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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2010
11. Jahrgang
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1. Art. 6 EMRK erfordert prinzipiell schon für die erste (polizeiliche) Befragung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren den Beistand eines Verteidigers. Das Recht auf Verteidigerbeistand darf insoweit nur eingeschränkt werden, wenn für den Einzelfall zwingende Gründe vorliegen, die eine solche Einschränkung rechtfertigen. Dies gilt uneingeschränkt nur bei einer Inhaftierung des Beschuldigten oder nach der Erhebung einer Anklage i.S. des Art. 6 EMRK.
2. Die Selbstbelastungsfreiheit kann nicht auf Schuldeingeständnisse oder direkt belastende Äußerungen beschränkt werden. Der Schutz erstreckt sich auch auf Äußerungen, die auf den ersten Blick nicht belastend sind, aber im späteren Strafverfahren die Anklage zum Beispiel deshalb unterstützen, weil sie die Glaubwürdigkeit des Angeklagten unterminieren.
3. Ein Verzicht im Sinne des Art. 6 EMRK ist auch hinsichtlich des Schweigerechts im Ermittlungsverfahren nur wirksam, wenn er eindeutig erklärt wurde und von
einem Mindestmaß an prozessualen Schutzinstrumenten begleitet wurde, die seiner Bedeutung entsprechen. Bevor von einem Angeklagten angenommen werden kann, dass er durch sein Verhalten konkludent auf ein Recht des Art. 6 EMRK verzichtet hat, muss der Staat zeigen, dass der Angeklagte dabei die Konsequenzen seines Tuns vorhersehen konnte.
4. Einzelfall der Verletzung des Schweigerechts durch die Verwertung einer inkriminierenden Äußerung, die ein Verdächtiger unbelehrt und ohne Verteidigerbeistand in einer Stresssituation gemacht hat, in der er die Konsequenzen seiner Äußerung nicht vernünftig einschätzen konnte.