HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2010
11. Jahrgang
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Schrifttum

Stephan Werner : Zur Notwendigkeit der Verteidigeranwesenheit während der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung; Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien Band 106; Peter Lang Verlag; 216 S.; Diss. Frankfurt am Main; 39,00 € ; Frankfurt am Main 2008.

Die Arbeit von Stephan Werner, die im Jahr 2006 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. als Dissertation angenommen wurde, befasst sich auf 187 Seiten mit der oftmals für das ganze weitere Strafverfahren weichenstellenden polizeilichen Beschuldigtenvernehmung im Ermittlungsverfahren. Diese von Beginn an auf ein Über- und Unterordnungsverhältnis von Vernehmungsperson zu Beschuldigtem ausgerichtete Vernehmung stellt sich für den Betroffenen oftmals als eine Art "existenzielles Erlebnis" dar.

Im ersten Teil der Untersuchung setzt sich Werner auf gut 60 Seiten mit den normativen Voraussetzungen von Verteidigerpräsenz im Ermittlungsverfahren auseinander. Dort werden im Rahmen einer Bestandsaufnahme alle erforderlichen rechtlichen Grundlagen für die nachfolgenden Betrachtungen geschaffen. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Wesen des Ermittlungsverfahrens geht Werner näher auf dessen Bedeutung, Prinzipien, Strukturen und Funktionen ein. Daran schließt sich – insbesondere unter dem Gesichtspunkt des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Verteidigerbeistand – eine umfassende Darstellung der rechtlichen Folgen, die für den Beschuldigten mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verbunden sind, an.

Im zweiten Teil setzt sich Werner dann mit der normativen Zielsetzung sowie der tatsächlichen Praxis polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen auseinander. Der Fokus liegt dabei auf der Sozialpsychologie, wobei sowohl die institutionellen Rahmenbedingungen als auch der Umstand, dass die polizeiliche Vernehmung einer Art Zwangskommunikation gleichkommt, thematisiert werden. Werner legt dort besonderes Augenmerk auf die polizeilichen Vernehmungsmethoden sowie –taktiken. Abgerundet wird dieser Teil der Untersuchung mit einer ausführlichen Analyse des polizeilichen Vernehmungsprotokolls als Produkt einer "ausgehandelten Wahrheit", das aus vielerlei Gründen problembehaftet erscheint.

Im dritten und damit letzten Abschnitt findet sich eine Evaluierung zur Notwendigkeit der Verteidigeranwesenheit während der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung. Dort befasst sich Werner zudem mit den möglichen Argumenten und Gegenargumenten einer gesetzlichen Normierung der Verteidigeranwesenheit und kommt dabei zu dem Schluss, dass das Schaffen eines während der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung bestehenden Rechts auf Verteidigeranwesenheit aus seiner Sicht als Endergebnis nicht ausreicht, sondern dass die Forderung vielmehr nur dahingehen kann, eine Verteidigeranwesenheitspflicht bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung gesetzlich zu verankern, "sofern ein Fall vorliegt, in welchem der Beschuldigte wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, wegen der Schwere mutmaßlicher Rechtsfolgen, wegen besonderer Behinderungen durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen oder wegen Fehlens oder fühlbarer Beeinträchtigung der sozialen Handlungskompetenz zu einer hinreichenden Wahrnehmung seine Rechte und Interessen nicht in der Lage ist" (S. 183).

Die nicht nur sprachlich gelungene und insbesondere im zweiten und dritten Teil sehr lesenswerte Untersuchung von Werner zeichnet sich vor allem durch die sozialpsychologische Analyse von polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen aus. An dieser Stelle muss insbesondere Werners verdienstvolle Analyse von polizeispezifischer Literatur, die in vielen Fällen der Öffentlichkeit nicht

direkt zugänglich ist, herausgestellt werden. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil er bei seinen näheren Betrachtungen Erkenntnisse über die Polizeiarbeit zutage fördert, die sich unmittelbar auf den Berufsalltag all derjenigen Personen auswirken, die mit polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen zu tun haben und damit gerade Strafverteidiger betreffen. Gerade jenen sei deshalb auch die Lektüre dieses Abschnitts dringend anempfohlen. Die Darstellung der vernehmungsspezifischen Fragetypen sowie polizeilichen Vernehmungsmethoden und –taktiken mag zwar nicht gänzlich abschließend sein, jedoch zweifelsohne den allergrößten Teil erfassen. Wer sich bislang noch nie darüber Gedanken gemacht hat, der wird nach der Lektüre sicherlich polizeilichen Vernehmungen bzw. Vernehmungsstilen wegen ihrer immensen und unmittelbaren Auswirkungen auf den Rechtsalltag größtmögliche Aufmerksamkeit entgegenbringen. Diejenigen, die derartiges schon immer als problematisch empfunden und kritisch beäugt haben, sehen sich nun wieder einmal – und dies wissenschaftlich aufbereitet – bestätigt.

Ausgehend von diesen Befunden stellt Werner fest, dass die vergleichsweise schwache Rechtstellung des Beschuldigten innerhalb des Ermittlungsverfahrens mit starken und stetig wachsenden Informations- und Handlungsmöglichkeiten von Polizei und Staatsanwaltschaft einhergeht. Dabei ist es den Polizeibehörden aus vielerlei Gründen gelungen, innerhalb des Ermittlungsverfahrens eine überaus dominante Position einzunehmen. In der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle liegen nämlich sowohl die Einleitung als auch die Durchführung und damit die faktische Sachleitung des Ermittlungsverfahrens nicht mehr wie eigentlich vorgesehen bei den Staatsanwaltschaften, sondern – entgegen der gesetzlichen Regelung – in Händen der Polizei. Weil ferner etwa 90 % der Vernehmungen durch die Polizei durchgeführt werden und richterliche bzw. staatsanwaltschaftliche Vernehmungen damit nur eine ganz marginale Rolle spielen und außerdem festzustellen ist, dass die Effizienz von polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsstilen zu einem Großteil von den Einwirkungsmöglichkeiten der Verteidigung auf die Verfahrensgestaltung abhängig ist, muss der Umstand, dass nach bestehender Gesetzeslage gerade im besonders wichtigen Stadium des Ermittlungsverfahrens die Anwesenheits-, Antrags- und Beteiligungsrechte des Beschuldigten am schwächsten ausgeprägt sind, Besorgnis erregen! Mit dieser schwachen Stellung des Beschuldigten korreliert natürlich auch das fehlende Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei den polizeilichen Vernehmungen.

Werner kann nachweisen, wie die aufgezeigten institutionellen Rahmenbedingungen in ein strukturell bedingtes Handlungsziel der Polizei münden, das auf die Erlangung eines Geständnisses des Beschuldigten abzielt. Vergegenwärtigt man sich dann noch die Tatsache, dass die zentralen Weichen für das gesamte Strafverfahren mittlerweile immer häufiger in dem von der Polizei beherrschten Ermittlungsverfahren gestellt werden, so muss die im Fair-Trail-Prinzip angelegte Beistandsfunktion des Verteidigers zukünftig bereits im Ermittlungsverfahren vollumfänglich zur Geltung kommen, damit alle dem Beschuldigten theoretisch zur Verfügung stehenden Verteidigungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft werden können, und, um auf diese Weise das für eine effektive Strafverteidigung erforderliche Gegengewicht zu den ermittelnden Polizeibeamten bilden zu können. Der Beschuldigte selbst wird dazu in der Regel aufgrund seiner juristischen Unkenntnis, emotionalen Befangenheit, persönlichen Betroffenheit sowie der daraus resultierenden mangelhaften Fähigkeit zur Artikulation und Selbstbehauptung nicht in der Lage sein. Der Verteidiger als professioneller Rechtsbeistand vermag hingegen die strukturellen und in der Natur der Sache liegenden Autonomiedefizite seines Mandanten zu kompensieren und ermöglicht seinem Mandanten so, seine ihm als Prozesssubjekt zustehenden Beschuldigtenrechte effektiv wahrzunehmen. Durch die Übernahme der dem Verteidiger gesetzlich zugewiesenen Funktion gelingt es diesem – als ein vom Gesetzgeber im dialektischen Prozess der Wahrheitsfindung bewusst einkalkuliertes Gegengewicht – den notwendigen Widerpart zum Vorbringen der Strafverfolgungsbehörden darzustellen und durch das Vorbringen von entlastenden Umständen den gegen seinen Mandanten seitens der Strafverfolgungsbehörden erhobenen Anschuldigungen etwas entgegenzusetzen. Nach Werner ist allein ein während der Beschuldigtenvernehmung anwesender Rechtsbeistand in der Lage, die zielgerichteten bzw. normorientierten Fragen der speziell geschulten, entsprechend professionell vorgehenden und zudem mit situativer Definitionsmacht versehenen Vernehmungsbeamten zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Die Notwendigkeit eines solchen Gegengewichts weist Werner im Rahmen seiner empirischen Untersuchung nach und macht dabei die aus rechtsstaatlicher Sicht völlig unzureichende Einhaltung der Belehrungsvorschriften durch die Vernehmungsbeamten deutlich; ein Umstand übrigens, von dem Mandanten, die zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung noch unverteidigt waren, regelmäßig berichten! Da die zwischen den Beteiligten bestehende Asymmetrie nach Ansicht von Werner nur durch einen während der polizeilichen Vernehmung anwesenden Verteidiger kompensiert werden kann, befasst er sich gegen Ende seiner Untersuchung noch eingehender mit sämtlichen gegen die gesetzliche Statuierung eines Verteidigeranwesenheitsrechts vorgebrachten Auffassungen und stellt dabei letztlich fest, dass diese im Ergebnis alle nicht verfangen. Im Gegenteil, wegen der sich bei den polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren ergebenden Ungleichgewichten und Verzerrungen kommt Werner zu dem zentralen, bereits oben erwähnten Ergebnis seiner Untersuchung, nämlich dass ein bloßes Recht auf Verteidigeranwesenheit nur schwerlich befriedigen könnte und fordert deshalb als Konsequenz seiner Studie, unter bestimmten Voraussetzungen, die den Fällen notwendiger Verteidigung gleichkommen, eine gesetzlich zu statuierende Verteidigeranwesenheitspflicht.

Fazit: Die Verteidigeranwesenheit während der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vermag sowohl formell als auch materiell unrichtigen Ermittlungsergebnissen – und damit im Ergebnis Fehlurteilen – entgegenzuwirken. Dabei beeinträchtigt der Verteidiger nicht die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege", sondern trägt vielmehr durch die adäquate Ausübung seiner Rechte zur Ermittlung der objektiven Wahrheit bei. Das Bestehen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege beinhaltet die Überführung und Verurteilung des wahren Täters unter

Berücksichtigung aller Umstände, auch solcher, die den Verdächtigen entlasten. Auf diese hinzuweisen, ist vornehmste Aufgabe des Strafverteidigers. Er muss den Ermittlungsbehörden gegebenenfalls die konkreten Tatumstände und Tatbegebenheiten durch das Infragestellen der bisherigen Ermittlungsansätze sowie durch Präsentieren von möglichen Alternativen aufzeigen. Dabei ist mit Werner festzustellen, dass sich die Tätigkeit eines Strafverteidigers auf ein justizförmiges, rechtsstaatliches und damit gerechtes Verfahren richtet. Der Ausgang dieses Verfahrens wird durch die tatsächlichen Tatumstände bestimmt, die der Verteidiger mit Hilfe der ihm zustehenden Rechte darzulegen und in das justizielle Prozedere einzubringen versucht.

Werner stellt schließlich am Schluss seiner Ausführung wörtlich fest: "Das Strafverfahrensrecht verliert Würde und Rechtfertigung in dem Maße, in dem es seine Formulisierungsleistung reduziert und zur Stabilisierung seiner Effektivität auf den Schutz von Freiheit, Inventionschancen und Handlungskompetenz der Betroffenen tendenziell verzichtet. (…) Wer die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege auf die bloße Steigerung der Effizienz bzw. auf die Erhöhung der Überführungsquote reduziert, verkürzt damit den sozial-ethischen Gesichtspunkt des Strafverfahrens auf dessen Technik und Technizität. (…) Da der Staat jedoch über einen intakten und effektiven Strafverfolgungsapparat verfügt, dem ebenso vielfältige wie weitreichende Untersuchungsmittel und –methoden zur umfassenden Aufklärung von Straftaten zur Verfügung stehen, sind durch die Anwesenheit des Verteidigers hervorgerufene Lähmungserscheinungen der Verbrechensverfolgung nicht ernstlich zu befürchten. (…) Dies gilt umso mehr, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass das Fehlen eines Verteidigers bei der Beschuldigtenvernehmung zumindest ebenso geeignet ist, die Wahrheitsfindung zu behindern oder zu gefährden – nur eben zu Lasten des Beschuldigten. (…) Abschließend gilt es daher nochmals explizit hervorzuheben, dass der Verteidiger im Rechtstreit kein systemwidriger, sondern ein ganz bewusst installierter "Störfaktor" ist, der als Beistand des Beschuldigten die Übermacht des Staates kompensieren und verhindern soll, dass mit dem Beschuldigten "kurzer Prozess" gemacht wird. (…) Strafverteidigung ist daher ihrer Konzeption nach nicht "professionelle Strafvereitelung", sondern integraler Bestandteil des Rechtsstaats. (…) Gerade die Erfahrung, dass jeder Beschuldigte in einem Strafverfahren werden kann, sollte dazu beitragen, die Rechtsbeschränkung und Belastung, die einem Beschuldigten auferlegt werden, auf das zur Verdachtsklärung unerlässliche Maß zu begrenzen."

Dem ist nichts hinzuzufügen!

Marvin Schroth, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth), Karlsruhe