HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2010
11. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

"Wir übernehmen jeden Fall!"

Anmerkung zum Urteil des BGH HRRS 2009 Nr. 717 unter Berücksichtigung von BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116.

Von Prof. Dr. Gunnar Duttge und Wiss. Mitarb. Stephanie Neumann, Göttingen

I. Zur aktuellen Lage

Zu welchem Zweck sollte die Strafrechtswissenschaft eine eklatant gesetzeswidrige und auch in der Sache verfehlte Judikatur überhaupt noch zum Gegenstand ihrer kritischen Betrachtung machen, wenn ihr trotz der bekannten - fundamentalen - Einwände von höchstrichterlicher Seite entgegengehalten wird, es handle sich um eine "prinzipiell berechtigte", allenfalls "noch nicht näher ausgestaltete Rechtsprechung"[1]? Sollte sie sich zum kleingeistigen Gehilfen erklären bei der Durchsetzung dieser "neuen Linie" oder sich schmollend in Sphären der Theorie zurückziehen und das Treiben der Rechtspraxis mit Ignoranz strafen? Das würde womöglich den falschen Eindruck erwecken, als sei der kontroverse Diskurs vom höheren Standpunkt der Ratio mit den jüngsten Bemühungen des BGH um Absicherung seines neuen Paradigmas einer "straffen Durchführung der Hauptverhandlung"[2] in seinem Sinne entschieden. Die tatsächliche Rechtsentwicklung allerdings dürfte jedenfalls innerhalb des deutschen Justizsystems bis auf weiteres unumkehrbar sein, seit dieser neuen Schöpfung richterlicher Kreativität vollumfänglich der bundesverfassungsgerichtliche Segen zuteil geworden ist.[3] Schon zuvor haben neben dem fünften[4] auch der dritte[5] und der erste[6] Strafsenat ihre Sympathien mit einer Verfahrensweise erkennen lassen, die sich beinahe wie eine Anleitung zum "kurzen Prozess" liest: "Nach Abschluss der vom Gericht nach dem Maßstab der Aufklärungspflicht für geboten gehaltenen Beweiserhebungen kann der Vorsitzende … unter Fristsetzung auffordern, etwaige Beweisanträge zu stellen; (…) werden Anträge nicht innerhalb der gesetzten Frist gestellt (…) und besteht nach Überzeugung des Gerichts kein nachvollziehbarer Anlass für die verfristete Antragstellung, so kann es - falls nicht die Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO gleichwohl zur Beweiserhebung drängt[7] - grundsätzlich davon ausgehen, dass der Antrag nichts anderes als die Verzögerung des Verfahrens bezweckt"[8].

Einzig der vierte Strafsenat scheint an der einst ganz unumstrittenen Interpretation des § 246 StPO festzuhalten, wonach "eine Beweiserhebung nicht deshalb abgelehnt werden darf, weil das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache zu spät vorgebracht worden sei"[9]. Bei den unmissverständlichen Hinweisen seiner Vorsitzenden Tepperwien[10] dürfte über kurz oder lang eine Entscheidung des Großen Strafsenats wohl unvermeidlich sein, auch wenn man mit einer solchen bei den sich längst abzeichnenden Mehrheitsverhältnissen kaum Hoffnungen verbinden wird. Selbst wenn am Ende aber auch der EGMR "keine Bedenken" gegen eine solche Verfahrensweise verspüren sollte,[11] bleibt hiervon unberührt die Notwendigkeit, die fundamentalen Einwände und gewichtigen Argumente nochmals festzuhalten und auf die untauglichen Rechtfertigungs- und Beschwichtigungsversuche der Rechtsprechung zu antworten.

II. Zu den Argumenten

1. § 246 I StPO: Sinngehalt und notwendige Folgerungen

Zentral ist die Behauptung des BGH, dass das vorgezeichnete Verfahren zur Abwehr von "massivem Missbrauch"[12] nicht das Präklusionsverbot des § 246 I StPO verletze: Zum einen bleibe es den Verfahrensbeteiligten "weiter freigestellt, auch nach der gesetzten Frist Beweisanträge zu stellen", die vom Gericht entgegengenommen und verbeschieden werden müssen; zum anderen ergebe sich das Recht zur Zurückweisung der begehrten Beweisaufnahme "nicht allein aufgrund später Beweisantragstell-

ung", sondern wegen "Verschleppungsabsicht" gem. § 244 III S. 2 Var. 6 StPO, für die eine Antragstellung jenseits der gesetzten Frist ein "signifikantes Indiz" darstellt, wenn hierfür keine Gründe "nachvollziehbar und substantiiert" dargelegt werden können.[13] Ausweislich seiner normtextlichen Fassung verbiete § 246 I StPO eine Ablehnung von Beweisanträgen wegen Verschleppungsabsicht nicht.

Es ist unschwer zu erkennen, dass mit dieser Wiederbelebung eines Gesetzespositivismus reinsten Wassers der Anwendungsbereich des - von der Zielvorstellung einer "stringenten, dem Zügigkeitsgebot des Art. 6 Abs. 1 MRK verpflichteten Verfahrenserledigung"[14] her betrachtet - "störenden" § 246 I StPO so weit wie möglich reduziert werden soll. Nur bei gänzlichem Ausblenden seiner Sinngebung kann mit sophistischer Manier behauptet werden, bei lediglich mittelbarer (und sei es auch gewichtiger) Relevanz einer "Verfristung" und keinem unmittelbaren Anknüpfen der Ablehnungsentscheidung an den Fristablauf sei das Präklusionsverbot ("weil … zu spät") gar nicht berührt. Demgegenüber hat der Gesetzgeber hierdurch doch dem Anliegen Ausdruck verleihen wollen, dass die Pflicht zur Wahrheitsermittlung eine Aufgabe impliziere, die sich nicht in terminliche Schablonen pressen lasse;[15] auch muss die Einschätzung des Antragstellers von Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit eines Beweisantrages auch in zeitlicher Hinsicht nicht mit den Vorstellungen des Gerichts übereinstimmen[16] und ist deshalb zur eigenständigen Beurteilung der Prozessverantwortung der Verteidigung überlassen. Von dieser Eigenständigkeit bleibt aber kaum noch etwas übrig, wenn die Verteidigung nunmehr rechtfertigungspflichtig wird, sobald sie der gerichtlichen "Terminsvorstellung" nicht gehorsam nachkommt; das Praktizieren einer hiermit nicht verträglichen Verteidigungsstrategie steht jetzt in dringendem Verdacht eines "dysfunktionalen Einsatzes des Beweisantragsrechts"[17]. De facto ist damit allen Beteuerungen zum Trotz eine gerichtliche Befugnis geschaffen, den Verfahrensbeteiligten vorschreiben zu dürfen, (bis) wann sie einen Beweisantrag zu stellen haben. Wie das BVerfG ein dahingehendes Verbot einerseits anerkennen[18] und andererseits zugleich die Verfahrensweise des BGH billigen kann, bleibt im Dunkel der verwinkelten Karlsruher Gedankengänge verborgen. Wenn aber - so die früher ständige höchstrichterliche Rechtsprechung - "nicht der Verteidiger verpflichtet[ist], einen Beweisantrag zu dem vom Gericht für angemessen gehaltenen Zeitpunkt zu stellen, sondern das Gericht …, Beweisanträge bis zum Beginn der Urteilsverkündung entgegenzunehmen"[19], so liegt in jeder gerichtsseitig angemaßten Verkürzung dieses gesetzlich garantierten Zeitrahmens notwendig eine Missachtung des § 246 I StPO, der doch das Stadium der Antragstellung von Gesetzes wegen gerade für irrelevant erklärt. Diese gesetzliche Vorgabe darf dann jedoch auch nicht durch Ausweichen auf den Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht umgangen werden. So sehr also § 246 I StPO nicht die Ablehnung eines Beweisantrages nach § 244 III StPO hindert, so wenig darf hier das dort Verbotene fröhliche Urständ feiern, mithin die "verspätete Stellung eines Beweisantrages" - "verspätet" eigentlich in Bezug auf welche begrenzende Vorgabe? - zur wesentlichen oder gar alleinigen Bedingung für die Annahme von Verschleppungsabsicht erhoben werden. Denn damit verbände sich in der Tat die Anerkennung einer "verkappten Präklusionsfrist"[20].

Vor allem das BVerfG hält dem aber entgegen, dass der Ablauf einer richterlich gesetzten Frist nur "einer von mehreren Umständen[sei], der das Vorliegen auch nur einer Voraussetzung des Ablehnungsgrundes des § 244 III S. 2 Var. 6 StPO begründen" könne: Deshalb sei "auch künftig ausgeschlossen, einen Beweisantrag allein aufgrund eines zeitlich verzögerten Verfahrens abzulehnen"[21]. Davon abgesehen, dass auch das BVerfG selbst keine weiteren Indizien konkret zu benennen weiß, die erst im Zusammenwirken mit dem Fristlauf die Annahme einer Verschleppungsabsicht rechtfertigen sollen: Die neuere Rechtsprechung des BGH erkennt die "Verfristung" eines Antrags regelmäßig bereits als hinreichenden Beleg an, dass dieser "nichts anderes als die Verzögerung des Verfahrens bezweckt"[22]; in der jüngsten Entscheidung des fünften Strafsenats ist dementsprechend von einer wesentlich "leichteren Ablehnung grundlos spät gestellter Beweisanträge" die Rede.[23] Damit werden jedoch weitere "Anzeichen" nicht mehr zu ablehnungsbegründenden Voraussetzungen erklärt, sondern können nur noch - ausnahmsweise - als Gegengründe die Annahme von Verschleppungsabsicht hindern. Wie wahrscheinlich dieses Szenario in der Praxis sein wird, dass also ein Tatgericht eine vorgelegte Begründung für die nachträgliche Antragstellung (mit der die Verteidigung u.U. ihr Verteidigungskonzept offenbaren muss!) akzeptiert, steht dabei in den Sternen. Denn es fehlt an jedweder normativen Vorgabe für diese gerichtliche Entscheidungsbefugnis und an jedweder Kontrolle über deren Ausübung. Weit ehrlicher ist es da, wenn der erste Strafsenat auf solche Beschwichtigungen gleich ganz verzichtet und unmissverständlich formuliert: "Verspätete Stellung eines Beweisantrags kann allein schon für Verschleppungsabsicht sprechen"[24]. Damit zeigt sich aber,

dass die bundesverfassungsgerichtliche Absolution eine gar nicht existente strafverfahrensrechtliche Situation zum Gegenstand hat; sie verfehlt den wahren Kern der BGH-Rechtsprechung!

2. Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht

Dies gilt um so mehr, als der Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren - wie das BVerfG selbst einräumt - sehr wohl durch "verfahrensrechtliche Gestaltungen berührt werden" kann, "die der Ermittlung der Wahrheit und somit einem gerechten Urteil entgegenstehen": "Der in den Vordergrund gestellten Sicherung der Gerechtigkeit durch Aufklärung des wahren Sachverhalts entspricht das Recht des Angeklagten, sich durch die Stellung von Beweisanträgen, die nur unter engen Voraussetzungen abgelehnt werden können, an der Aufklärung des Sachverhalts aktiv zu beteiligen"[25]. Wird ihm diese Partizipationschance wegen "Verfristung" genommen, so gefährdet dies nicht nur seine Subjektstellung, sondern zugleich den fundamentalen rechtsstaatlichen Anspruch auf Gewähr einer bestmöglichen Wahrheitsermittlung als Grundlage einer evtl. Verurteilung des Angeklagten. Bekanntlich drückt sich im Beweisantragsrecht die Einsicht des Gesetzgebers aus, dass nicht etwa eine (gerichtliche) Monopolisierung der Wahrheitssuche (trotz aller gesetzlichen Verpflichtung zur Amtsaufklärung), sondern vielmehr erst eine "Konkurrenz der Vorverständnisse"[26] der gesuchten Objektivität näherbringt. Die "größere prozessuale Potenz"[27] des Beweisantragsrechts verschafft dem Antragsteller daher die Aussicht, "im Rahmen seiner eigenen Erfahrungshorizonte und Interpretationsschemata Hypothesen über aussichtsreiche Beweisführung zu bilden und diese auch durchsetzen zu können"[28] - u.U. eben in der Weise, dass dadurch "Wahrnehmungsfixierungen" des Gerichts "aufgebrochen" werden.[29] Demgegenüber haftet jeder einseitigen Beweisprognose - je früher im Prozess getroffen um so mehr - stets das Risiko an, Resultat und zugleich Perpetuierung einer defizitären Erkenntnis zu sein.

Nun behauptet der BGH aber, bei Nichteinhaltung der tatgerichtlich dekretierten Frist sei das Recht auf Stellung von Beweisanträgen "als solches" gar nicht beschnitten:[30] Denn den Verfahrensbeteiligten bleibe es weiterhin "freigestellt, auch nach der gesetzten Frist Beweisanträge zu stellen"[31]. Das jüngste, für die vorliegende Besprechung zum Anlass genommene Urteil des fünften Senats spricht in derselben Weise von einer "leichter begründbaren ablehnenden Entscheidung über nach Fristablauf gestellte Beweisanträge"[32]. Bei diesen Formulierungen handelt es sich aber ersichtlich um einen Etikettenschwindel: Denn wenn sich die gerichtliche Prüfung nach Fristablauf darauf beschränkt, ob "die Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO gleichwohl zur Beweiserhebung drängt"[33], so werden die eingehenden "Anträge" in Wahrheit nicht mehr als "Beweisanträge" i.e.S., sondern als bloße Beweisanregungen behandelt. Ob diesen dann auch nachgegangen wird, kann nur Gegenstand einer Hoffnung sein, für den An­tragsteller also gewissermaßen "prozessuales Glück"[34], aber nicht Resultat seines dahingehenden Rechts.[35] Weit näher kommt der Wahrheit daher das BVerfG, wenn es von einem "Beweisermittlungsantrag" spricht, sofern eine "plausible Antwort" des Antragstellers ausbleibe.[36] Auf diese Weise wird allerdings - allen gegenteiligen Beteuerungen zuwider[37] - mit Blick auf § 244 III StPO ein gänzlich neuer Ablehnungsgrund der "mangelnden Plausibilität" geschaffen, was allein dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten ist.

Was schließlich von der höchstrichterlichen "Beruhigungspille" zu halten sein dürfte, wonach das Gericht selbst bei Beseitigung seiner Beweiserhebungspflicht doch noch immer von Amts wegen an die Sachaufklärungsmaxime gebunden sei, lässt sich angesichts jedweder fehlenden - "dank" dem BGH jetzt auch fehlenden revisionsgerichtlichen - Kontrolle nicht nur lebens­weltlich leicht ausmalen. Schon die innere Logik der neuen Verfahrensweise einer "Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung" legt die Ablehnung "verspätet" gestellter Beweisanträge nahe, weil die "Erledigung des gerichtlichen Prüfprogramms" doch erst zur tatgerichtlichen Fristsetzung berechtigen soll.[38] Eine im Anschluss gleichwohl durchgeführte weitere Beweiserhebung würde somit unweigerlich den Finger in die Wunde einer nun sogar gerichtsseitig zugestandenen defizitären Wahrheitsermittlung legen und ggf. sogar den Verdacht einer pflichtwidrigen Verkürzung der Aufklärungsbemühungen erregen - ein Anschein, den zu erwecken ein Tatgericht sich gewiss sehr gründlich überlegen wird. Mit anderen Worten dürften daher mit der gerichtlichen Entschließung zur Beendigung der Beweisaufnahme und zur Gewähr einer "letzten Frist" für die Verfahrensbeteiligten, das weitere Verfahren doch noch in eine andere Richtung zu lenken, die Würfel hinsichtlich einer weiteren Sachaufklärung von Amts wegen gefallen sein - mehr noch: Der mit jener Fristsetzung einhergehenden öffentlichen Verlautbarung der gerichtlichen Einschätzung über die (nach eigener Überzeugung: mangelnde) Sinnhaftigkeit weiterer Aufklärungsbemühungen haftet psychologisch die Gefahr an, hieran "blind" festzuhalten: Nach dem sog. inertia- oder Persevanz-Effekt (= Trägheitseffektiv oder Mechanismus der Selbstbestätigung von Hypothesen) "werden Informationen, die eine zuvor schon einmal für richtig gehaltene Hypothese bestätigen, systematisch überschätzt, während entgegengesetzte, dissonante In-

formationen systematisch unterschätzt werden"[39]. In diesem Lichte müssen "Beweisanträge", die erst nach Ablauf einer gerichtlich gesetzten Frist eingehen, regelmäßig als sachwidrig und Zeichen dysfunktionalen Verteidigerverhaltens erscheinen - aber nicht notwendig ihrer sachlichen Unbegründetheit wegen, sondern bereits wegen der gerichtsseitig zuvor schon getroffenen Festlegung und der damit einhergehenden kognitionspsychologisch einseitigen Erwartung und Orientierung. Aus objektiver Perspektive muss der Grund für die dann entstehende kommunikative Dissonanz aber nicht beim Antragsteller liegen, sondern kann auch durch die gerichtliche Festlegung begründet sein - zum Schaden für die allseitige Pflicht zur bestmöglichen Wahrheitsermittlung.[40] Der in der jüngsten Entscheidung des fünften Senats enthaltene Appell zur "vorsichtigen und zurückhaltenden Handhabung"[41] drückt nichts anderes als ein schlechtes Gewissen ob dieses Risikos aus, freilich ohne daraus konsequente Schlussfolgerungen mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit zu ziehen.

3. Untaugliche Rechtfertigungen: Beschleunigungsgrundsatz und Sachleitungsbefugnis

Zur Rechtfertigung der nunmehr höchstrichterlich anerkannten Befugnis des Tatgerichts zu solcher Verfahrensweise sucht kaum überraschend auch der fünfte Strafsenat Zuflucht beim "Zügigkeitsgebot des Art. 6 I MRK".[42] Dass hierin aber nur ein Verfahrensabschluss "innerhalb angemessener Zeit" und kein "kurzer Prozess" ("speedy trial") jenseits des eigentlichen Verfahrensziels für geboten erklärt wird, scheint bei der Unbekümmertheit der in der höchst­richterlichen Praxis "freischwebenden" Inanspruchnahme des "Beschleunigungsgrundsatzes" offenbar zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Es muss daher als bezeichnendes und erschreckendes Signal verstanden werden, wenn die Vorsitzende des vierten Senats sich dazu veranlasst sieht, diese Banalität eines jeden rechtsstaatlichen Verfahrens eigens zu betonen.[43] Nur innerhalb des Rahmens einer bestmöglichen Wahrheitssuche bildet die Sorge vor unnötiger Verlängerung des Verfahrens einen von Rechts wegen schützenswerten Belang; das Streben nach "beschleunigter" Verfahrenserledigung berechtigt jedoch nicht zur Vernachlässigung der richterlichen Aufgaben, d.h. "den wahren Sachverhalt - unter Beachtung der Rechte von Anklage und Verteidigung auf Vorlage oder Nennung von Beweismitteln - sorgfältig und vollständig zu ermitteln, Anklage und Verteidigung ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Wahrnehmung ihrer Rechte zu geben und ein Urteil aufgrund sorgfältiger Prüfung des gesamten Prozessstoffes zu fällen"[44] - so der erste Strafsenat vor 23 Jahren: Wie sich die Zeiten doch ändern!

Im Übrigen würde der in Art. 6 Abs. 1 MRK verbürgte Mindeststandard individualschützender[45] Rechtsgarantien gegenüber der strafverfolgenden Hoheitsgewalt in sein Gegenteil verkehrt, könnte das Beschleunigungsgebot zur Grundlage genommen werden, um gesetzlich verbürgte Rechte des Angeklagten einzuschränken oder diesem gar vorzuenthalten.[46] Als Optimierungsgebot findet der Beschleunigungsgedanke vielmehr gerade umgekehrt seine Grenzen in den gewährleisteten Verfahrensrechten und darf, wie der EGMR unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, der Inanspruchnahme des Rechts auf Vorbringen der "eigenen" Beweismittel eben nicht entgegenstehen.[47] Würde man dies auch nur in einem einzigen Fall wie etwa vorliegend im Kontext der Ablehnung eines Beweisantrages gestatten, so wäre damit gleichsam das "trojanische Pferd" erschaffen, mit dem sich auch andere Verfahrensrechte leichter Hand aushebeln ließen.[48] Allerdings: In den aktuellen Trend eines systematischen Abbaus der "schützenden Formen"[49] fügte sich eine solche Haltung bestens ein!

Beinahe schon einer "Verzweiflungstat" kommt es schließlich nahe, wenn sich der BGH - allerdings nicht im jüngsten Urteil - auch noch auf die Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden (vgl. §§ 213 ff., 238 I StPO) stützen will. Bekanntermaßen dient diese lediglich der gerichtsinternen Aufgabenverteilung sowie der organisatorischen Strukturierung der Hauptverhandlung, beides wiederum mit dem Ziel der Vermeidung unnötiger Verzögerungen. Eine Befugnis zur Beschneidung gesetzlich garantierter Verfahrensrechte ergibt sich hieraus nicht. So wie der Vorsitzende also nicht unter Berufung auf seine Sachleitungsbefugnis verbotene Vernehmungsmethoden anwenden, das Fragerecht des Angeklagten verkürzen oder die Öffentlichkeit gesetzeswidrig ausschließen darf, steht auch das Beweisantragsrecht nicht zu seiner Disposition. Was der "abenteuerliche"[50] Gedanke einer Berufung auf § 238 StPO aber als eigentliche Motivation verrät, tritt immer klarer zutage: Gerichte scheinen zunehmend weniger bereit zu sein, Beweiserhebungen zu tolerieren und Zeit hierfür zu verwenden, die sie selbst nicht für "sinnvoll" halten. Vor solcher "Selbstinthronisierung" des Gerichts unter Verweis auf die eigene "Vernunft", dem sich die anderen Verfahrensbeteiligten (-subjekte?) und insbesondere der Angeklagte nur noch unterordnen können, sich de facto ausgeliefert sehen müssen, sollten die "Formen" der Strafprozessordnung aber gerade schützen. Sonst droht dasjenige, was Wittig treffend wie folgt beschrieben hat: Der kontradiktorische

Prozess verwandelt sich sukzessive in einen "diktatorischen Prozess"[51].

III. Zu den Konsequenzen

Es ist gewiss nicht das erste Mal, dass der BGH seine verfassungsrechtlich vorgegebene Rolle eines "Gesetzesdieners" kurzerhand vergessen und - natürlich stets Gutes wollend - sich zum eigentlichen "Herrn der Rechtsordnung" aufgeschwungen hat. Frei nach Berthold Brecht kann "gut gemeint" aber mitunter geradewegs zum Gegenteil von "gut" und "richtig" werden.[52] In seinem Beschluss vom 14.6.2005 war dem fünften Strafsenat noch bewusst, dass die Abwehr von "verfahrensverzögerndem Missbrauch" des Beweisantragsrechts durch Beschreiten jenes extralegalen "Fristsetzungs- und Ablehnungsverfahrens" letztlich in die Regelungskompetenz des Gesetzgebers fällt.[53] Offenbar hat er inzwischen jedoch jedwede Geduld verloren und glaubt wohl, angesichts der gesetzgeberischen Untätigkeit (in die von ihm erwünschte Richtung!) gleichsam in Ausübung eines fortwährenden "Notstandsrechts" selbst für die nötigen Problemlösungen sorgen zu müssen. Dieser geradezu jugendliche Tatendrang erinnert fatal an das Motto einer bekannten Hörspielserie[54], in der es stets heißt: "Wir übernehmen jeden Fall!" - und das gute Ende ist gesichert! Bei aller Skepsis gegenüber den Ergebnissen der modernen Gesetzgebung: Mancher jugendliche Aktionismus nimmt bekanntlich einen fatalen Verlauf…


[1] BGH HRRS 2009 Nr. 717, B. II., 3. c).

[2] BGHSt 51, 333, 343 f. = HRRS 2007 Nr. 602.

[3] BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116 m. Kurzkritik in: NJW-Spezial 2009, 744.

[4] BGH NJW 2005, 2466 ff. = HRRS 2005 Nr. 543 m. abl. Bspr. Dahs StV 2006, 116 ff.; Duttge JZ 2005, 1012 ff.; Gössel JR 2006, 128 f.

[5] BGH NStZ 2007, 716 = HRRS 2007 Nr. 807.

[6] BGHSt 51, 333 ff. m. abl. Bspr. Beulke/Ruhmannseder NStZ 2008, 300 ff.; 52, 355 ff. = HRRS 2008 Nr. 1150 = NJW 2009, 605 ff. m. abl. Anm. Gaede = JZ 2009, 316 ff. m. abl. Anm. Eidam.

[7] Auf diese pflichtschuldige, formelhafte Beteuerung wird natürlich nicht verzichtet!

[8] BGHSt 51, 333, 344[1. Senat].

[9] BGH NStZ-RR 2009, 21 f. = HRRS 2008 Nr. 944.

[10] In: Widmaier-FS 2008, S. 583, 589.

[11] BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116: "begegnet … keinen verfassungsrecht­lichen Bedenken".

[12] BGH NJW 2005, 2466, 2467.

[13] BGHSt 51, 333, 344 f.; 52, 355, 362 f.; ebenso BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116.

[14] BGH HRRS 2009 Nr. 717.

[15] Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg (Hrsg.), Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 2001, § 246 Rn 1 (Stand: 1998); Schlüchter, in: Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz (SK/StPO), § 246 Rn 1 (Stand: 12. Aufbau-/Erg.Lfg. 1994); nachdrücklich Sommer, in: Krekeler/Löffelmann (Hrsg.), Anwaltskommentar StPO, 2. Aufl. (2009), § 246 Rn 1: "Für die Ermittlung der materiellen Wahrheit und für ein gerechtes Urteil ist es niemals zu spät".

[16] Julius, in: ders. (Hrsg.), Strafprozessordnung, 4. Aufl. (2009), § 246 Rn 2.

[17] BGH HRRS 2009 Nr. 717; zum "dysfunktionalen Prozessieren" bereits Rüping/Dornseifer JZ 1977, 417 ff.

[18] BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116; ebenso BGH NStZ 1986, 371; 1990, 350, 351; offen gelassen dagegen in BGHSt 52, 355, 363.

[19] BGHSt 21, 118, 123; zuvor bereits RGSt 59, 420, 421; 68, 88, 89; bekräftigend Tepperwien, in: Widmaier-FS (2008), S. 583, 589.

[20] Beulke/Ruhmannseder NStZ 2008, 300, 302.

[21] BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116.

[22] BGHSt 51, 333, 344; bestätigt durch BGHSt 52, 355, 362.

[23] BGH HRRS 2009 Nr. 717.

[24] BGHSt 52, 355, 362.

[25] BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116.

[26] Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. (2007), Rn 27 ff.; zu den "diversen Wahrheiten" vertiefend Volk, in: Salger-FS (1995), S. 411 ff.

[27] Schlüchter GA 1994, 397, 411 f.

[28] Weßlau, in: Fezer-FS (2008), S. 289, 302 ff.

[29] Hamm/Hassemer/Pauly (Fn. 26), Rn 30; siehe auch König StV 2009, 171, 172: kein "Anhängsel" der Amts­aufklärung.

[30] BGH NJW 2005, 2466, 2467.

[31] BGHSt 52, 355, 363.

[32] BGH HRRS 2009 Nr. 717.

[33] BGHSt 51, 333, 344; 52, 355, 363; siehe auch schon BGH NJW 2005, 2466, 2468: "vornehmlich (?) unter Aufklärungsgesichtspunkten".

[34] Gaede NJW 2009, 608.

[35] Statt vieler z.B. König, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht: Handkommentar (2008), § 244 StPO Rn 25.

[36] BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116, unmittelbar allerdings nur auf "Beweisbehauptungen ins Blaue hinein" bezogen.

[37] BVerfG, ebd.

[38] Vgl. BGH HRRS 2009 Nr. 717.

[39] Schünemann StV 2000, 159 ff. m.w.N. aus der kognitionspsychologischen Fachliteratur.

[40] Im Ergebnis wie hier auch Bachler, in: BeckOK StPO (Stand: 15.6.2009), § 246 Rn 1.

[41] BGH HRRS 2009 Nr. 717.

[42] Zuvor bereits BGH NJW 2005, 2466, 2468; BGHSt 52, 355, 362; zuletzt auch BVerfG HRRS 2009 Nr. 1116.

[43] Siehe Tepperwien NStZ 2009, 1 ff.: keine "Beschleunigung über alles"!

[44] BGH NStZ 1986, 371, 372.

[45] So auch BVerfG NStZ 2006, 680, 681 ("vorwiegend"); BGHSt 26, 228, 232 ("in erster Linie"); SK/StPO/Paeffgen (Fn. 15), Art. 6 EMRK Rn 5 (Stand: 35. Aufbau-Lfg., Januar 2004).

[46] Wie hier bereits Ventzke HRRS 2005, 233, 235.

[47] EGMR StV 2005, 136, 138 m. Anm. Pauly; siehe auch Eidam JZ 2009, 318, 320 m.w.N.; Fezer, in: Widmaier-FS (2008), S. 177, 184.

[48] Siehe auch Fezer HRRS 2009, 17, 18.

[49] Dazu ausführlich Duttge, in: Karras-FS (2010), S. 109 ff.

[50] Treffend Fezer HRRS 2009, 17, 18.

[51] Wittig, in: Volk-FS (2009), S. 885, 891 f.

[52] In der Formulierung Kants: man solle "den lebhaftesten Wunsch für das Gute nicht sofort für dessen Wirklichkeit … halten" (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Weischedel[Hrsg.], Werke, Bd. 6, 1956/1983, S. 35).

[53] Vgl. BGH NJW 2005, 2466, 2468: "…für den Gesetzgeber Anlass zur Prüfung besteht, ob…".

[54] Für Neugierige der Titel: "Die drei Fragezeichen"; Originaltitel: The Three Investigators.