsstaatlichen Gerichte einen so großzügigen self restraint gerade nicht genehmigen. Für den BGH als nationales Revisionsgericht besteht kein Anlass, diesen zurückgenommenen Prüfungsmaßstab anzulegen; vielmehr muss das Gericht die verfahrensmäßige Einhaltung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vollinhaltlich überprüfen. Deshalb liegt der in der Entscheidung BGH HRRS 2009 Nr. 803 mitschwingende n Ansicht, wonach nur ein insgesamt unfairer Verfahrensablauf eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK begründen können soll, eine Stufenkonfusion zugrunde; die inhaltlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, die auch den BGH binden, haben mit der nachgelagerten Frage der Überprüfungsdichte durch den EGMR nichts zu tun. Der BGH liegt also falsch, wenn er glaubt, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gestatte es ihm per se, das Konfrontationsrecht

als eine Art unverbindlichen Vorschlag der Vertragsstaaten zu behandeln und die Beeinträchtigung des Fragerechts von vornherein unter dem Vorbehalt der Gesamtverfahrensfairness zu würdigen.

b) Das Verhältnis des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zu Art. 6 Abs. 1 EMRK – selbständig bedeutsamer oder unselbständiger Bestandteil des Gesamtrechts?

Auch inhaltlich ist – selbst wenn damit die Position des EGMR zutreffend beschrieben wäre (dagegen oben a]) – ein Verständnis des Konfrontationsrecht als eines bloß unselbständig-unverbind­li­chen Bestandteils des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten "Gesamtrechts" auf ein faires Verfahren, welches der BGH für seine Relativierung des Konfrontationsrechts in Anspruch nehmen möchte, sehr zweifelhaft. Zunächst wäre schon die Existenzberechtigung eines in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gesondert niedergelegten, aber ex hypothesi gleichwohl unselbständigen Teilrechts kaum zu erklären; denn stünde eine Verletzung des Konfrontationsrechts stets unter dem Vorbehalt der Verletzung des Verfahrensgesamtfairness (wovon der BGH auszugehen scheint [32]), so wäre die hervorgehobene Nennung des ersteren in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK redundant.

Auch jenseits dieses eher formalen Arguments – das genau genommen zu viel belegt, weil mit ihm das integrale Verständnis des Konfrontationsrechts [33] insgesamt in Abrede gestellt werden könnte – spricht nichts dafür, mit dem völlig unbestimmten Topos eines insgesamt "irgendwie fairen" Verfahrensablaufs an Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK heranzutreten. Die "Gesamtbetrachtungsdoktrin" muss als reine Prüfungsmethode des integralen Teilrechts des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK begriffen werden, [34] so dass aus ihr – entgegen der Praxis der deutschen Rechtsprechung und der Auffassung weiter Teile des Schrifttums – keinerlei Rückschlüsse auf die Einschränkungskriterien gezogen werden können, weil sich allein daraus, dass der EGMR eine Gesamtbetrachtung vornimmt, keine Kriterien für eine Entscheidung in der Sache gewinnen lassen; [35] die "Gesamtbetrachtung" kann nicht ihr eigener Maßstab sein, weil sie als bloßes prozessuales Prüfungskriterium nicht maßstabsbildend fungieren kann. Daher stellt eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK stets (wenn man so will: zugleich, wegen des ausprägenden Charakters des Teilrechts nicht aber nicht zusätzlich) eine Verletzung des Gesamtrechts dar; [36] nicht aber lässt sich das Verhältnis umkehren und die Feststellung der Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK unter den Vorbehalt der Verletzung des Gesamtrechts stellen. Mit der Eingliederung der in Art. 6 Abs. 3 EMRK benannten Teilrechte in das Gesamtrecht ist nicht ausgemacht, dass sie nur wegen dieser Eingliederung beschränkt überhaupt werden können und nach welchen Kriterien etwaige Beschränkungen zulässig sind. [37] Daraus folgt zugleich, dass über die Einschränkungsbedingungen des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK aus der spezifischen Bedeutung des Konfrontationsrechts heraus und nicht nach allgemeinen Fair­ness­erwägungen zu befinden ist.

Vieles deutet darauf hin, dass der Rechtsprechung des EGMR eben dieses Verständnis der integralen Selbständigkeit der Teilrechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK zugrunde liegt; so hat der Gerichtshof in Fällen, in denen ein Konventionsstaat einen Vorbehalt gegen ein Teilrecht des Art. 6 Abs. 3 EMRK eingelegt hatte, gleichwohl auf Art. 6 Abs. 1 EMRK zurückgegriffen und ausgeführt, ein Vorbehalt könne nicht "dahin ausgelegt werden, dass er die Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK berührt". [38] Wenn es wegen des Vorbehalts auf die Rechtfertigung des Teilrechts gar nicht ankommt, sondern allein auf die Beeinträchtigung des Gesamtrechts und deren Rechtfertigung, diese aber wieder nach den selben Kriterien zu beurteilen sind wie die Rechtfertigung des Eingriffs in das Konfrontationsrecht, so kann daraus nur gefolgert werden, dass eine Verletzung des Rechts auf Verfahrensfairness aus Art. 6 Abs. 1 EMRK im Anwendungsbereich des Konfrontationsrecht mit einer Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK identisch ist. Ist Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK für sich genommen zwar beeinträchtigt, nicht aber verletzt, so kann sich die Verletzung des Gesamtrechts danach immer noch aus einer sub specie Art. 6 Abs. 1 EMRK insgesamt unfairen Verfahrensgestaltung ergeben, für die die (für sich genommen akzeptable) Beeinträchtigung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nur einen Aspekt von möglicherweise mehreren darstellt. [39] Dass der EGMR – ganz unabhängig von den genannten Vorbehaltsfällen – oftmals sogleich das Gesamtrecht auf Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 EMRK) prüft und sich nicht weiter mit einer (alleinigen) Prüfung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK aufhält, dürfte zum einen auf prüfungsökonomische Erwägungen und zum anderen darauf zurückzuführen sein, dass der EGMR in Verletzungsfällen aus Plausibilitätsgründen und um der höheren Durchschlagskraft seiner Argumente willen alle Gesichtspunkte additiv heranzieht, [40] mitnichten aber etwa darauf, dass der Gerichtshof die "Gesamtbetrachtung" als materiales Kompensatorium bei Art. 6 Abs. 1 EMRK verorten würde.

Dafür, dass der EGMR die "Gesamtbetrachtung" in der Sache als bloßen Oberbegriff einer Prüfungsmethode sieht, spricht schließlich auch, dass er an verschiedene jeweils die Versagung eines Konfrontation betreffende Fallgruppen bisher unterschiedliche Kriterien anlegte, um flexibel auf unterschiedliche Konstellationen reagieren zu können; so folgte etwa die Behandlung unerreichbarer Zeugen gegenüber etwa der unkonfrontierten Zeugenaussagen im Falle staatlicher Zeugensperrung in puncto Verwertbarkeit noch immer (graduell) unterschiedlichen Regeln – ohne dass diese unterschiedliche Behandlung freilich vom EGMR jemals begründet würde. [41] Insbesondere ließ – um die vorliegend virulente Fallgruppe zu benennen – der EGMR bislang die Verwertung von unkonfrontierten Aussagen bei Zeugen i.S. des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, die sich in der Hauptverhandlung auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen, unter gewissen einschränkenden Bedingungen zu, die er im verwandten Fall der staatlichen Zeugensperrung nicht akzeptiert. [42]

c) Die Entscheidung des EGMR im Fall Al-Khawaja und Tahery: Der Anfang vom Ende der "Gesamtbetrachtungsdoktrin"?

Über die die bisherige Rechtsprechung des EGMR und ihre fehlerhafte Rezeption durch den BGH betreffenden obigen Einwänden (a] und b]) hinaus bedarf der Hervorhebung, dass der 4. Strafsenat eine Entscheidung des EGMR aus jüngster Zeit übersehen hat, derzufolge sich nunmehr auch am EGMR nun das Bestreben durchsetzen dürfte, Verletzungen des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht länger ausschließlich mithilfe einer Verletzung des Gesamtrechts, sondern – wie auch die Einschränkungsbedingungen des Konfrontationsrechts – ausschließlich aus diesem selbst heraus zu begründen. Im nämlichen Fall Al-Kha­waja and Tahery hat der EGMR ausgeführt:

"… the Court is not persuaded that any more appropriate direction could effectively counterbalance the effect of an untested statement …".

Aus dieser Aussage lässt sich auch bei Anlegung der gebotenen Vorsicht zumindest schlussfolgern, dass nicht jede Beeinträchtigung des Konfrontationsrecht im Rahmen der vom EGMR bisher angelegten Gesamtbetrachtung in ein insgesamt (noch) faires Verfahren "wegabgewogen" werden kann [43] (zu den Voraussetzungen unten 2. und 3.). Einige Textstellen [44] legen darüber hinaus die Interpretation nahe, dass sich der Gerichtshof gegen jegliche Relativierung des Konfrontationsrechts mittels einer Verfahrensgesamtwürdigung als fair wendet: [45]

"As minimum rights, the provisions of Article 6 § 3 constitute express guarantees and cannot be read … as illustrations of matters to be taken into account when considering whether a fair trial has been held … Equally, even where those minimum rights have been respected, the general right to a fair trial guaranteed by Article 6 § 1 requires that the Court ascertain whether the proceedings as a whole were fair". [46]

Die Rechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK – und damit auch das Konfrontationsrecht – können also nicht als bloßes Abwägungsmaterialen bei der Frage nach der (Gesamt‑)Verfahrensfairness behandelt werden; im Gegenteil kann – das hebt der EGMR nun in der (allerdings mit Blick auf Art. 44 EMRK nicht rechtskräftigen) Entscheidung des Falls Al-Khawaja und Tahery mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervor – eine Verletzung des Gesamtrechts nach Art. 6 Abs. 1 EMRK auch vorliegen, wenn alle Einzelgarantien des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK jeweils für sich genommen beachtet worden sind und ein Verstoß gegen das Gesamtrecht nur aus der Kumulation der Einzelbeeinträchtigungen resultiert, das Verfahren also ins­gesamt nicht mehr fair ist. Das heißt, dass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinreichend, aber nicht notwendig bedingt. Damit kann – anders als der BGH meint – eine Beeinträchtigung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht durch die Beachtung der Verfahrensfairness im Übrigen sub specie Art. 6 Abs. 1 EMRK geheilt werden; ob Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verletzt ist, muss nach den speziell an das Teilrecht vom EGMR angelegten Kriterien beantwortet werden.

2. "Kompensation" der Beeinträchtigung des Fragerechts in BGH HRRS 2009 Nr. 803 durch fehlende Verantwortlichkeit der Justiz?

Das soeben herausgearbeitete Verhältnis des Fragerechts zum Gesamtrecht auf Verfahrensfairness gilt es im Auge zu behalten, wenn nun gezeigt werden soll, dass der BGH bei der revisionsrichterlichen Prüfung der Frage, ob die mit dem Schweigerecht einhergehende Beeinträchtigung des Konfrontationsrechts des A. "kompensiert" worden ist, falsche Maßstäbe angelegt hat. Gerade daraus, dass jede Beeinträchtigung des Konfrontationsrecht irrelevant sein soll, wenn das Verfahren "insgesamt fair" verlaufen ist, will die strafrechtliche Rechtsprechung mit Billigung des BVerfG [47] die Kompensationsfähigkeit der von ihm für maßgeblich gehaltenen Kompensationskriterien der fehlende Verantwortlichkeit der Justiz für die Konfrontationsrechtsbeeinträchtigung (dazu sogleich) sowie der besonders vorsichtigen Beweiswürdigung (zu letzterem unten 3.) ableiten. [48] In Wahrheit jedoch handelt es sich, wie zu zeigen sein wird, bei beiden genannten Aspekten nicht um Kompensationskriterien, weil die fehlende Verantwortlichkeit der Justiz für das Konfrontationshindernis und eine "besonders sorgfältige Beweiswürdigung" dem Angeklagten A. ja nicht etwa einen als Individualverteidigungsrecht ausübbaren Ersatz für die wegen

des Schweigerechts des K. entgangene Befragungs- und Konfrontationsmöglichkeit gewähren, sondern lediglich um Kriterien für die Beantwortung der Frage, in welcher Weise und unter welchen Voraussetzungen die unkonfrontiert erlangte Aussage des Mitbeschuldigten K. verwertet werden darf, also um Verwertungskriterien. [49] Weil hier davon ausgegangen wurde, dass die mit dem Teilschweigen des K einhergehende Beeinträchtigung des Konfrontationsrechts konventionsrechtlich akzeptabel, ja unabdingbar war und insofern ein sachlicher Grund für das Konfrontationsdefizit vorlag (impossibilium nulla est obligatio), geht es nicht um die prozessualen Folgen einer nicht konventionsgemäßen Beweisgewinnung, [50] sondern um die Gewährleistung von Verfahrensfairness bei der Beweisverwertung – wenn man so will, um die Verlängerung des Konfrontationsrechts in die Beweisverwertungsebene hinein (woran sich wiederum die Einbettung des Konfrontationrechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK in das Gesamtrecht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zeigt). Um es vorwegzunehmen: Bei unkonfrontierten Aussagen von Mitbeschuldigten kann nur ein Beweisverwertungsverbot der in die Beweisverwertung hinein verlängerten Konfrontationsrecht Rechnung tragen; belastende Mitbeschuldigtenaussagen dürfen also ohne Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nur verwertet werden, wenn der Angeklagte bzw. sein Verteidiger die Möglichkeit effektiver Konfrontation hatten.

a) Zur Kriterienwahl des BGH

Zunächst entspricht es nicht (mehr) dem aktuellen Stand der EGMR-Rechtsprechung, dass es für "Verfahrensfairness insgesamt", wie der BGH meint, "insbesondere darauf an(kommt), ob der Umstand, dass der Angeklagte keine Gelegenheit zur konfrontativen Befragung hatte, der Justiz zuzurechnen ist". [51] Zwar hat der EGMR die Verwertung einer seitens des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers völlig unkonfrontierten Zeugenaussage bisher nicht rundheraus abgelehnt, sondern in Einzelfällen zugelassen, wenn die Verteidigung eine Stellungnahme zu der unkonfrontierten Aussage einreichen konnte, neben der Aussage weitere sie stützende Belastungsindizien vorhanden waren und die Aussage zum Gegenstand einer besonders vorsichtigen ("extreme care") Beweiswürdigung gemacht wurde. [52] Das soll nach der höchst fragwürdigen, mit denkbar knapper Mehrheit gefällten Entscheidung Haas nunmehr auch dann gelten, wenn eine Verurteilung in entscheidendem Maße auf der unkonfrontierten Aussage beruht, [53] was allein damit begründet wird, dass die Verantwortung für die fehlender Konfrontierbarkeit nicht der Staat trage, wenn sich ein Zeuge bzw. Mitbeschuldigter auf sein Zeugnisverweigerungs- bzw. Schweigerecht beruft. Für die vorliegend relevante Besonderheit, dass es sich bei der nichtkonfrontierten Zeugenaussage um die eines mitbeschuldigten Belastungszeugen handelt, galt jedoch – auch das hat der BGH in der vorliegenden Entscheidung übersehen – bis dato der Fall Lucà [54] als leading case, in dem der EGMR über die BGH HRRS 2009 Nr. 803 ähnelnden Konstellation eines nur im Ermittlungsverfahren den Beschwerdeführer belastenden, ansonsten jedoch schweigenden Mitbeschuldigten zu befinden hatte. Es verwundert daher, dass der BGH sich zu den dort aufgestellten Beschränkungen des "Lucà-Tests" mit keiner Silbe verhalten hat und nur lapidar auf die Fundstelle der Haas-Entscheidung des EGMR verwiesen hat. Im Fall Lucà hatte der Gerichtshof entschieden, dass Bedürfnisse des Zeugenschutzes den Verzicht auf eine Aussage des Zeugen in einer öffentlicher Hauptverhandlung rechtfertigen können, "sofern dem Angeklagten eine adäquate und angemessene Gelegenheit gegeben worden ist, die Angaben auf die Probe zu stellen", jedoch seien die Verteidigungsrechte "dann, wenn eine Verurteilung allein oder zu einem entscheidendem Grad auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist". [55] Dies gelte "unbeschadet dessen, ob" die Aussage "von einem Zeugen im engeren Sinne oder von einen Mitangeklagten gemacht worden ist". [56]

In der Lucà-Entscheidung steht kein Jota davon zu lesen, dass es für die Ausgleichsfähigkeit eines Eingriffs in das Konfrontationsrechts darauf ankommen soll, inwieweit die Justiz für den die Konfrontation hindernden Umstand verantwortlich ist – zu Recht: Ob ein Beschuldigter, der im Strafverfahren ein Verfahrenssubjekt mit eigenen (Teilhabe‑)Rechten ist und gerade nicht Objekt des Verfahrens, der optimalen Verwirklichung seines Konfrontationsrechts verlustig geht, hängt nicht davon ab, ob die Justiz für die Unmöglichkeit der Konfrontation verantwortlich ist, sondern allein umgekehrt davon, ob er als Beschuldigter qua Verletzung einer prozessualen Obliegenheit selbst dafür verantwortlich ist. [57] Für die Erfüllung der Zielvorgabe des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist der die Strafverfolgung und eine Verurteilung im Strafverfahren betreibende Staat eo ipso verantwortlich (oder, sys-

temfunktional gesprochen, "zuständig"). [58] Schon deshalb kann die Kompensation (oder präziser: das Fehlen der Kompensationsbedürftigkeit, sogleich unten b]) nicht mit der fehlenden justiziellen Verant­wortlichkeit für das Konfrontationshindernis begründet werden; im Anwendungsbereich des staatlicherseits stets zu gewährleistenden Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK existiert eine solche Kategorie gar nicht. Es nimmt denn auch nicht wunder, dass der BGH, soweit ersichtlich, noch nie positiv begründet hat, warum die Verwertung einer Aussage trotz rechtlich unmöglicher Konfrontation zulässig sein soll, nur weil die Justiz "nichts dafür kann", sondern es schlicht vorausgesetzt hat. [59] In der Sache dürfte sich hier eine latent vorhandene verdeckte Verurteilungspräponderanz offenbaren (zu dieser noch unten c].).

b) Die Auswirkungen der Entscheidung im Fall Al-Khawaja und Tahery

Jedenfalls im Ergebnis ebenso hat es nunmehr auch der EGMR in der bereits genannten Entscheidung Al-Khawaja und Tahery aus dem Jahre 2009 gesehen, die damit den Fall Lucà als Leitentscheidung zwar nicht abgelöst, jedenfalls aber ergänzt haben dürfte. In dieser hat der EGMR unter Bezugnahme auf den Fall Doorson [60] die Grenzen der Kompensationsfähigkeit, jenseits derer eine Konfrontationsrechtsbeeinträchtigung nicht mehr ausgeglichen werden kann, recht eng gezogen: [61]

"(I)n the absence of such special circumstances, the Court doubts whether any counterbalancing factors would be sufficient to justify the introduction in evidence of an untested statement which was the sole or decisive basis for the conviction of an applicant. While it is true that the Court has often examined whether the procedures followed in the domestic courts were such as to counterbalance the difficulties caused to the defence, this has been principally in cases of anonymous witnesses whose evidence has not been regarded as decisive and who have been subjected to an examination in some form or other.” [62]

Der Gerichtshof ist hier offenbar der Meinung, dass eine wie auch immer geartete Kompensation der Frage- und Konfrontationsrechtsbeeinträchtigung dort a limine ausscheiden muss, wo eine un­kon­frontierte Zeugenaussage die alleinige oder jedenfalls eine entscheidende Grundlage der Verurteilung ("the sole or decisive basis for the conviction”) darstellt. Nur gewissermaßen hilfsweise ("selbst wenn") [63] hat der EGMR erörtert, ob "special circumstances" vorlagen, die einen ausnahmsweisen Rückgriff auf "uncontested evidence" zuließen und – die Frage verneinend – dabei in auffälligem Kontrast zur Praxis des BGH nicht darauf abgestellt, ob eine Verantwortung der Justiz für die mangelnde Überprüfbarkeit der Mitbeschuldigtenaussage besteht, sondern umgekehrt allein die Verantwortlichkeit des Angeklagten für das Konfrontationshindernis geprüft. Der BGH hat also auch insofern die falsche Perspektive gewählt, als er entgegen der jüngsten Rechtsprechung des EGMR die fehlende Verantwortung der Justiz als Kompensationskriterium gewählt hat, anstatt unabhängig davon zu fragen, ob der Angeklagte die fehlende Konfrontierbarkeit zu verantworten hat (womit Fälle der Bedrohung des Zeugen oder des Verzichts durch den Angeklagten gemeint sein dürften [64] ).

c) Fehlende Verantwortlichkeit des Staates bzw. Verantwortlichkeit des Beschuldigten als Kompensationskriterium? Zur Einordnung des Verantwortlichkeitskriteriums

Auch wird man noch grundsätzlicher fragen müssen, ob es sich bei der Frage, in wessen Verant­wortung das Konfrontationshindernis fällt, überhaupt sachlich um ein Kompensationskrite­rium handelt; denn damit wird nicht die aus rechtlichen Gründen unmögliche Konfrontierbarkeit ausge­glichen – schließlich erhält der Angeklagte dadurch keinen Ersatz für die ihm entgehende Ausübung des Konfrontationsrechts –, sondern es wird nur – ungleich prinzipieller und auf der der Kompensation vorgelagerten Ebene der Kompensationsbedürftigkeit – entschieden, dass das Konfrontationshindernis nicht oder jedenfalls wesentlich geringer ins Gewicht fällt als ein Konfrontationsverstoß, der (nach dem BGH) staatlicherseits nicht zu verantworten ist bzw. (nach dem EGMR) den der Angeklagte nicht obliegenheitswidrig herbeigeführt hat. Denn wenn – worauf es, wie dargelegt, allein ankommt – der Kon­frontationsverstoß allein "mit dem Angeklagten selbst heimgeht", [65] also in dessen alleinigen Ver­antwortungsbereich fällt, dann wird es regelmäßig erst gar keiner Kompensationsmaßnahmen (wie einer "besonders sorgfältigen Beweiswürdigung") bedürfen. Umgekehrt heißt das, dass es auf die Möglichkeit der Kompensation mittels einer "besonders vorsichtigen Beweiswürdigung" überhaupt nur dann ankommt, wenn keine staatliche Verantwortlichkeit für den Konfrontationsmangel besteht, [66] liefe doch die Verwertung einer unkonfontiert erlangten Aussage andernfalls auf einen staatlichen Selbstwiderspruch hinaus.

d) Verantwortlichkeit des Justizapparats oder Verantwortlichkeit des Staates als Gesamtheit?

Der Beachtung bedarf weiter, dass die Bewertung des BGH – selbst wenn man seinen Ausgangspunkt teilt, es genüge für die Kompensation des mit der fehlenden Kompensationsfähigkeit einhergehenden Fairnessdefizits, dass die Justiz dafür nicht verantwortlich ist – auch dort zu kurz greifen dürfte, wo der Senat zur Ermittlung einer staatlichen Verantwortlichkeit für die fehlende Konfrontation nur auf eine Verantwortlichkeit der Judikative, also des Justizapparats, abstellt. Das Problem liegt im vorliegenden Fall nicht darin, dass der Kammervorsitzende nicht alles vor dem Hintergrund des Schweigerechts des Mitbeschuldigten K. Akzeptable unternommen hat, sondern sitzt gewissermaßen eine Stufe höher, nämlich dort wo der Staat – der dem Beschuldigten im reformiert-inqui­sitorischen Strafverfahren als Einheit gegenübertritt – die Grundlage für die fehlende Konfrontierbarkeit mit der Schaffung des Schweigerechts auf legislativer Ebene (§ 55 StPO beim mitbeschuldigten Zeugen im formellen Sinne; Art. 6 Abs. 1 EMRK, § 243 Abs. 5 S. 1 StPO) beim Mitbeschuldigten) gelegt hat. Der Staat ist in einem solchen Fall gleichsam in einem höheren Sinne für die fehlende Konfrontierbarkeit des mitbeschuldigten Zeugen verantwortlich, weil er die gesetzlichen Voraussetzungen für das Konfrontationshindernis geschaffen hat, [67] und dass ein ansonsten geständiger Mitbeschuldigter diese staatlicherseits geschaffenen Voraussetzungen mit belastender Wirkung ausnützt, liegt in der Natur der Sache. [68] Der BGH hat also aus einem allzu engen Blickwinkel heraus über die fehlende Verantwortlichkeit des Staates befunden, indem er nur auf die fehlende Verantwortlichkeit der Justiz (Staatsanwaltschaft und Strafgerichtsbarkeit) für den Konfrontationsmangel abgestellt hat.

Hier tut sich ein im Grundsatz "dreipoliges Spannungsfeld" [69] auf zwischen dem Schutz des mitbeschuldigten Zeugen vor Selbstbelastung, dem Recht des von dem Mitangeklagten belasteten Angeklagten auf Konfrontation und Überprüfung der belasteten Aussagen sowie dem das Strafrecht beherrschende, wenngleich nicht um jeden Preis bestehende staatliche Interesse an der Ermittlung der materiellen Wahrheit. Jedoch bedarf diese sehr grobschlächtige Einteilung zumindest für die vorliegend in Rede stehende Fallkonstellation des zunächst aussagenden und belastenden, dann aber schweigenden Mitbeschuldigten der Präzisierung: Da die Beschränkung von Verteidigungsrechten zum Zwecke des Zeugenschutzes – wenn überhaupt – nur dann die Findung der materiellen Wahrheit befördert, wenn es ohne die schützende Maßnahme überhaupt nicht zu einer oder nur zu einer inhaltlich unrichtigen Aussage gekommen wäre, muss bei einem belastend aussagenden Mitbeschuldigten berücksichtigt werden, dass dieser – anders als ein von vornherein bestreitender oder schweigender Angeklagter – stets ein originäres Eigeninteresse daran hat, sich selbst in seiner Aussage in einem möglichst günstigen Licht zu präsentieren und deshalb die anderen Mitangeklagten möglichst stark zu belasten, [70] beispielsweise indem er seine eigenen Tatanteile auf einen Mitangeklagten abwälzt. [71] Man kann dieses Interesse als institutionelle Belastungstendenz eines Mitangeklagten bezeichnen. In solchen Situation würde sich die Versagung des Schweigerechts und die Konfrontation des (teilweise) schweigenden Mitbeschuldigten gewiss positiv auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit auswirken – zumal (anders als ein normaler Zeuge) der Mitangeklagte falsche belastende Angaben machen kann, ohne Strafe aus §§ 153, 154 StGB befürchten zu müssen und die Konfrontation hier als Korrektiv dienen würde. Daher laufen im Falle des belastenden Mitangeklagten die Interessen der Wahrheitsfindung und der Wahrung des Konfrontationsrechts prinzipiell gleich; hier dient also das Verteidigungsrecht neben der Konstituierung der prozessualen Rolle des Beschuldigten zugleich auch der Wahrheitsfindung.

Das mit diesem Interessengleichlauf verbundene "Übergewicht" auf Seiten des Konfrontationsrechts und des Wahrheitsinteresses sollte nun, um es nochmals zu betonen, keinesfalls dazu verführen – horribile dictu! –, das Schweigerecht anzutasten; doch muss die staatliche Strafrechtspflege dem Umstand, dass die persönliche Situation eines belastenden Mitangeklagten diesen zur Beeinträchtigung des hehren Ziels der Wahrheitsfindung geradezu anhält, der Bedeutung dieses Befundes entsprechend berücksichtigen; einen "sachlichen Grund" für die Beeinträchtigung des Konfrontationsrechts gibt das Schweigerecht nämlich nur auf der Primärebene, wo die Mitbeschuldigtenkonfrontation dem Schweigerecht des K. weichen muss (Art. 6 Abs. 1 EMRK), nicht aber dafür, die unkonfrontiert erlangte Aussage anschließend auf der Sekundärebene zu verwerten und den geminderten Be-

weiswert nur auf der Tertiärebene der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Dass der Staat aus einem menschenrechtlich unabweisbaren Grund ein Schweigerecht gewährt, darf folglich nicht dazu führen, dass die mit diesem einhergehenden Beseitigung des Konfrontationsrechts auf Seiten eines dadurch belasteten und insoweit verteidigungsunfähigen Mitangeklagten auf der Sekundärebene der Beweisverwertung folgenlos bleibt (dazu sogleich 3.).

Für den hier in Rede stehende Spezialfall der Verwertung einer belastenden Mitbeschuldigtenaussage lässt sich die Existenzberechtigung des Kriteriums der fehlenden staatlichen Verantwortlichkeit zusätzlich mit der prinzipiellen Erwägung in Frage stellen, dass von einer solchen Beschränkung des Konfrontationsrechts gegenüber dem belastenden Mitbeschuldigtenaussagen nicht nur – bedenklich genug – die Sphäre des Angeklagten betroffen ist, sondern wegen des Interessengleichlaufs auch das staatliche Strafverfolgungsinteresse der Wahrheitsermittlung. [72] Warum dieses zurücktreten soll, wenn das Ermittlungshindernis der rechtlichen Unkonfrontierbarkeit (angeblich und nach welchen Kriterien auch immer) nicht in den Verantwortungsbereich des Staates fällt, ist noch weniger erklärbar als die Eskamotierung des Verteidigungsinteresses des Beschuldigten.

3. Kompensationsfähigkeit der fehlenden Konfrontierbarkeit durch das Korrektiv einer "besonders sorgfältigen" oder "besonders vorsichtigen" Beweiswürdigung?

Über die fehlende Verantwortlichkeit der Justiz für das Konfrontationshindernis hinaus hat der BGH ein weiteres Kompensationskriterium darin gesehen, dass die Kammer den Konfrontationsmangel "im Rahmen der Beweiswürdigung ausreichend kompensiert" habe. [73] Hintergrund dieser apodiktischen und nicht weiter begründeten, sondern mit einem bloßen Verweis auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts versehenen Äußerung ist die für die deutsche Rechtsprechung typische Sichtweise, Beweiserhebungsfehler oder sonstige Ungereimtheiten im Verfahrensablauf – die, wie der vorliegende Verfahrenssachverhalt zeigt, nicht unbedingt verfahrensfehlerhaft sein müssen, denn die Gewährung des Schweigerechts des K. beruhte ja auf einem sachlichen Grund (Art. 6 Abs. 1 EMRK) – auf Ebene der Beweiswürdigung "hinwegwürdigen" zu können, indem dem Beweismittel auf der ein geringeres Gewicht beigemessen wird, es also im Beweiswert herabgestuft wird. [74] Angesichts der Unterschiedlichkeit der von dieser Herangehensweise erfassten Fallkonstellationen [75] wird überbegriffsartig von sog. "Beweiswürdigungslösung" gesprochen. [76] Im hier interessierenden Zusammenhang hat der BGH in einer jüngeren Entscheidung ausgeführt:

"Kann der Angeklagte … sein durch Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK garantiertes Recht, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, nicht ausüben, weil diesem ein … Auskunftsverweigerungsrecht zugestanden wird, muss dieser Umstand schon deshalb bei der Beweiswürdigung bedacht werden, weil die durch die Vernehmung der Verhörsperson eingeführte Aussage bei Fehlen eines kontradiktorischen Verhörs nur beschränkt hinterfragt und vervollständigt werden kann". [77]

Wie der vorliegende Verfahrenssachverhalt zeigt, muss es nicht unbedingt ein Verfahrensfehler sein, der auf der Beweiswürdigungsebene beseitigt werden soll – die Gewährung des Schweigerechts des K. beruhte ja auf einem sachlichen Grund (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und war allein für sich genommen nicht konventionsrechtsfehlerhaft, sondern, wie zu zeigen sein wird, nur in Verbindung mit der anschließenden Verwertung der unkonfrontierten Aussage. Die Einwände gegen die Beweiswürdigungslösung liegen denn auch nicht nur auf der vordergründigen und hier nicht einschlägigen Ebene der Außerachtlassung eines geschehenen und den Urteilsinhalt mitprägenden (§ 337 Abs. 1 StPO) Verfahrensfehlers nach deut­schem Strafprozessrecht (der wegen der reduzierten Gesamtbetrachtungsperspektive des EGMR sowieso nichts über eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMR aussagen würde); sie sind vielmehr prinzipieller Natur (so dass es auch nichts verschlägt, dass der BGH den genauen Inhalt der Kompensation "im Rahmen der Beweiswürdigung" nicht mitteilt):

a) Zur Unmethodik der "besonders vorsichtigen Beweiswürdigung" im Allgemeinen

Zunächst ist schon nicht vorstellbar, wie eine "besonders sorgfältige" bzw. "besonders vorsichtige" Be­weiswürdi­gung im Umgang mit der unkonfrontiert zustande gekommenen Aussage in praxi durch­geführt werden soll und was man sich darunter vorzustellen hat. Schließlich würde sich kein Tat­richter nachsagen lassen wollen, Beweismittel, die ohne Beeinträchtigung des Konfrontations­rechts zustande gekommen sind, nicht "besonders sorgfältig" bzw. nicht "besonders vorsichtig" ge­wür­digt zu haben. Soll ein Tatgericht bei auf korrektem Wege erlangten Beweismitteln etwa nur eine Be­weiswürdigung "mittlerer Art und Güte" schulden, bei unkonfrontierten

hingegen eine "Güteklasse-A-Beweiswürdigung"? Verlässliche Kriterien für besondere Sorgfalt oder Zurückhaltung bei der Beweiswürdigung hat die Rechtsprechung bislang nicht entwickelt. [78] Allenfalls kann man die Rede von der "besonders sorgfältigen" bzw. "besonders vorsichtigen" Beweiswürdigung – auf unseren Fall angewendet – dahin deuten, dass einer unkonfrontiert zustande gekommen Mitbeschuldigtenaussage minderer Beweiswert zukommen soll; [79] warum sie aber überhaupt in die Beweiswürdigung eingestellt werden soll, obwohl sie nicht den Regelbedingungen des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK genügt, ist damit noch nicht begründet. Die Rede von der "besonderen Sorgfalt" oder dem an die Beweiswürdigung anzulegenden "besonders strengen Maßstab" erweckt in diesem Zusammenhang zwar den Eindruck, mit dem Korrektiv sei eine besondere Absicherung praeter legem geschaffen worden, in Wahrheit handelt es sich aber um eine bloße "Beschwichtigungsformel", [80] weil das die unkonfrontierte Aussage mit wenn auch vermindertem Beweiswert ansetzende Tatgericht von der Richtigkeit des Aussageninhalts gleichwohl überzeugt sein muss, um darauf eine Verurteilung stützen zu können; dies wiederum ist nur möglich, wenn andere Beweismittel den Inhalt der Aussage mit hinreichender Sicherheit stützen. Bei einer solchen Sachlage aber hat die unkonfrontierte Aussage die Bestätigung durch andere Beweismittel ohnehin nicht nötig. [81] Dass dieses Evidenzergebnis der (deutschen [82] ) höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang verborgen geblieben ist und sie eine unkonfrontierte Zeugenaussage gar als ausschlaggebendes, maßgebliches Hauptbeweismittel akzeptiert, solange sie nur durch andere, ergänzende Hilfsbeweismittel gestützt, bestätigt oder abgerundet werden, [83] dürfte daran liegen, dass der BGH über den bloßen formalen Verweis auf die vom EGMR für erforderlich gehaltenen Kriterien sich noch nie inhaltlich mit ebendiesen Kriterien oder gar den Entwicklungen zur Verwertbarkeit unkonfrontiert zustande gekommener Zeugenaussagen in der jüngeren EGMR-Rechtspre­chung auseinandergesetzt hat. [84]

Ganz ähnlich wie hier hat es – schon vor der Entscheidung im Fall Al-Khawaja und Tahery – auf der Grundlage seiner Gesamtbetrachtungsperspektive und damit zumindest im Ergebnis auch der EGMR beurteilt. Zwar hat der Gerichtshof bisweilen – vor allem in der Fallgruppe des den staatlichen Behörden trotz zureichender Bemühungen unerreichbaren Zeugen – die Zuziehung und Verwertung einer unkonfrontierten (zumeist im Ermittlungsverfahren getätigten) Zeugenaussage gestattet, sofern die Verteidigung zu der betreffenden Aussage Stellung beziehen konnte und sie einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung unterzogen wurde ("extreme care"). [85] Jedoch verlangt der EGMR in gefestigter Rechtsprechung seit dem Fall Doorson zusätzlich, dass eine unkonfrontierte Aussage allenfalls als ergänzendes Beweismittel, nicht aber als alleiniges und auch nicht als (mit‑)entscheidendes ("solely or to a decisive extent") das Urteil stützen darf. [86] Entgegen sein­er textbausteinartig geäußerten, auf den oben dargelegten (angeblichen) judicial self restraint zurückzuführenden Grundposition, dass die Beweiswürdigung der nationalen Jurisdiktion obliege, [87] überprüft der EGMR hier also sehr wohl, in welchem Maße und mit welcher Gewichtung eine unkonfrontierte Aussage in das tatrichterliche Urteil eingeflossen ist. [88] Diese Haltung des EGMR wurde manchenorts (auch ohne Bezugnahme auf die neueste Rechtsprechung in Al-Khawaja und Tahery) unter Bezugnahme auf die die Voraussetzungen noch verschärfende Entscheidung des Gerichtshofs im Fall Visser, wonach eine unkonfrontierte Aussage "not in any respect decisive", [89] also in keiner Hinsicht entscheidend sein dürfe, als ein faktisches Beweisverwertungsverbot gedeutet – "ein Beweis, der in keiner Weise maßgeblich sein darf, ist wertlos und überflüssig", hat Renzikowski [90] konstatiert. Auch wenn man eine solche Sicht der Verwertbarkeit von unkonfrontiert zustande gekommenen belastenden Aus-

sagen angesichts der wechselhaften Praxis und der eklektizistischen, von Fall zu Fall schwankenden Kriterienwahl des EGMR für überoptimistisch hält, ist diese Deutung fraglos sachlich richtig: "Dass (und ggf. in welchem Maße, J.D.-N.) auch anderes Belastungsmaterial vorlag, ist nicht der entscheidende Punkt. Es scheint, dass es ohne die Verwendung der Zeugenaussage zu keiner Verurteilung gekommen wäre. Anderenfalls wäre es nicht notwendig gewesen, die Aussage zuzulassen", haben die Richter Walsh, MacDonald und Palm in ihrem Sondervotum zum Fall Artner geäußert. [91]

In der Tat wäre es eine protestatio facto contraria, wollte ein nationales Gericht, das eine unkonfrontierte Zeugen- oder Mitbeschuldigten­aussage verwertet hat, sich darauf berufen, die Aussage sei nicht entscheidend gewesen; entweder reichen die anderen Beweismittel für einen Schuldspruch aus – dann kann man auf die unkonfrontierte Aussage getrost verzichten –, oder sie bilden keine hinreichende Verurteilungsgrundlage – dann handelt es sich bei der unkonfrontierten Aussage um ein Beweismittel, auf dem die Verurteilung in einem entscheidenden Maße ("to a decisive degree" [92]) beruht. [93] Hat der Tatrichter jedoch die unkonfrontierte Aussage trotz ihrer Überflüssigkeit verwertet, so führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass damit ein ohne hinreichende Verteidigungsmöglichkeit des Angeklagten erlangtes Beweismittel in die Verurteilungsgrundlage Eingang gefunden hat, das Tatgericht also auf einer – gemessen an dem aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK fließenden Teilhabe­recht [94] – auf einer sehr verkürzten Basis entschieden hat. [95] Gegen diesen Befund verfängt auch die ohnehin hypothetische Erwägung nicht, dass sich die unkonfrontiert zustande gekommene belastende Aussage nicht weiter ausgewirkt habe, weil die übrigen belastenden Beweismittel ja ausgereicht hätten. Denn wenn schon hypothetische Erwägungen angestellt werden, so muss auch Berücksichtigung finden, dass die unterbliebene Konfrontation ja, wäre sie rechtlich möglich gewesen, erheblich entlastende Wirkung hätte haben können, die das Gericht nun gar nicht erst in die Beweiswürdigung einstellen kann. [96] Bereits hierin – und nicht erst in der Frage, wie sich ein durch andere Beweismittel bestätigte unkonfrontierte Aussage in belastender Hinsicht ausgewirkt hat – liegt eine erhebliche Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte des Angeklagten; davon dass das Konfrontationsrecht als Verteidigungsrecht im Kern gewahrt bliebe, kann bei einer solchen Lage der Dinge nicht die Rede sein.

b) Einwände gegen die "Beweiswürdigungslösung" bei der Verwertung von unkonfrontierten belastenden Mitbeschuldigtenaussagen im Besonderen

All die soeben dargelegten Einwände gegen eine "Lösung" des Problems lediglich auf der Ebene der Beweiswürdigung beanspruchen Geltung auch und insbesondere für die vorliegend virulente Konstellation der fehlenden Konfrontierbarkeit von belastenden Aussagen von Mitbeschuldigten. Dies gilt ins­besondere vor dem Hintergrund der oben konstatierten institutionellen Belastungstendenz eines Mitangeklagten – ist dieser der ihm vorgeworfenen und von ihm gestandenen Tat schuldig, so wird er, sofern er nicht von dem belasteten Angeklagten befragt werden kann, gegenüber den Fragen des Gerichts und gegebenenfalls der Staatsanwaltschaft regelmäßig in der Lage sein, wegen der mit seiner Tatbeteiligung verbundenen besonderen Kenntnisse den belastenden Sachverhalt so darzustellen und gegebenenfalls zu manipulieren, dass er aus Sicht des Tatgerichts plausibel erscheint und kaum einen Ansatzpunkt für begründete Zweifel am Aussageinhalt bietet. So ist es bei einem tatbeteiligten Mitbeschuldigten gerade kein besonderes Glaubwürdigkeitsmerkmal, dass nähere Tatumstände präzise beschrieben werden können. Eine ernstzunehmende gerichtliche Glaubwürdigkeitsprüfung der unkonfrontierten, eine latente Manipulationsgefahr in sich tragenden Aussage des belastenden Mitbeschuldigten ist damit schlechterdings ausgeschlossen. [97]

Wird die Verteidigung zur "Kompensation" dieses Konfrontationsmangels mit einer Möglichkeit der Stellungnahme zu der unkonfrontierten Aussage vertröstet, so läuft das lediglich darauf hinaus, dem Angeklagten etwas zu Ausgleichszwecken zu gewähren, worauf er ohnehin stets Anspruch hat (Art. 103 Abs. 1 GG [98]). [99] Einfluss auf die Entstehung des Ergebnisses der Zeugen- bzw. Mitbeschuldigtenvernehmung kommt einer solchen, dem bereits feststehenden "stabilisierten" Beweisergebnis nur reaktiv entgegentretenden Stellungnahme anders als der aktiven Verteidigungsbefugnis des Frage- und Konfrontationsrechts [100] nicht zu [101] – mehr noch: Insbesondere mit

Blick auf das der rechtssoziologischen Forschung geläufige Phänomen des "anchoring" handelt es sich bei der Stellungnahme nach erfolgter Zeugenvernehmung um kaum mehr als eine bloße Gegenvorstellung, die sich kaum eignen dürfte, den schon mit der Anklageerhebung verbundenen und durch das Geständnisverhalten des mitbeschuldigten Belastungszeugen verstärkten Schulterschluss- und Perserveranzeffekten [102] entgegenzuwirken [103] – immerhin ist ja zuvor ein Mitbeschuldigter soziologisch gesprochen "aus seiner prozessualen Rolle gefallen", indem er gestanden und dabei mit der Belastung von Mitangeklagten auch noch "Ross und Reiter benannt" hat, anstatt das ihm nach dem richterlichen Erwartungshorizont zugewiesene Verteidigungsverhalten an den Tag zu legen. Dass eine "besonders vorsichtige Beweiswürdigung" usw. bei einer von kognitiven Dissonanzen gezeichneten Entscheidungsbasis wie einer Hauptverhandlung [104] überhaupt möglich ist, muss deshalb aus sozialpsychologischer Sicht von vornherein in Abrede gestellt werden. Die Annahme, mit einer "Beweiswürdigungslösung" gravierende Einschnitte in ein Verteidigungsrecht ausgleichen zu können, verkennt die "kommunikative Struktur der Hauptverhandlung. [105]

Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Rechtsprechung bei der Verwertung belastender Aussagen von Mitangeklagten gegen andere Angeklagte ohnehin jedenfalls dann eine besonders vorsichtige und kritische Beweiswürdigung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise verlangt, wenn die belastende Aussage (wie zumeist) auf einer Absprache beruht, [106] weil, wie der BGH in seltener Hellsichtigkeit bemerkt, "bei dieser Sachlage unter anderem die Gefahr (besteht), dass die Mitangeklagten den Nichtgeständigen zu Unrecht belasten, weil sie sich dadurch für die eigene Verteidigung Vorteile versprechen. In einem solchen Fall hat der Tatrichter die Geständnisse der anderen Angeklagten kritisch zu würdigen." [107] Wie soll nun das Tatgericht einem etwa hinzutretenden Konfrontationshindernis begegnen? Man stelle sich vor, absprachengemäß sagt einer der Mitangeklagten aus und belastet den anderen schwer, verweigert aber gegenüber dessen Verteidiger die Aussage [108] – soll hier das Tatgericht die zu den einseitigen Belastungstendenzen hinzutretende Beeinträchtigung des Konfrontationsrechts auf der Beweisverwertungsebene durch eine "noch sorgfältigere Beweiswürdigung als sowieso schon" ausgleichen? Jedenfalls wenn der belastenden, aber unkonfrontierten Mitbeschuldigtenaussage eine Absprache zugrunde liegt, gibt die "Beweiswürdigungslösung" dem Angeklagten einmal mehr nichts, was die Rechtsprechung nicht auch ohnedies schon verlangt.

Füglich bezweifelt werden darf schließlich, dass die Vorgaben des EGMR beachtet werden, indem eine unkonfrontierte Mitbeschuldigtenaussage bei der Würdigung überhaupt Berücksichtigung finden kann, und sei es mit erheblich gemindertem Beweiswert – auch hier ist die Rezeption der menschenrechtlichen Vorgaben des EGMR durch die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung von "Idiosynkrasie" gekennzeichnet: [109] Spätestens mit der – allerdings noch nicht rechtskräftigen – Entscheidung im Fall Al-Khawaja und Tahery ist der EGMR nämlich zu der schon im Fall Kostovski klar verfochtenen Linie zurückgekehrt, wonach die vorsichtige Beweiswürdigung eines Belastungszeugen "schwerlich als geeigneter Ersatz für eine direkte Beobachtung angesehen werden" kann. [110] Auch dieses nicht weiter begründete Diktum trifft zu, und zwar nicht nur aus tatsächlichen und soziologischen, sondern aus prinzipiellen rechtlichen Gründen selbst dann, wenn die unkonfrontierte Aussage des Mitbeschuldigten weder das einzige noch das in entscheidendem Ausmaß bedeutsame Beweismittel ist: Der Substituierung der unkonfrontierten Aussage durch die "Beweiswürdigungslösung" kommt – ähnlich wie der Stellungnahmeberech­ti­gung der Verteidigung – keine ausgleichende Funktion zu, [111] weil sie dem von einem Mitbeschuldigten belasteten Angeklagten keine Teilhabe an der Verurteilungsbasis im Wege der Einflussnahme auf die Aussage selbst ermöglicht, [112] sondern ihm nur das gewährt, was ihm wegen der im Strafverfahren

gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK geltenden Unschuldsvermutung ohnedies zusteht, nämlich dass der verurteilende Staat ein Mindestmaß an verfahrensgerecht erlangten Tatbeweisen vorweisen kann. [113] Daher enthält die vermeintliche Kompensation des Konfrontationsmangels mittels einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung nicht mehr als den Verweis darauf, "dass immerhin nicht noch weitere Rechte des Art. 6 EMRK entzogen worden sind." [114] Ein Staat, der einem Beschuldigten im Strafverfahren als "Ausgleich" etwas gibt, das zu gewähren er ohnehin verpflichtet ist, gibt dem Beschuldigten nicht einmal Steine statt Brot – er gibt ihm gar nichts.

Diese Einsicht lässt sich – unter Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG – auch von der Stellung des Angeklagten im Strafverfahren als einem Subjekt mit eigenen verfahrensmäßigen Rechten her formulieren, indem man mit Wohlers [115] betont, dass ein durch eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland konstituierter Staat, der "den Eigenwert der Person als normative Grundlage der Gesellschaft" anerkennt, auch und gerade im Strafverfahren den Zweck der Wahrheitsfindung – dem die Verwertbarkeit einer mit latenter Belastungstendenz versehenen Mitbeschuldigtenaussage sowieso eher im Weg stünde als ihm dienlich wäre – nicht mit allen Mitteln verfolgen kann. Wenn nun der Staat der eigenen prinzipiellen Allmacht aus dem normativen Grund der Achtung der verfahrensrechtlichen Subjektstellung des Beschuldigten heraus selbst Grenzen setzt, ist es mit dieser Subjektstel­lung nicht zu vereinbaren, dass die Justizorgane im Wege der freien "besonders vorsichtigen" Beweiswürdigung ein Recht, das nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK der eigenverantwortlichen Wahrnehmung des Beschuldigten zugewiesen ist, in loco rei usurpieren. [116] Eine solche Bevormundung macht den Beschuldigten im Hinblick auf die von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK beabsichtigte Infragestellung einer belastenden Aussage zu einem Objekt des Verfahrens; der Beschuldigte wird damit nicht als Subjekt im Verfahren behandelt, sondern (mindestens partiell) als Objekt des Verfahrens verhandelt. Das Fehlen jeder Befragungs- und Konfrontationsmöglichkeit gegenüber dem belastend aussagenden Mitangeklagten bewirkt eben mit den Worten Sommers mehr als "lediglich eine gradu­ell messbare Minimierung gerichtlicher Wahrheitssuche", es ist "kein quantitatives Problem im Rah­men der Bewertung von Beweisen" sondern "berührt … die zugrunde liegenden Qualität rechtsstaatlichen Prozessierens." [117]

c) Weil´s der Wahrheitsfindung dient: Annahme eines selbständigen Verwertungsverbotes aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK hinsichtlich unkonfrontierter Mitbeschuldigtenaussagen

Ist demnach die richterliche "Allzweckwaffe" der besonders vorsichtigen Beweiswürdigung auch unter Berücksichtigung einer "Gegenvorstellung" der Verteidigung kein kompensationsfähiges "Weniger" gegenüber der konfrontativen Befragung eines Mitbeschuldigten, [118] sondern konfrontationsrechtlich ein bloßes "nullum", und ist sie auch nicht in der Lage, der prozeduralen Zielvorgabe eines legitimierend wirkenden fairen Verhandelns in verobjektivierbarer Weise im Sinne eines "Justice must not only be done, it must also be seen to be done" [119] auf die Sprünge zu helfen, so kann weder rechtstatsächlich-soziologisch noch menschrechtstheoretisch davon die Rede sein, dass im Falle der fehlenden Konfrontierbarkeit eines Mitangeklagten die von der Rechtsprechung des BGH praktizierte "Beweiswürdigungslösung" einen Residualbestand an Konfrontationsberechtigung des Angeklagten achten würde. [120] Deshalb muss im Falle eines gegenüber dem belasteten Mitangeklagten bzw. dessen Verteidiger das Gericht von Konventions wegen die Unmöglichkeit der Bildung einer dem Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK Rechung tragenden Überzeugungsgrundlage einräumen. Prozedural lässt sich dies allein mittels der Annahme eines Verbots der Verwertung der unkonfrontiert zustande gekommenen Mitbe­schuldigten­aussage bewerkstelligen. Für die Annahme eines solchen de iure – und nicht, wie bisweilen angenommen, [121] lediglich de facto – bestehenden Beweisverwertungsverbots streitet auch und gerade die Überlegung, [122] dass es "weiche" Verfahrensnebenentscheidungen wie die Anordnung von U-Haft gibt, bei denen sich in der bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts vorzunehmenden Prognose eine geminderte Beweisbedeu-

tung kaum je auswirken wird, [123] ein Beweisverwertungsverbot hingegen von vornherein in die U-Haft-Entscheidung einzustellen ist und damit der durch die Anordnung von Untersuchungshaft beeinträchtigten Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) in besonderem Maße zur Geltung verhilft.

Einem solchen Verwertungsverbot bezüglich unkonfrontierter belastender Aussagen von Mitbeschuldigten stehen weder der in § 261 StPO niedergelegte Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung noch die Pflicht zur Wahrheitserforschung aus § 244 Abs. 2 StPO entgegen – im Gegenteil. Zwar hat der BGH (mit bereichsüberschreitendem Anspruch) ausgeführt, "dem Strafverfahrensrecht (ist) ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich ziehe, fremd." Es müsse "beachtet werden, dass die Annahme eines Verwertungsverbots, auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung um jeden Preis gerichtet ist, eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist." [124] Konsequenz einer solchen Wahrheitsermittlungspflicht wäre die Einstellung der in casu durch die unkonfrontierte Vernehmung erlangten Mitbeschuldigtenaussage in die Beweiswürdigung (§ 261 StPO).

aa) Indes treffen – zum ersten – derlei Erwägungen den vorliegenden Fall gar nicht, denn wie ausgeführt ist höchst zweifelhaft, dass die Verwertung der Aussage eines latent belastungstendenziösen Mitbeschuldigten, den die Verteidigung nicht "ins Gebet nehmen" konnte, sich auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit förderlich auswirkt; im Gegenteil steht zu erwarten, dass damit einseitig gesetzte materielle Unwahrheit zur Verurteilungsgrundlage wird, indem sich der Mitbeschuldigte zum "Herrn des Verfahrens" aufschwingt, wenn ihm die Befugnis zugestanden wird, dem Gericht in wesentlichen Punkten einen von der Verteidigung nicht überprüfbaren Sachverhalt unterzuschieben. [125] Eine Kammer, die – und mag es, auf welche Weise auch immer, "besonders umsichtig" geschehen – eine solche geständige und belastende, aber unkonfrontierte Mitbeschuldigtenaussage verwertet, greift, um in einem Bild Wollwebers [126] zu bleiben, im günstigsten Falle "nach der halben Wahrheit", die im Bereich des auf Verfahrensfairness basierenden Teilhaberechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK eben nicht die "bessere” Wahrheit ist. Dass die vom BGH in seiner oben zitierten Aussage angestrebte Limitierung von Fehlerfolgen ein "legitimes Anliegen für die Dogmatik der Beweisverwertungsverbote darstellt", mag sein (und selbst darüber kann man bekanntlich streiten), indes darf sie nicht Selbstzweck sein, sondern ist in ihrer Existenzberechtigung an die Verfahrensoptimierung gebunden, die wiederum untrennbar mit der Beweismittelqualität zusammenhängt – und eine nicht weiter hinterfragbare belastende Aussage eines geständigen Mitangeklagten ist von vornherein von sehr überschaubarer Qualität, die Verwertung einer solchen Aussage in puncto Wahrheitsfindung mithin kontraindiziert. Deshalb ist der Wahrheitsfindung mit der Unverwertbarkeit unkonfrontierter Mitbeschuldigtenaussagen wesentlich besser gedient als mit der kontur- und maßstabslosen [127] "Beweiswürdigungslösung". [128]

bb) Zweitens – und noch grundsätzlicher – ist das zitierte Diktum des BGH schon deshalb mit äußerster Vorsicht zu genießen, weil das dort zugrunde gelegte Wahrheitsverständnis nur sehr eingeschränkt dem der Strafprozessordnung entspricht. Gerade weil Wahrheitserforschung nach der StPO nicht um jeden Preis betrieben werden darf, enthält die StPO ja Beweisverwertungsverbote (z.B. §§ 136a Abs. 3 S. 2, 252 StPO). Man kann von materieller Wahrheit als einem oder gar dem Ziel des Strafprozesses also nur insoweit sprechen, als sie durch eine prozessordnungsgemäße Verhandlung und in diesem Bereich durch zahlreiche weitere ungeschriebene Beweisverwertungsverbote konstituiert wird. [129]

Daher lässt sich die Frage nach der prozedural gebotenen Art und Weise der Wahrheitsfindung und dem der Rechtsanwendung zugrunde zu legenden materiell wahren Urteilssachverhalt von vornherein nicht unabhängig von der Verfahrensordnung beantworten. Entsteht demnach "richtige Erkenntnis nicht ausschließlich durch Verfahren, aber ganz sicher auch nicht ohne Verfahren", [130] so kann das Postulat strafprozeduraler Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 EMRK), dessen Teilaspekt das Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 EMRK darstellt, nicht gegen die Pflicht zur Wahrheitserforschung – etwa im Sinne eines Zielkonfliktes [131] – in Stellung gebracht und abgewogen werden. Wer hingegen glaubt, das Erfordernis der Einhaltung bestimmter schützender Verfahrensförmlichkeit in Abhängigkeit vom Verfahrensziel der Wahrheitsfindung bestimmen zu können, der macht den zweiten Schritt vor dem ersten, indem er Wahrheitserforschung betreibt, die überhaupt erst unter der Bedingung der Beachtung der schützenden Verfahrensförmlichkeiten stattfinden darf und kann. [132]

Dass damit Aspekte der Verfahrensfairness von vornherein der Abwägung entzogen sind, die Einhaltung der Verfahrensfairness vielmehr den Rahmen bildet, in­nerhalb dessen sich materielle Wahrheit und Gerechtigkeit ausschließlich verwirklichen können, wird in der Rechtsprechung stets übersehen; hier dürfte letztlich der Geburtsfehler der Beweiswürdigungslösung liegen. So wird der Umstand, dass im Bereich der unkonfron­tier­ten Mitbeschuldigtenaussagen der Gesetzgeber geschwiegen hat und sich Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK keine (etwa § 136a Abs. 3 S. 2 StPO vergleichbare) ausdrückliche Anordnung eines Beweisverwer­tungsverbotes entnehmen lässt, von der deutschen Revisionsrechtsprechung unter Verkennung der menschenrechtlichen Vorgaben zum Anlass genommen, eine eindeutige Stellungnahme im Sinne eines Beweisverwertungsverbotes zu vermeiden. Das BVerfG hat die "Beweiswürdigungslösung" jüngst für verfassungsgemäß erklärt, in dem es ausgeführt hat:

"Verfassungsrechtlich ist diese "Beweiswürdigungslösung" angesichts der für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zentralen Idee der Gerechtigkeit, an der sie sich orientiert und an der sich jedwede Rechtspflege messen lassen muss …, nicht zu beanstanden." [133]

Andernorts, aber ebenfalls mit Bezug zur "Beweiswürdigungslösung" heißt es noch deutlicher:

"Hierbei handelt es sich um Erwägungen, die die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in den Blick nehmen und daher geeignet sind, das aus dem Fairnessgebot folgende Fragerecht des Beschuldigten zu begrenzen". [134]

In beiden eher beiläufig vorgetragenen, nicht weiter begründeten Bemerkungen kommt zum Ausdruck, dass die "Beweiswürdigungslösung" "materiell in der richterlichen Sicht des Verhältnisses von effektiver Strafverfolgung und fairem Verfahren und im damit zusammenhängenden Selbstverständnis des Inquisitionsprozesses" wurzelt. [135] Weil – ebenso wie der fair-trial-Grundsatz – auch die staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung einer effektiven Strafrechtspflege aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird, [136] könnten beide – der "Idee der Gerechtigkeit" wegen – miteinander abgewogen werden [137] bzw. einander begrenzen. [138] Zur Austarierung sei aus Gewaltenteilungsgründen primär der Gesetzgeber berufen. [139] Solange dieser schweigt, vermeidet die Rechtsprechung strikte Alles-oder-Nichts-Lösungen [140] und präferiert flexible Lösungen mit einer Interessenabwägung im Einzelfall – wie die "Beweiswürdigungslösung". Fezer hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die damit prinzipiell bestehen bleibende (vermeintliche) "Beweisbarkeit" im Einzelfall von der Rechtsprechung als "sachgerecht" [141] angesehen wird, weil damit die eindeutigen Auswirkungen eines Beweisverwertungsverbotes zugunsten der "Effektivität der Strafverfolgung" relativiert werden können. [142] Abgesehen davon, dass mit diesem völlig unbestimmten Begriff nur einige weitere Topoi in einer Zusammenschau der strafprozeduralen Ziele Wahrheit, Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und effektiver Verbrechen-

bekämpfung zusammengefasst werden, [143] lässt sich auch konstatieren, dass hier eine eindeutige, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung latent vorherrschende "Verurteilungspräponderanz" durchschimmert, deren Berücksichtigung als verfahrensrechtsextern gebildete Überzeugung im Verfahren den Wert des Verfahrens als solches und seiner Förmlichkeiten desavouiert. Als "gerecht" ausgegeben werden verfahrensrechtsextern erwünschte Verurteilungen, perhorresziert werden sachlich "ungerechtfertigte Freisprüche", die es mit einer flexiblen Handhabung und der prinzipiellen Verwertbarkeit der unkonfrontierten Aussage (im hier besprochenen Fall des Mitangeklagten K.) zu verhindern gilt. [144] Wie sich insbesondere an der Argumentationsfigur der fehlenden staatlichen Verantwortlichkeit für das Konfrontationshindernis, aber auch an der "Wachsweichheit" der "Beweiswürdigungslösung" und der sie stützenden Schleiflackrhetorik des BVerfG zur "Idee der Gerechtigkeit" zeigt, läuft dies darauf hinaus, dem Angeklagten ein Fehlverurteilungsrisiko aufzuerlegen, [145] das schon nach allgemeinen Regeln die Gesellschaft zu tragen hat [146] und das auch angesichts des in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zum Ausdruck gekommenen Prinzips [147] nicht zu Lasten des Angeklagten gehen darf. Um die mit dieser Unmethode verbundene Erosion von Verteidigungsrechten zu vermeiden, ist ein klar handhabbares Verbot der Verwertung von unkonfrontiert zustande gekommenen belastenden Mitbeschuldigtenaussagen unumgänglich.

cc) Ist folglich die "Beweiswürdigungslösung" nach alledem schon ihrem Ansatz nach weder prinzipiell mit den Grundlagen des Strafprozesses vereinbar (oben bb]) noch – für den vorliegenden Fall relevant – die Verwertung einer unkonfrontierten belastenden Mitbeschuldigtenaus­sage der Erforschung der "materiellen Wahrheit" überhaupt dienlich (aa]), so lässt sich ein Beweisverwertungsverbot für den vorliegenden Fall mit einem Blick auf die Grundlagen der Beweisverwertungsdogmatik legitimieren: Die Differenzierung zwischen gebundener primärer Beweiserhebungs- sowie sekundärer -verwer­tungsebene einerseits und tertiärer freier Beweiswürdigungsebene andererseits soll sicherstellen, dass – etwa wegen Defiziten bei der Beweiserhebung (in casu: Fehlende Konfrontierbarkeit des K.) – in die tertiäre freie richterliche Beweiswürdigung bestimmte Erkenntnisse von vorneherein nicht einfließen, die, um es mit Gleß zu sagen, "infolge des Fehlens strenger Regeln (scil. der Beweiswürdigung) … doch (maßgeblich) in der Urteilsfindung durchschlagen", [148] obwohl man sie für die Urteilsfindung aus guten übergeordneten Gründen nicht maßgebend sein lassen möchte. Solche die Berücksichtigung auf der Beweiswürdigungsebene hindernden übergeordneten Gesichtspunkte sind im vorliegenden Fall darin zu finden, dass die Wahrheitserforschung die Verwertung unkonfrontierter belastender Mitbeschuldigten­aussagen nicht verlangt und es in einem auf Verdachtsklärung angelegten Strafverfahren auch sonst keinen sachlichen Grund für die mit der Verwertung verbundene Beeinträchtigung der Findung der materiellen Wahrheit und der Beschuldigtenrechte aus Art. 6 EMRK gibt. Die Konsequenz der Forderung des EGMR, dass eine konfrontationslos erlangte belastende Zeugenaussage in keiner Weise entscheidend oder maßgeblich sein darf, muss in der deutschen Beweisverwertungsdogmatik im Hinblick auf belastende Mitbeschuldigten­aussagen also ein Verwertungsverbot sein; [149] andernfalls würde "einer gewissen Kategorie von Zeugen (scil. hier einem geständigen mitbeschuldigten Belastungszeugen, J. D.-N.) Privilegien auf Kosten des Angeklagten … eingeräumt werden. In diesem Fall gibt es daher nur die Alternative, dass die Zeugen in der Hauptverhandlung aussagten und sich damit bereit erklärten, auch von der Verteidigung befragt zu werden oder dass ihre Aussagen völlig unbeachtet bleiben", hat es Trechsel in seinem Sondervotum zum Fall Unterpertinger auf den Punkt gebracht. Seiner Aussage ist nur hinzuzufügen, dass sie für die Konstellation des mitbeschuldigten Belastungszeugen erst recht Geltung beansprucht.

IV. Fazit

Der BGH hat eine gute Chance verstreichen lassen, die Vorgaben des EGMR zum Maßstab des Umgang der deutschen Tatgerichte mit dem Konfrontationsrecht zu erheben oder – besser noch – über diese hinausgehend und unter Anlegung des gebotenen eigenen nationalgerichtlichen Prüfungsmaßstabs gleich ein Verwertungsverbot bezüglich unkonfrontierter Mitbeschuldigten­aussagen zu statuieren, eine Option, an der ihn entgegenstehende EGMR-Rechtsprechung angesichts Art. 53 EMRK keinesfalls gehindert hätte. Anstatt dessen hat er sich einmal mehr hinter dem kategorienfehlerhaften Argument der Verfahrensgesamtbetrachtung verschanzt, dabei aber zusätzlich – gleichsam "doppelfehlerhaft" – verkannt, dass man die Verwertung einer unkonfrontierten, mit einer institutionellen Belastungstendenz versehenen Aussage eines mitbeschuldigten Belastungszeugen kaum zum Bestandteil eines insgesamt (noch) fairen Verfahrens machen kann. Abzuwarten bleibt, ob

sich der EGMR mit dem vorliegenden Fall befassen muss und wie der Gerichtshof gegebenenfalls auf der Basis der Gesamtbetrachtungsdoktrin entscheiden wird; jedenfalls für die vorliegende Sonderkonstellation der Verwertung einer unkonfrontiert zustande gekommenen Mitangeklagtenaussage spricht auch unter Berücksichtigung des reduzierten Prüfungsmaßstabs des EGMR nichts gegen ein Beweisverwertungsverbot von Konventions wegen. Insbesondere läge hierin auch keine unzulässige Einmischung in das Beweisrecht der Bundesrepublik Deutschland. Denn um einschätzen zu können, ob ein nationalstaatliches Tatgericht einer unkonfrontierten Aussage entscheidende Bedeutung beigemessen hat, muss der EGMR ja ohnehin einen eigenen "Beweiswürdigungsakt nach Aktenlage" vornehmen, und es ist sehr fraglich, ob die praeter conventionem entwickelten sehr detailierten Vorgaben, derer sich der Gerichtshof zur Prüfung eines Konfrontationsverstoßes bedient, wirklich einen weniger einschneidenden Eingriff in das deutsche Beweisrecht bedeutet als die "klare Kante" eines Beweisverwertungsverbotes. [150] Dem deutschen Beweisrecht mitsamt seiner freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) sind Beweiswürdigungsvorgaben im Sinne von Beweisregeln eben wesentlich fremder als Beweisverwertungsvorgaben. [151]

Darüber hinaus ist der EGMR von der Etablierung eines Beweisverwertungsverbotes de facto seit der Entscheidung im Fall Al-Khawaja und Tahery ohnehin nicht mehr weit entfernt; ein kleiner, wenn auch mutiger Schritt in Straßburg bedeutete einen großen Schritt für die Beschuldigtenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, deren Tat- und Revisionsgerichte zur Durchsetzung ihrer verfahrensrechtsextern zustande gekommenen Schuldüberzeugungen nicht mehr die "Beweiswürdigungslösung" vorschieben könnten. Und schließlich hätte ein Beweisverwertungsverbot für die Verteidigung – und die Strafverfahrenskultur insgesamt – den angenehmen Nebeneffekt, dass in gegen mehrere Beteiligte geführten Absprachenprozessen die Anzahl der unwürdigen "Wettrennen um das erste Geständnis" abnehmen dürfte, [152] wenn sich der Wert eines vorauseilend abgegebenen belastenden Mitbeschuldigtengeständnisses erst in der Feuerprobe der Konfrontation erweisen muss; die Absprachenerfüllung wäre in vielen Fällen abhängig von der Abgabe einer vollumfänglichen, also konfrontierbaren Aussage. Weil dies auch der Wahrheitsfindung dienlich wäre, müssten sich eigentlich auch die die Gralshüter der "materiellen Wahrheit" an den Bundesgerichten dem hier verfochtenen Standpunkt anschließen können.


* Für ihre wertvolle Hilfe bei der Literaturbesorgung gilt der Dank des Verfassers den stud. iur. Anne Huhn, Christian Lüninghöner, Sarah Johanna Horn und Alexander Schiff.

[1] Was nach herrschender Meinung die Verwertung des Inhalts des Geständnisses des K. auch gegen A. nicht hindern soll, sofern es dabei um die dem Geständigen vorgeworfene Tat geht und die dabei relevanten Tatsachen mit dem Anklagevorwurf gegen A. in einem inneren Zusammenhang stehen; vgl. BGHSt 3, 149, 153; Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. (2008), § 254 Rn. 8.

[2] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 3.

[3] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 4 f.

[4] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 7 f.

[5] Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 533.

[6] Beispielsweise beim Verdeckten Ermittler hatte der BGH zu-

nächst nur dem Zeugen vom Hörensagen den Status eines Belastungszeugen zugebilligt, vgl. BGHSt 17, 382, 383; BGH StV 1991, 100, 101.

[7] BVerfG NJW 2007, 204.

[8] So BGH StV 2002, 584 m. krit. Anm. Wohlers; zuvor schon BGHSt 42, 391 m. abl. Anm. Fezer JZ 1997, 1019; OLG Düsseldorf StV 2003, 488.

[9] EGMR Kostovski v. Niederlande Urteil vom 20. November 1989, § 40; Asch v. Österreich, Urteil vom 26. April 1991, § 25 = EuGRZ 1992, 474 = ÖJZ 1991, 517; Artner v. Österreich, Urteil vom 28. August 1992, § 19 = EuGRZ 1992, 476; Haas v. Deutschland, Entscheidung vom 17. November 2005, JR 2006, 289 m. Anm. Gaede = NStZ 2007, 103, 104 m. Anm. Esser.

[10] EGMR Isgrò v. Italien, Urteil vom 19. Februar 1991, § 33; Lucà v. Italien, Urteil vom 27. Februar 2001, §§ 41 ff. = HRRS 2006 Nr. 62; Kostovski v. Niederlande (Fn. 9), § 40 = StV 1990, 481, 482; Asch v. Österreich (Fn. 9), § 25; Craxi v. Italien, Urteil vom 5. Dezember 2002, § 86; so nunmehr auch die deutsche Strafrechtsprechung, vgl. BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 3; BGH JR 2005, 247, 248 m. Anm. Esser; vgl. auch Renzikowski, in: Renzikowski (Hrsg.), Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht (2004), S. 97, 102 f.; Sommer StraFo 2002, 309, 312; Walther HRRS 2004, 310, 312. – Vor dem Hintergrund eines so verstandenen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist der Ausschluss des Angeklagtenkonfrontationsrechts gegenüber Mitbeschuldigten nach § 240 Abs. 2 StPO (entgegen BVerfG NJW 1996, 3408) nicht zu halten, vgl. Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 533.

[11] Zur adversatorischen Provenienz des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK im Kontext der hier interessierenden unterschiedlichen Begriffsdeutung näher Gaede, in: HRRS-Festgabe für Gerhard Fezer, 2008, S. 21, 24 f.

[12] BGH NStZ 2009, 345 m. Anm. Fezer NStZ 2009, 524 = JR 2009, 300 m. Anm. Kudlich.

[13] Vgl. Gless NStZ 2010, 98, 99, wo indes nicht deutlich genug hervorgehoben wird, dass es angesichts Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der gebotenen konventionsfreundlichen Auslegung des § 168c Abs. 1, 2 StPO auf die von der Rechtsprechung bisher abgelehnte Analogiefähigkeit (vgl. BGHSt 42, 391, 396 f.) der Vorschrift gar nicht ankommt.

[14] EGMR Unterpertinger v. Österreich, Urteil vom 24. November 1986, § 31 = NJW 1987, 3068; EGMR Lucà v. Italien (Fn. 10), § 39 ff. = HRRS 2006 Nr. 62; eingehend Walther GA 2003, 204, 212 ff., die das Konfrontationsrecht jedoch im Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör verankert sieht (a.a.O., 219 ff.).

[15] Walther GA 2003, 204, 215; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 607 f.

[16] Vgl. bereits BGH JR 1969, 305, 306, wonach das Fragerecht "bis zur Inhaltslosigkeit verkümmert, wenn … es nicht das … selbstverständliche … Recht einbegriffe, auf die Fragen auch Antworten zu bekommen".

[17] Sondervotum Trechsel zu EGMR Unterpertinger v. Österreich, EuGRZ 1987, 147, 153.

[18] Walther GA 2003, 204, 215.

[19] EGMR Weh v. Österreich, Urteil vom 8. April 2004, JR 2005, 423 m. Anm. Gaede; Murray v. Großbritannien, Urteil vom 8. Februar 1996, § 45; Saunders v. Großbritannien, Urteil vom 17. Dezember 1996, § 68; vgl. ferner Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007), S. 312 ff.

[20] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 8.

[21] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 3.

[22] Vgl. etwa EGMR V. v. Finnland, Urteil vom 24. April 2007, § 73 ("specific aspects"); Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), S. 368 ("Bestandteile"); Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2006), Art. 6 Rn. 88 ("Ausprägungen" des Fairnessgrundsatzes).

[23] EGMR van Mechelen u.a. v. Niederlande, Urteil vom 23. April 1997, § 50 = StV 1997, 617; A.M. v. Italien, Urteil vom 14. Dezember 1999, § 24; Sadak u.a. v. Türkei, Urteil vom 17. Juli 2001, § 63.

[24] EGMR Haas v. Deutschland (Fn. 9), NStZ 2007, 103, 104.

[25] Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 123.

[26] Vgl. Schroeder GA 2003, 293, 295, nach dem "die standardprägende Kraft der Entscheidungen des EGMR erheblich beeinträchtigt" werde; auch biete die "Gesamtbetrachtung" den nationalen Gerichten einen guten Grund, "um Vorgaben des EGMR zu unterlaufen".

[27] Kühne/Nash JZ 2000, 996, 997 f.; Gaede StV 2004, 46, 48 f.; ders./Buermeyer HRRS 2008, 279, 283 f.; Walther GA 2003, 204, 218 ("Weichspül- und Schleuderprogramm"); Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren (2000), S. 103 (Verstoß gegen die "Idee" des Art. 6 EMRK, der nicht Menschenrechte verfahrensmäßig absichere, sondern selbst das zu schützende Menschenrecht darstelle).

[28] Vgl. etwa EGMR Dowsett v. Großbritannien, Urteil vom 24. Juni 2003, § 43; zur Bedeutung im Bereich der Übergriffe in den Bereich der Beweiswürdigung vgl. Trechsel AJP 11 (2003), 1366, 1368; Krauß, V-Leute im Strafprozeß und die Europäische Menschenrechtskonvention, 1999, S. 110.

[29] So Jung GA 2009, 235, 237 m.w.N. in Fn. 18.

[30] Eingehend Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 808 ff., insb. 818: Man könne "nicht davon ausgehen, dass die EMRK den nationalen Prozessordnun­gen nicht ein fair gestaltetes Beweisrecht abverlangt (Hervorhebung original).

[31] Vgl. zu diesem "spirit of minimalism" auch Ashworth, Human Rights and Serious Crimes (2002), S. 4 f., 94 ff.: "avoiding human rights".

[32] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 3: "weil das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war"; Rn. 4: "Prüfung, ob insgesamt ein faires Verfahren vorlag".

[33] Eingehend zur Vorzugswürdigkeit eines integralen, d.h. von einem selbständigen Bestandteil eines Gesamtrechts der Verfahrensfairness ausgehenden Verständnis der Teilrechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 383 ff.

[34] Eingehend Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 442 ff., 447 ff.

[35] Wohlers ZStR 123 (2005), 144, 167 f. – Exemplarisch für die verfehlte "Materialisierung" der nur heuristisch taugenden Gesamtbetrachtungsdoktrin SK-StPO-Paeffgen, Art. 6 EMRK Rn. 83, der die hier interessierende Fallgruppe der belastenden Wirkung unkonfrontierten Schweigens wegen der durchzuführenden Gesamtbetrachtung akzeptieren möchte. Nach welchen sachlichen Kriterien der Verfahrensablauf dabei "gesamtbetrachtet" wird, bleibt im Dunkeln.

[36] Gaede JR 2006, 292, 294.

[37] Vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 384 ff.

[38] Näher dazu Schaden, in: Festschrift für Rill (1995), S. 213, 219 ff. m.w.N.

[39] Zur sog. Fallgruppe additiv begründeter Verletzungen EGMR Barberà u.a. vs. Spanien, Urteil vom 6. Dezember 1988, §§ 67 ff.,

89; Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279, 283; Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 430 f., 447 f.

[40] Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279, 283.

[41] Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 540 f.

[42] Darauf weist Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 541 hin.

[43] Jung GA 2009, 235, 239.

[44] EGMR Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien, Urteil vom 20. Januar 2009, §§ 34, 37 = HRRS 2009 Nr. 459 Rn. 26, 29.

[45] So zutreffend die knappe Einschätzung bei Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 547.

[46] EGMR Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien (Fn. 44), § 34 = HRRS 2009 Nr. 459 Rn. 26.

[47] BVerfG NJW 2001, 2245, 2246 f. (Fall Haas).

[48] Vgl. BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 3: " … weil das

Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war".

[49] So auch Esser NStZ 2007, 106, der der "Beweiswürdigungslösung" des BGH "dogmatische Ungenauigkeit" attestiert.

[50] So aber (zum Fall Haas) Esser NStZ 2007, 106, der damit jedoch die selbständige Integriertheit des Konfrontationsrechts in das Gesamtrecht ignoriert (ähnlich Walther GA 2003, 204, 218 f.); indes ist Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EMRK) nur dann verletzt, wenn Beweiserhebung und -verwertung zusammengenommen unfair waren. Dies ist schon dann der Fall, wenn die Verwertung eines ordnungsgemäß erhobenen Beweises für sich genommen konventionswidrig ist; vgl. Renzikowski, in: Festschrift für Lampe (2003), 791, 792 m. Fn. 9.

[51] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 4 unter Bezugnahme auf BGHSt 51, 150, 155.

[52] EGMR S.N. v. Schweden, Rep. 2002-V § 53; Doorson v. Niederlande, Urteil vom 26. März 1996, § 76 = ÖJZ 1996, 717; Ferrantelli u. Santangelo v. Italien, Urteil vom 7. August 1996, §§ 51 ff.; aus der deutschen Rechtsprechung BGH HRRS 2005 Nr. 74.

[53] EGMR Haas v. Deutschland (Fn. 9), JR 2006, 289, 291 f.

[54] EGMR Lucà v. Italien (Fn. 10), HRRS 2006 Nr. 62.

[55] EGMR Lucà v. Italien (Fn. 10), HRRS 2006 Nr. 62 Rn. 40.

[56] EGMR Lucà v. Italien (Fn. 10), HRRS 2006 Nr. 62 Rn. 41.

[57] Vgl. Renzikowski, in: Festschrift für Mehle, S. 529, 541: "Eine Einschränkung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist nur gerechtfertigt, wenn der Angeklagte die Gründe für eine unterbliebene Konfrontation zu vertreten hat"; ferner Mosbacher JuS 2007, 724, 728, der darauf hinweist, dass sich am Beweiswert einer Aussage nichts dadurch ändert, wer das Konfrontationsmanko zu vertreten hat.

[58] Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 841 ff.; so auch implizit das Sondervotum Walsh, Macdonald und Palm zum Fall Artner, EuGRZ 1992, 477: "Der Bf. wurde ohne eigenes Verschulden des Rechts beraubt, … Fragen zu stellen …" (kursive Hervorhebung vom Verfasser).

[59] Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 840 f.

[60] EGMR Doorson v. Niederlande (Fn. 52), § 76.

[61] So die Deutung bei Jung GA 2009, 235, 239 ("Nicht alles kann ausgeglichen werden").

[62] EGMR Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien (Fn. 44), § 37 = HRRS 2009 Nr. 459 Rn. 29.

[63] EGMR Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien (Fn. 44), § 42

= HRRS 2009 Nr. 459 Rn. 34: "Even if it were not so, the Court is not persuaded that any more appropriate direction could effectively counterbalance the effect of an untested statement which was the only evidence against the applicant” (kursive Hervorhebung vom Verfasser); ähnlich Rn. 47.

[64] Vgl. Jung GA 2009, 235, 239.

[65] Jung GA 2009, 235, 239.

[66] So auch Esser JR 2005, 248, 251 (unter Verweis auf EGMR Ferrantelli u. Santangelo v. Italien[Fn. 52]), §§ 30, 51 f. ), 252, der jedoch nur auf die die fehlende Verantwortung der Justiz abstellt; dagegen sogleich im Text.

[67] Vgl. auch Wohlers ZStR 123 (2005), 144, 173 zur ähnlich gelagerten Problematik des sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufenden Zeugen: "(D)ie Unmöglichkeit der Ausübung des Konfrontationsrechts" liege "jedenfalls auch in der Sphäre des Staates, der das Zeugnisverweigerungsrecht ja begründet hat." Vgl. ferner Schwaighöfer ÖJZ 1996, 124, 127, der für Fälle rechtlicher Unerreichbarkeit unkonfrontierte Aussagen nicht zulassen will.

[68] Esser JR 2005, 248, 252 m. Fn. 54, der darauf verweist, dass die Vorhersehbarkeit der Ausübung des Schweigerecht nur dann nicht vorhersehbar ist, wenn kein Schweigerecht (mehr) besteht; das gilt für das hier virulente teilweise Schweigen auf Verteidigerfragen in der Hauptverhandlung gleichfalls.

[69] Vgl. zur ähnlichen Lage beim Schutz von Zeugen im formalen Sinne Wohlers ZStR 123 (2005), 144, 150 unter Verweis auf die Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts BGE 125 I, 142.

[70] Vgl. auch Schaden, in: Festschrift für Rill (1995), 213, 232, der –

zur Konstellation des anonymen Zeugen unter Bezugnahme auf die Kostovski-Entscheidung des EGMR (Fn. 9) darauf hinweist, dass absichtliche Falschaussagen nun einmal vorkommen. Dies gilt für einen – nicht einmal der strafbewehrten Zeugenpflicht (§§ 153, 154 StGB) unterliegenden – Mitbeschuldigten nicht nur in Einzelfällen, sondern ist schon in der Struktur eines Prozesses gegen einen geständigen und gegen einen nichtgeständigen Angeklagten angelegt, wie die Rechtsprechung andernorts eigentlich klar und deutlich erkannt hat, vgl. BGH NStZ 2003, 245; NStZ 2004, 691; BGH Urteil vom 17. September 2009 – 4 StR 174/09, HRRS 2009 Nr. 986 Rn.12.

[71] Esser JR 2005, 248, 255, der daraus aber nicht die allein zutreffende Konsequenz eines Beweisverwertungsverbots zieht; s.a. Wohlers, in: Festschrift für Trechsel (2002), S. 813, 828 zur vergleichbaren Fallgruppe der milieuangehörigen V-Leute.

[72] So tendenziell auch Esser JR 2005, 248, 255.

[73] BGH HRRS 2009 Nr. 803 Rn. 8.

[74] Renzikowski JZ 1999, 605, 609; Schlothauer StV 2001, 127, 131.

[75] In der Sache liegt eine "Beweiswürdigungslösung den Entscheidungen BGHSt 17, 382, 385 f.; 33, 83, 88 f.; 33, 178, 181; 34, 231, 234; 36, 159, 166; 45, 321, 340 m. Anm. Sinner/Kreuzer StV 2000, 114; BGH NStZ 1998, 312 m. zust. Anm. Wönne; BGH StV 2000, 593, 598 m. Anm. Fezer JZ 2001, 363, 364; BGH StV 2000, 649, 650 f. m. Bspr. Wattenberg StV 2000, 688; BGH NStZ-RR 2002, 176; BGH NJW 2005, 1132 m. Anm. Esser JR 2005, 248 zugrunde; auch BGHSt 2, 300, 304 und BGH NStZ 1985, 376 zur "Kompensation" der Anwendung inkompatiblen fremdstaatlichen Verfahrensrechts gehören hierher. Das BVerfG hat die "Beweiswürdigungslösung" stets gebilligt, vgl. etwa BVerfGE 57, 250, 290 ff.; BVerfG NStZ 1991, 445; BVerfG StV 1995, 561; BVerfG StV 1997, 1 m. Anm. Kinzig; BVerfG NJW 2001, 2245, 2246; BVerfG NJW 2007, 204, 205; BVerfG HRRS 2008 Nr. 391; BVerfG HRRS 2009 Nr. 1114, Rn. 10 ff., 13 ff.

[76] So der 1. Strafsenat selbst, vgl. BGHSt 46, 93, 103.

[77] BGH, Urteil vom 17. März 2009 – 4 StR 662/08, HRRS 2009 Nr. 458 Rn. 11 unter Verweis auf BGH NStZ 2004, 691, 692.

[78] Fezer JZ 1985, 496, 497; Hamm StV 2001, 81 ff. ("Weichmacher") Schlothauer StV 2001, 127, 131 ("Leerformeln"; "Beweiswürdigungsarithmetik").

[79] Vgl. Renzikowski JZ 1999, 605, 609.

[80] So Fezer JZ 1985, 496, 497.

[81] Vgl. näher die durchschlagende Fundamentalkritik bei Fezer JZ 1985, 496, 497 f.

[82] Das schweizerische Bundesgericht sieht es anders und stellt – insoweit mit dem EGMR – darauf ab, dass die belastende Zeugenaussage nicht den Ausschlag geben darf, vgl. BGE 125 I 127, 141, 157.

[83] BGHSt 17, 382, 386; 33, 178, 181; 36, 159, 166; BGH StV 2000, 593, 598; anders aber wohl BGH NJW 2000, 1661, 1662: "vorsichtige Bewertung und Heranziehung der … Angaben nur zur Bestätigung der sonst gewonnenen Beweiser­gebnisse." – Ob dies im vorliegenden Fall vom 4. Strafsenat des BGH ebenso konventionsrechtsfehlerhaft gehandhabt wurde, lässt sich anhand des pauschalen Verweises auf die Kompensation im Rahmen der Beweiswürdigung nicht beurteilen.

[84] Demko ZStR 122 (2004), 416, 432 f. – Dass die "Beweiswürdigungslösung" sich auch nicht mit der "Gesamtbetrachtung des Verfahrens" durch den EGMR rechtfertigen lässt (oben im Text 1. a]), betont Gleß NJW 2001, 3606.

[85] EGMR Doorson v. Niederlande (Fn. 52), § 76 = ÖJZ 1996, 717; EGMR Haas v. Deutschland (Fn. 9). NStZ 2007, 103, 104.

[86] EGMR Doorson v. Niederlande (Fn. 52), § 76 = ÖJZ 1996, 717; Lucà v. Italien (Fn. 10), HRRS 2006 Nr. 62 Rn. 40; Gossa v. Polen, Urteil vom 9. Januar 2007, § 63; A.L. v. Finnland, Urteil vom 27.1.2009, § 37; zur vorherigen wechselhaften Praxis des EGMR in den Fällen Unterpertinger, Asch und Artner s. Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 543 f.; Wohlers ZStR 123 (2005), 144, 169 f. Zu den Kriterien des "solely or to a decisive extent" s. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (Fn. 25), S. 674 f. – Schon die bloße Ergänzungstauglichkeit der unkonfrontierten Aussage ist aber aus dem soeben im Text genannten Grund in Abrede zu stellen.

[87] EGMR Asch v. Österreich (Fn. 9), § 25 = EuGRZ 1992, 474; Vidal v. Belgien, Urteil vom 22. April 1992, §§ 33 f.; Gossa v. Polen (Fn. 86) § 52; A.L. v. Finnland (Fn. 86), § 35.

[88] Vgl. Schaden, in: Festschrift für Rill (1995), 213, 231 der die Frage aufwirft, wie der EGMR überhaupt beurteilen kann, wann eine unkonfrontierte Aussage (mit-)entscheidend gewesen ist. Diese Frage lässt sich trefflich auch als Argument gegen die Revisionsrechtsprechung des BGH ins Feld führen, nach der gewiss keine "Signifikanzvermutung" besteht; vgl. in diesem Zusammenhang ferner Schroeder GA 2003, 293, 296, der die "Gesamtbetrachtung als Form der Beruhensprüfung" deutet, dabei aber kategorienfehlerhaft die unterschiedliche Perspektive des EGMR und der deutschen Revisionsgericht unberücksichtigt lässt.

[89] EGMR Visser v. Niederlande, Urteil vom 14. Februar 2002, § 46 = StraFo 2002, 160.

[90] Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 544.

[91] Veröffentlicht in EuGRZ 1992, 477.

[92] EGMR P.S. v. Deutschland, Urteil vom 20. Dezember 2001, § 24 = EuGRZ 2002, 37.

[93] Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 544; Wohlers ZStR 123 (2005), 144, 170 f. – Dabei kommt es insbesondere nicht darauf an, ob das erkennende Tatgericht selbst die betreffende Aussage als im Sinne des Textes entscheidend bezeichnet, vgl. BGE 118 Ia, 472.

[94] So tendenziell Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 733: "(E)in Nachteilsausgleich durch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung" sei "nicht möglich, weil der Teilhabemangel über ein von ihm betroffenes Beweismittel auf die Verfahrensentscheidung selbst fortwirkt", S. 839 ff.

[95] Vgl. Sommer NJW 2005, 1240, 1242: "Ist Aufklärung durch ein von der Verteidigung nicht examiniertes Beweismittel nicht möglich, so ändert auch das Korrektiv der besonders vorsichtigen Beweiswürdigung nichts an der eingeschränkten Tatsachengrundlage."

[96] Vgl. Korn, Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren (2005), S. 79 f.; Wattenberg StV 2000, 688, 693; ferner Ambos NStZ 2003, 14, 17: Es ist "gerade nicht sicher …, ob eine Aussage mit demselben Inhalt bei Wahrung der Beteiligungsrechte des Beschuldigten erlangt worden wäre.".

[97] Ähnlich Wohlers, in: Festschrift für Trechsel (2002), S. 813, 821 f. zur Parallelproblematik der Einführung von Beweismittelsurrogaten bei der Sperrung von V-Leuten; Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung (1995), S. 223 ff.

[98] Vgl. BVerfGE 57, 250, 274, wonach einer richterlichen Entscheidung nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen der Beschuldigte Stellung nehmen konnte.

[99] Vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 843.

[100] Vgl. Degener StV 2002, 618, 621; Schleiminger, Konfrontation im Strafprozess (2001), S. 322 f. dies. AJP 1999, 1223, 1227 f., 1231; Demko ZStR 122 (2004), 416, 429.

[101] Demko ZStR 122 (2004), 416, 429; Schleiminger, Konfrontation im Strafprozess (Fn. 100), S. 316; vgl. auch Mosbacher JuS 2007, 724, 728.

[102] Zu diesen z.B. Schünemann StV 2000, 159, der zudem (a.a.O., 164) darauf hinweist, dass wegen dieser Effekte im inquisitorischen Verfahrensmodell "eine maximale Garantie für eine objektive Wahrheitsfindung in der deutschen Hauptverhandlung gerade nicht besteht." Um so dramatischer ist es, wenn das die Amtsermittlung "auflockernde" adver­satorische Element des Konfrontationsrechts durch die "Beweiswürdigungslösung" zu einer quantité négligeable degradiert wird.

[103] Vgl. zur kognitiven Dissonanz auf Ermittlerseite bei "Beschuldigungen durch Beschuldigte" Jansen, in: Festschrift für Hamm (2008), S. 227, 229 f.

[104] Vgl. zudem Wohlers, in: Festschrift für Trechsel (2002), S. 813, 825: "das Strafverfahren ist eben kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern das genaue Gegenteil."

[105] Bei Demko ZStR 122 (2004), 416, 429 f. ist die Rede davon, dass die Beweiswürdigungslösung die "kommunikative Struktur des Strafprozesses" vernachlässige; im hier interessierenden Bereich geht es jedoch nur um die Hauptverhandlung.

[106] BGHSt 48, 161 m. Anm. Weider StV 2003, 266 u. Kargl/Rüdiger NStZ 2003, 672; BGH StV 2006, 118; BGH NStZ 2004, 691, 692; BGH NStZ-RR 2007, 116, 119; BGH NStZ 2008, 54.

[107] BGH NJW 2008, 1749, 1750 m. Anm. A. Schmitz = JZ 2008, 796, 797 m. Anm. Stübinger = HRRS 2008 Nr. 31.

[108] Ähnlich der Sachverhalt in BGH NStZ 2004, 691 (verdichtetes Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen nach § 55 StPO), wo die Kumulation verschiedender Aspekte der "Beweiswürdigungslösung" übersehen wurde.

[109] Wattenberg StV 2000, 688, 693 (zur Haas-Entscheidung BGH StV 2000, 649); vgl. auch allg. Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 142, wonach sich die deutsche Rechtsprechung "durch eine selektive, beschränkende Wahrnehmung" der Ansätze des EGMR zu erwehren versuche.

[110] EGMR Kostovski v. Niederlande (Fn. 9), § 43 = StV 1990, 481, 482; ebenso Hulki Güne v. Türkei, Urteil vom 19. Juni 2003, § 95; Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien (Fn. 44), §§ 42, 47 = HRRS 2009 Nr. 459 Rn. 34, 39.

[111] Vgl. auch Kolz, in: NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer (2002), 35, 36 f.

[112] Krit. zum Teilhabecharakter des Art. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK Walther GA 2003, 204, 222 f. m. Fn. 112, die darin ein "klassisches Abwehrrecht" sieht. Diese letztere Einordnung als Abwehrrecht trifft zu, ist, aber kein Einwand gegen den Teilhabecharakter des Konfrontationsrechts; im Strafverfahren ist Eingriffsabwehr nun einmal regelmäßig nur durch möglichst effektive Teilhabe möglich und deshalb staatlicherseits auch zu gewähren.

[113] Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 843 f.; eingehend zum Zusammenhang von Art. 6 Abs. 2 EMRK und den Teilrechten des Art. 6 Abs. 3 EMRK ders., a.a.O., S. 817 ff. – Das gilt insbesondere, wenn man mit EKMR Barberà u.a. v. Spanien, Urteil vom 16. Oktober 1986, § 104 das Recht auf kontradiktorische Befragung zusätzlich aus Art. 6 Abs. 2 EMRK ableitet.

[114] Gaede , Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 731 (unter dem Aspekt der allgemeinen Anforderungen an die Beweiswürdigung nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK).

[115] Wohlers, in: Festschrift für Trechsel (2002), S. 813, 824 f., 831.

[116] Dieses Bedenken liegt besonders nahe, wenn man das Konfrontationsrecht verfassungsrechtlich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ableitet und damit den Einwand der Systemfremdheit ausräumt, vgl. allg. Walther GA 2003, 204, 220 ff. m. Fn. 92 unter Verweis auf BVerfGE 7, 53, 56 f., wonach es wegen Art. 103 Abs. 1 GG den Parteien bzw. Beteiligten "nicht zugemutet werden (soll), sich darauf zu verlassen, dass ein Gericht schon aufgrund der Offizialmaxime zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde".

[117] Sommer NJW 2005, 1240, 1242.

[118] So auch Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (Fn. 25), S. 679 f.

[119] Zu diesem Verständnis des von Art. 6 EMRK garantierten Verfahrensschutzes durch den EGMR s. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (Fn. 25), S. 400; Gaede HRRS 2004, 44, 51 m. Fn. 86, beide m.w.N.

[120] Verkannt von Cornelius NStZ 2008, 244, 248 und Safferling NStZ 2006, 75, 81, die ein "flexibleres und der jeweiligen Sachverhaltskonstellation angemessenes Vorgehen" als Vorteil ansehen (Cornelius) oder gar "(d)ie Konfrontation des Zeugen durch den Beschuldigten" für "keine originäre Methode der Wahrheitsfindung" halten (Safferling) und damit in der Sache den Charakter des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK als unmittelbar geltendes Bundesrecht in Frage stellen – obwohl nach Safferling "das Fragerecht … als Ausdruck des … fairen Strafverfahrens … den Angeklagten als Subjekt ernst nimmt und ihm deshalb (sic!) die Belastungszeugen gegenüberstellt."

[121] Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 544.

[122] Ambos NStZ 2003, 14, 17: "klare Handlungsanleitung für Staatsanwalt und Ermittlungsrichter"; Kunert NStZ 2001, 217, 218.

[123] So Fezer, in: Festschrift für Gössel (2002), 627, 641.

[124] BGHSt 37, 30, 32 = NW 1989, 1801; ganz ähnlich BGHSt 40, 211, 217; 44, 243, 249 = NStZ 1999, 203, 204; vgl. auch BGHSt 32, 345, 350 f.; 33, 283 f.; 37, 10, 13. Besonders eindeutig schimmert die Präponderanz der Strafverfolgung durch in BGHSt 35, 32, 34 = NJW 1988, 1223, 1224: "… darf ein Verfahrensfehler, der ein Verwertungsverbot für ein Beweis­mittel zur Folge hat, deshalb nicht ohne weiteres dazu führen, dass das gesamte Strafverfahren lahmgelegt wird".

[125] Ähnlich liegt es bei zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen (im formalen Sinne der StPO), die von ihrem Verweigerungsrecht Gebrauch machen, aber entgegen § 252 StPO die Verwertung einer vorprozessualen Sachverständigenvernehmung gestattet, was die Rechtsprechung gestattet, vgl. BGHSt 45, 203 = NJW 2000, 596, 597 m. krit. Anm. Fezer JR 2000, 341; auch hier läuft das Konfrontationsrecht leer, auch hier verweist der BGH auf "den Grundsatz der Wahrheitsforschung", im Hinblick auf welchen es "auch sachgerecht" sei, "einen solchen isolierten Verzicht auf das Beweisverwertungsverbot zuzulassen". Auch hier besteht die Gefahr der Herrschaft eines (zumal geschädigten) Zeugen über die Urteilsgrundlage, vgl. Wohlers, in: Festschrift für Trechsel (2002), S. 813, 826 m. Fn. 69.

[126] Vgl. zum Zitat und zum im Text Folgenden Wollweber NJW 2000, 1702 f. – Einem Schluss vom Sollen aufs Sein (oder präziser: aufs richterliche Können) erliegt Ranft NJW 2001, 1305, 1307, wo er gegen Wollwebers Aussage (a.a.O.), es sei Zweck des § 252 StPO, "die rechtsstaatliche Garantiefunktion der Hauptverhandlung gegenüber antizipierenden Beweisergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren abzusichern”, betont, der Gesetzgeber bringe "dem von Amts wegen zur Ermittlung der Wahrheit verpflichteten Richter ein solches Misstrauen nicht entgegen."

[127] Vgl. BGHSt 46, 93, 104: "…liegt es nahe, eine dem konkreten Fall gerecht werdende Lösung zu finden".

[128] Vgl. Renzikowski, in: Festschrift für Lampe (2003), S. 791, 800 nach dem "(d)ie Chance, der Wahrheit näherzukommen, … jedenfalls größer (ist), wenn alle Verfahrensbeteiligten effektiv (scil. mittels Teilhabe an der Urteilsgrundlage, J.D.-N.) auf das Ergebnis Einfluss nehmen konnten."

[129] Vgl. Renzikowski, in: Festschrift für Lampe (2003), S. 791, 797 ff., der darauf hinweist, dass sich die Ausgestaltung der Pflicht zur Wahrheitserforschung nach der StPO wahrheitstheoretisch weder nach Korrespondenz- noch nach Konsensualkriterien zufriedenstellend einordnen lässt; s.a. Jung GA 2003, 191, 196: Der Strafprozess sei "zuvörderst ein Erkenntnissystem", mit dem "fast alle prozeduralen Rechte des Beschuldigten … in Verbindung" stünden. Zum damit angesprochenen Stellenwert der "Verfahrensgerechtigkeit" im Allgemeinen vgl. etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 65.

[130] Renzikowski, in: Festschrift für Lampe (2003), S. 791, 800.

[131] Vgl. Esser JR 2005, 248, 254, der von einem "echten Zielkonflikt" zwischen dem "Gebot einer effektiven Verteidigung" und der "Effektivität der Strafverfolgung" spricht und dessen Erwägung, ein striktes Beweisverwertungsverbot hinsichtlich unkonfrontierter belastender Mitbeschuldigten "brächte zwangsläufig die Gefahr materiell fehlerhafter Straf­urteile mit sich", wie Esser selbst sieht, "nicht den Verzicht auf ein justizförmiges Verfahren rechtfertigt"; tendenziell anders, aber nicht grundsätzlich gegen die Beweiswürdigungslösung nun ders. NStZ 2007, 106.

[132] Vgl. Rieß, in: Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.),

Strafverteidigung in der Praxis, Band 1: Grundlagen des Strafverfahrens, 3. Aufl. (2004), § 13 Rn. 29: Das korrekte Verfahren sei "eine Bedingung der richtigen Entscheidung"; ähnlich auch Neumann, in: KritV (Hrsg.), Sonderheft zum 60. Geburtstag von Winfried Hassemer (2000) S. 158 m. Fn. 36.

[133] BVerfG Beschluss vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2491/07, Rn. 7 = HRRS 2008 Nr. 391 Rn. 7.

[134] BVerfG Beschluss vom 8. Oktober 2009 – 2 BvR 547/08, Rn. 25 = HRRS 2009 Nr. 1114 Rn. 25.

[135] Renzikowski, in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 544.

[136] BVerfGE 33, 367, 383; 77, 65, 76.

[137] Vgl. z.B. Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. (2006), Einl. I Rn. 110; Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit (1984), S. 66; andeutungsweise Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2005), S. 332. Mit Recht krit. bis abl. Renzikowski, in: Festschrift für Lampe (2003), S. 791, 793 ff.; ders., in: Festschrift für Mehle (2009), S. 529, 545 f.; Niemöller/Schuppert AöR 107 (1982), 387, 399 ff.; Wolter, in: 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 4 (2000), S. 987 ff.

[138] Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. (1999), Einl. H Rn. 108.

[139] Etwa BVerfGE 57, 250, 276.

[140] Vgl. auch BGHSt 24, 239, 241 (zur Verletzung des Verzögerungsverbotes); 45, 321, 334 (zur konventionswidrigen Tatprovokation).

[141] BGHSt 46, 93, 103: "… Beweiswürdigungslösung … sachgerechter als ein Verwertungsverbot …"

[142] Fezer, in: Festschrift für Gössel (2002), S. 627, 639; ferner Walther GA 2003, 204, 219, die von ein einer "altbekannten inquisitionstypischen Sichtweise" spricht; zur Kritik ferner Schleiminger, Konfrontation im Strafprozess (Fn. 100), S. 241 ff.

[143] Vgl. auch zum ähnlich gestrickten Begriff der "Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege" Spaniol, Das Recht auf Ver­tei­digerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (1990), S. 236 ff.

[144] Vgl. Kunert NStZ 2001, 217 ("Sorge vor dem unberechtigten Freispruch eines Schuldigen").

[145] Zur (Verfahrens-)"Gerechtigkeit im Fehlurteil" und zur Schlussfolgerung, dass (gemessen an dem Vergleichsbegriff der materiellen Wahrheit) ein freisprechendes "Fehlurteil" im Strafverfahren sozusagen institutionell verankert ist, s. Trechsel ZStR 118 (2000), 1, 5, 10 ff.

[146] Wohlers, in: Festschrift für Trechsel (2002), S. 813, 826 ff.; so auch zur Parallelproblematik der Abwälzung von staatlichen Geheimhaltungsinteressen bei V-Leuten auf den Angeklagten und dessen Verteidigungsinteressen Grünwald, in: Festschrift für Dünnebier (1982), 347, 362.

[147] Vgl. auch Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 735 m.w.N. in Fn. 225, der darauf hinweist, dass Art. 6 EMRK einer Zuweisung von Fehlverurteilungsrisiken zum Angeklagten gerade ausschließt; s.a. Trechsel AJP 2000, 1366, 1369, nach dem die Abweichungen von der Regel des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK "einer Begründung, einer Rechtfertigung" bedürfen; in der Sache geht es um die Deutung des Konfrontationsrechts als eines Prinzips im Alexyschen Sinne (Recht, Vernunft, Diskurs[1995], S. 225 f.), aus dem ein Optimierungsgebot fließt, also um eine Argumentationslastregel.

[148] Gleß NJW 2001, 3606, 3607, die hierin den entscheidenden Kern der "Justizförmigkeit der Beweiserhebung" sieht.

[149] Hierhin allgemein tendierend auch Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 19), S. 733 ff.

[150] Eine solche Sicht klingt an im Sondervotum Thor Vilhjálmsson zum Fall Artner, EuGRZ 1992, 477: "… führt die Auslegung dieser Bestimmung unseren Gerichtshof sozusagen auf verbotenes Terrain, nämlich in das Gebiet der Beweiswürdigung, welches den nationalen Gerichten vorbehalten werden sollte (kursive Hervorhebung vom Verfasser).

[151] Vgl. auch Mosbacher JuS 2007, 724, 727 f., der von einem "eher systemfremden Einbruch in den das deutsche Strafprozessrecht bestimmenden Grundsatz der freien Beweiswürdigung" spricht.

[152] Vgl. zu "Beschuldigungen durch Beschuldigte", der "Verlockung zur (Un)wahrheit" und den dahinter stehenden rechtstatsächlichen motivations- und aussagepsychologischen Aspekten Jansen, in: Festschrift für Hamm (2008), S. 227 ff.