HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die Dezember-Ausgabe umfasst vor allem die Entscheidung des 1. Strafsenats, mit der er obiter (!) über die Sachleitungsbefugnis im Strafverfahren eine indizielle Präklusion erfindet. Neben der Entscheidung des Großen Senats zur nachträglichen Sicherungsverwahrung sind weitere BGHSt und BGHR-Entscheidung zu verzeichnen.

Die Problematik des "Doppelten Verfalls bei Auslandsgeschäften" ergründen die RAe Rübenstahl und Schilling. Die Autorin Dr. Hellen Schilling tritt mit dieser Ausgabe in den Kreis der ständigen Mitarbeiter ein. Eine Alternative zur Freiheitsstrafe nach Vollverbüßung in Untersuchungshaft entwickelt Abg. Richter Ziethen in seinem Aufsatz, der eine jüngere Entscheidung des BGH zum Ausgang nimmt. Aufgenommen sind zudem drei Rezensionen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

1145. EGMR Nr. 36391/02 – Urteil der Großen Kammer vom 27. November 2008 (Salduz vs. Türkei)

Wirksamkeitsverpflichtete Konventionsauslegung; Recht auf konkreten und wirksamen Verteidigerbeistand bei der ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren (Untersuchungshaft; Konsultationsrecht; Anwesenheitsrecht; „Terrorismusbekämpfung“: PKK; Jugendstrafverfahren; Selbstbelastungsfreiheit; prinzipielles Verwertungsverbot für selbstbelastende Aus-

sagen ohne Verteidigerbeistand); Recht auf ein faires Strafverfahren (Gesamtbetrachtung; Anwendung im Ermittlungsverfahren; Verzicht auf Konventionsrechte; rechtliches Gehör: Information über Verfahrensbeiträge anderer Verfahrensbeteiligter); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK

1. Art. 6 EMRK erfordert prinzipiell schon für die erste (polizeiliche) Befragung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren den Beistand eines Verteidigers. Das Recht auf Verteidigerbeistand darf insoweit nur eingeschränkt werden, wenn für den Einzelfall zwingende Gründe vorliegen, die eine solche Einschränkung rechtfertigen. Nur klar bestimmte und zeitlich beschränkte Einschränkungen sind hinzunehmen, was in besonderem Maß für schwere Tatvorwürfe gilt (hier: Terrorismus).

2. Auch wenn die Einschränkung des Verteidigerbeistands im Ermittlungsverfahren als solche gerechtfertigt ist, darf sie die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte im weiteren Verfahren nicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. Prinzipiell werden die Verteidigungsrechte unwiederbringlich beeinträchtigt, wenn belastende Aussagen für eine Verurteilung verwertet werden, die durch eine polizeiliche Vernehmung ohne einen eröffneten Verteidigerbeistand gewonnen worden sind.

3. Das Recht eines jeden Angeklagten, sich von einem Verteidiger effektiv verteidigen zu lassen, ist eines der fundamentalsten Teilrechte des Rechts auf ein faires Verfahren. Wenn den Vertragsstaaten der EMRK auch ein Ermessen zuzugestehen ist, wie sie dieses Recht umsetzen, so muss doch die Umsetzung stets im Einzelfall konkret und wirksam erfolgen.

4. Der Beschuldigte befindet sich im Stadium des Ermittlungsverfahrens, das für die Hauptverhandlung sehr bedeutsam ist, oftmals in einer besonders verletzlichen Situation. Diese Situation kann in den meisten Fällen nur angemessen durch den frühen Beistand eines Verteidigers kompensiert werden.

5. Art. 6 EMRK – insbesondere die sich aus Art. 6 Abs. 3 EMRK ergebenden Rechte – können auch auf das Ermittlungsverfahren anwendbar sein, wenn und soweit die Fairness des Strafverfahrens anderenfalls wahrscheinlich durch ein anfängliches Versäumnis ernsthaft beeinträchtigt werden wird.

6. Ein Verzicht im Sinne des Art. 6 EMRK ist auch hinsichtlich des Schweigerechts im Ermittlungsverfahren nur wirksam, wenn er eindeutig erklärt wurde und von einem Mindestmaß an prozessualen Schutzinstrumenten begleitet wurde, die seiner Bedeutung entsprechen. Eine unterschriebene Erklärung aus der ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, nach welcher der Beschuldigte nach einer Belehrung über sein Schweigerecht auf dieses verzichte, genügt dem nicht ohne weiteres, wenn dem Beschuldigten zugleich kein Verteidigerbeistand eröffnet war.


Entscheidung

1071. EuGH C-1/07 (Dritte Kammer) – Urteil vom 20. November 2008 (Frank Weber/Deutschland)

Richtlinie 91/439/EWG; gegenseitige Anerkennung der Führerscheine; Fahrverbot; Entzug der Fahrerlaubnis; Gültigkeit eines während der Dauer des Fahrverbots in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen zweiten Führerscheins.

Art. 1 Abs. 2 91/439/EWG; Art. 8 Abs. 2 und 4 91/439/EWG; § 3 Abs. 1 StVG; § 3 Abs. 2 StVG; § 21 Abs. 1 StVG; § 28 Abs. 1 FeV; § 28 Abs. 4 FeV; § 28 Abs. 5 FeV; § 46 Abs. 1 FeV; § 46 Abs. 5 FeV

Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, in seinem Hoheitsgebiet die Anerkennung einer Fahrberechtigung abzulehnen, die sich aus einem in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt, auf dessen Inhaber im erstgenannten Mitgliedstaat eine Maßnahme des Entzugs der Fahrerlaubnis, wenn auch erst nach der Erteilung des fraglichen Führerscheins, angewendet wurde, sofern dieser Führerschein während der Dauer der Gültigkeit einer Maßnahme der Aussetzung der im erstgenannten Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis ausgestellt wurde und sowohl diese Maßnahme als auch der Entzug aus zum Zeitpunkt der Ausstellung des zweiten Führerscheins bereits vorliegenden Gründen gerechtfertigt sind.


Entscheidung

1067. BVerfG 1 BvQ 46/08 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 27. November 2008 (LG Oldenburg)

Rundfunkfreiheit (Bildberichterstattung über ein Strafverfahren; „Prangerwirkung“ im „Holzklotz“-Verfahren); allgemeines Persönlichkeitsrecht des Angeklagten; sitzungspolizeiliche Anordnung (Untersagung der nicht anonymisierten Bildberichterstattung; „Verpixelung“ des Gesichts); Einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Abwägung).

Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 176 GVG; § 32 BVerfGG

1. Zwar ist die mündliche Verhandlung selbst nach § 169 Satz 2 GVG in verfassungsmäßiger Weise den Ton- und Bildaufnahmen verschlossen (vgl. BVerfGE 103, 44, 66 ff.). Vor dem Beginn und nach Schluss der Hauptverhandlung und in Verhandlungspausen ist die Erstellung von Bild- und Tonaufnahmen unter Verwendung der hierzu erforderlichen technischen Mittel im Gerichtssaal jedoch vom Schutzbereich der Rundfunkfreiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst (vgl. BVerfGE 91, 125, 134 f.; 119, 309, 320 f.).

2. Auch in der Anordnung einer Anonymisierung kann eine gewichtige Beschränkung von Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit liegen (vgl. BVerfGE 119, 309, 326).

3. Straftaten gehören zum Zeitgeschehen, deren Vermittlung Aufgabe der Medien ist. Die Beeinträchtigung von Rechtsgütern der von der Tat Betroffenen und die Verletzung der Rechtsordnung, die Sympathie mit Opfern und ihren Angehörigen, die Furcht vor Wiederholungen und das Bestreben, dem vorzubeugen, begründen ein anzuerkennendes Interesse an näherer Information über Tat und Täter. Dieses wird umso stärker sein, je mehr sich die Straftat durch ihre besondere Begehungsweise oder die Schwere ihrer Folgen von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt (vgl. BVerfGE 35, 202,230 f.; 119, 309, 321 f.).

4. Die Einschränkung der Bildberichterstattung über Gerichtsverfahren dessen Gegenstand ein besonders schwerer Tatvorwurf mit einer als besonders verwerflich empfundene Begehungsweise ist, kann im Einzelfall dann gerechtfertigt sein, wenn durch die Bildberichterstattung der Angeklagte eine Stigmatisierung erfährt, die ein Freispruch möglicherweise nicht mehr zu beseitigen vermag.

5. Es bleibt offen, ob sich der Angeklagte gegenüber einer identifizierenden Bildberichterstattung von der Strafverhandlung möglicherweise dann nicht mehr mit Gewicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen kann, wenn er zuvor als Beschuldigter (Angeklagter) in den Medien im Rahmen bebilderter Berichterstattung zu den Vorwürfen der Anklageschrift oder auch nur zu eventuellen Vorwürfen der Staatsanwaltschaft Stellung bezogen

und hiermit zum Ausdruck gebracht hat, sich den erhobenen Vorwürfen in der Öffentlichkeit stellen zu wollen.


Entscheidung

1070. BVerfG 2 BvR 1870/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 7. November 2008 (OLG Hamm/LG Bielefeld/JVA B.)

Gleichbehandlungsgebot der Geschlechter (Unzulässigkeit des Abstellens auf Geschlechterstereotype und Rollenerwartungen; geschlechtsdifferenzierende Ausstattung von Hafthäusern mit Telefonen; Kosmetikeinkauf durch männliche Häftlinge).

Art. 3 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG; § 32 StVollzG; § 52 StVollzG; § 22 StVollzG

1. Das Geschlecht ist nach Art. 3 Abs. 3 GG grundsätzlich kein zulässiger rechtlicher Anknüpfungspunkt für rechtlich unterschiedliche Behandlung. An das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen sind mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nur vereinbar, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind, oder eine Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht sie ausnahmsweise legitimiert (vgl. BVerfGE 85, 191, 207 ff.; 92, 91, 109; 114, 357, 364). Geschlechtsbezogene Zuschreibungen, die allenfalls als statistische eine Berechtigung haben mögen (Geschlechterstereotype), und tradierte Rollenerwartungen können danach zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen nicht dienen (vgl. BVerfGE 85, 191, 208 ff.).

2. Das aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG folgende Differenzierungsverbot gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt (vgl. BVerfGE 114, 357, 364, m.w.N., stRspr). Eine - mittelbare - Benachteiligung wegen des Geschlechts kann auch vorliegen, wenn eine geschlechtsneutral formulierte Regelung im Ergebnis überwiegend Angehörige eines Geschlechts betrifft und dies auf natürliche oder gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen ist (vgl. BVerfGE 104, 373, 393, stRspr).

3. Zwar kann für das Ausmaß der Einschränkungen, die ein Gefangener hinnehmen muss, die räumliche und sonstige Ausstattung einer Justizvollzugsanstalt von Bedeutung sein. Andererseits bestehen Grundrechte nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungseinrichtungen faktisch vorhanden ist. Angesichts des grundrechtlichen Verbots der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts kann es nicht im freien Belieben der Justizvollzugsvollzugsanstalten oder ihrer Träger stehen, eine spezifische faktische Benachteiligung von Frauen oder Männern im Haftvollzug dadurch herbeizuführen, dass deren Unterbringungseinrichtungen unterschiedlich ausgestattet (vorliegend Telefone) und an diesen Unterschied der Ausstattung sodann Unterschiede der sonstigen Behandlung geknüpft werden.

4. Zwar stellt § 32 Abs. 1 StVollzG die Erteilung einer Telefonerlaubnis in das Ermessen der Anstalt und diese ist nicht grundsätzlich gehindert, bei ihrer Entscheidung Gesichtspunkte des personellen Aufwandes für die Gewährleistung der notwendigen Sicherheit zu berücksichtigen. Das Gericht hat jedoch im Verfahren nach § 109 StVollzG hinsichtlich des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 zu überprüfen, ob die gegebene Begründung auch und gerade im Hinblick auf praktizierte Unterschiede in der Behandlung der männlichen Gefangenen und der weiblichen Gefangenen tragfähig ist.

5. Die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen derart, dass nur Frauen gestattet wird, Kosmetika über das in § 22 Abs. 1 und Abs. 3 StVollzG Vorgesehene hinaus vom Eigengeld zu kaufen ist mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht vereinbar.


Entscheidung

1148. BVerfG 2 BvR 749/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. Oktober 2008 (OLG Dresden/LG Leipzig)

Freiheit der Person (Unterbringungsbefehl; nachträgliche Sicherungsverwahrung bei nachträglicher Rechtsänderung: Altfälle; Aufhebung im Einzelfall); Rechtsstaatsprinzip (Vertrauensschutzgebot: tatbestandliche Rückanknüpfung, unechte Rückwirkung; Rückwirkungsverbot; ne bis in idem; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz); Rechtskraftdurchbrechung (Prozessgegenstand).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2, Abs. 3 GG; § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB; § 275a StPO

1. Die mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB einhergehende Erweiterung der Möglichkeiten zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht. Ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG oder das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG liegt nicht vor. Auch das allgemeine Vertrauensschutzgebot ist nicht verletzt.

2. Der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Die Sicherungsverwahrung stellt demgegenüber eine präventive Maßnahme dar, deren Zweck es nicht ist, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen (vgl. BVerfGE 109, 133, 167 ff.; 190, 219).

3. Die Neuregelung des § 66b Abs. 1 Satz StGB führt nicht zur Durchbrechung der Rechtskraft von Strafurteilen und stellt lediglich eine prinzipiell hinzunehmende tatbestandliche Rückanknüpfung dar, wenn ihre Anwendung auf besondere Ausnahmefälle beschränkt bleibt.


Entscheidung

1146. BVerfG 2 BvR 1044/08 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 9. August 2008 (OLG Nürnberg)

Freiheit der Person (Auswirkung auf die erforderliche Sachaufklärung bei der Entscheidung über die Aussetzung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung; Grundrechtsschutz durch Verfahren; Fortdauer des Maßregelvollzuges nach zehn Jahren).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 66 StGB; § 67d StGB

1. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Je länger die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Die Grenzen der Zumutbarkeit müssen gewahrt bleiben. Dabei gilt es, das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen sowohl materiell als auch auf der Ebene des Verfahrensrechts abzusichern (vgl. BVerfGE 109, 133, 159; 70, 297, 310).

2. Die Bedeutung der Freiheitsgarantie gebietet es, bei der Sachaufklärung und Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht stets das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untergebrachten im Auge zu behalten. Dieser wirkt in die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens bei der Bestimmung des Aufklärungs- und Prüfungsumfangs hinein, um sicherzustellen, dass der Richter seine Entscheidung auf einer der Sachbedeutung entsprechenden Tatsachengrundlage aufbaut (vgl. BVerfGE 70, 297, 310). Je länger die Unterbringung dauert, desto strengere Anforderungen sind aufgrund der Wirkkraft des Freiheitsgrundrechts des Untergebrachten an die Sachverhaltsaufklärung zu stellen, um der Gefahr von Routinebeurteilungen möglichst vorzubeugen (vgl. BVerfGE 70, 297, 311). Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297, 308).

3. Materiell fordert das Übermaßverbot, die Sicherungsbelange und den Freiheitsanspruch des Untergebrachten im Einzelfall abzuwägen (vgl. BVerfGE 70, 297, 311). Der Richter hat im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Je länger die Unterbringung andauert, umso strenger sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs.

4. Der Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt dort an Grenzen, wo es nach Art und Maß der von dem Untergebrachten drohenden Gefahren vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 109, 133, 159 f.; 70, 297, 315).

5. Die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung hat sich auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das der besonderen Tragweite und dem Ausnahmecharakter dieser Entscheidung gerecht wird; dabei ist darauf Bedacht zu nehmen, dass das ärztliche Gutachten hinreichend substantiiert ist (vgl. BVerfGE 109, 133, 164). Es gilt sicherzustellen, dass der Gutachter ausreichend Zeit und Gelegenheit erhält, den Untergebrachten zu untersuchen und das Tatsachenmaterial aufzubereiten, auf dessen Grundlage die Prognose erstellt wird (vgl. BVerfGE 109, 133, 164).


Entscheidung

1149. BVerfG 2 BvR 806/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 11. Juni 2008 (OLG Bamberg/LG Würzburg/AG Würzburg)

Freiheit der Person und Untersuchungshaft bei Vorliegen einer noch nicht rechtskräftigen Verurteilung (Resozialisierungszweck; Strafrestaussetzung zur Bewährung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 GG; Art. 104 GG; § 57 StGB; § 120 StPO

1. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (BVerfGE 20, 45, 49 f.). Außerdem vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.).

2. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist (BVerfGE 20, 45, 50; 53, 152, 61 f.). Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen.

3. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Zu berücksichtigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens, die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB – das hypothetische Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe sowie Verzögerungen des Verfahrens. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (BVerfGK 7, 421, 429 f.; 8, 1, 5).

4. Selbst bei Vorliegen einer noch nicht rechtskräftigen Verurteilung ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt,

einen Verurteilten bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft zu halten. Dem steht schon der Resozialisierungszweck der Strafhaft entgegen. Dieser Rechtsgedanke erfordert es auch, dass bei der Ermittlung der Dauer der zu erwartenden Strafhaft eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB jedenfalls dann berücksichtigt werden muss, wenn sie im konkreten Fall zu erwarten ist (vgl. BVerfGK 7, 140, 162).


Entscheidung

1147. BVerfG 2 BvR 671/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 30. August 2008 (OLG Köln/LG Aachen)

Freiheit der Person und Beschleunigungsgebot bei Überhaft (Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft bei einem Strafgefangenen; siebenjährige Verfahrensverzögerung; Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsanspruches bei der Abwägung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 GG; Art. 104 GG; § 120 StPO; § 112 StPO

1. Die Entziehung der persönlichen Freiheit kann demjenigen, der noch nicht wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, nur in begrenzten Ausnahmefällen zugemutet werden. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass zur Auflösung dieses Spannungsfeldes der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten der vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsentziehung als Korrektiv ständig entgegenzuhalten ist (BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49; 53, 152, 158 f.). Das bedeutet, dass der Eingriff in die Freiheit nur verhältnismäßig und damit hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen.

2. Darüber hinaus setzt das verfassungsrechtliche Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs der Dauer der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung in dem zu sichernden Verfahren eine weitere Grenze, die mit dem verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Beschleunigungsgrundsatz in Zusammenhang steht (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 f.; 53, 152, 158 f.; BVerfGK 7, 421, 427). Kommt es zu von dem Beschuldigten nicht zu vertretenden, sachlich nicht zu rechtfertigenden und vermeidbaren Verzögerungen, weil die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um das Strafverfahren mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen, steht dies der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft regelmäßig entgegen. Diese kann nicht mehr als notwendig zur Durchführung eines Strafverfahrens und zur späteren Strafvollstreckung angesehen werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht wurde (vgl. grundlegend BVerfGE 20, 45, 50, sowie BVerfGE 20, 144, 148 f.; 36, 264, 273; BVerfGK 7, 421, 428).

3. Das Beschleunigungsgebot findet grundsätzlich ungeachtet der geringeren Eingriffswirkung auch dann Anwendung, wenn der Vollzug eines Haftbefehls nach § 116 StPO ausgesetzt wurde (vgl. BVerfGE 53, 152, 162; BVerfGK 6, 384, 391) oder wenn ein Haftbefehl wegen Strafhaft in anderer Sache nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft vermerkt ist. Auch die Überhaft ist auf das sachlich vertretbare Mindestmaß zu beschränken; sie stellt einen Grundrechtseingriff für den Betroffenen dar, weil sich für diesen aus Gründen des Haftrechts Einschränkungen ergeben, wenn neben Strafhaft Untersuchungshaft angeordnet wird (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 3. Mai 1991 - 2 Ws 191/91 -, NJW 1991, S. 2302).

4. Aufgrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person muss das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich deshalb bei der Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit den einzelnen Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese auf hinreichend gesicherter Tatsachenbasis zu begründen. In der Regel sind in jeder Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. August 1998 - 2 BvR 962/98 -, StV 1999, S. 40 und vom 10. Dezember 1998 - 2 BvR 1998/98 -, StV 1999, S. 162; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. September 2001 - 2 BvR 1316/01 -, NJW 2002, S. 207 f.). Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Unterbleibt eine entsprechende Abwägung, so hat dies regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit zur Folge. Gleiches gilt, wenn die Abwägung erkennbar unvollständig ist oder einzelne Belange fehlgewichtet werden.


Entscheidung

1068. BVerfG 1 BvQ 47/08 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 3. Dezember 2008 (LG Oldenburg)

Keine Einstweilige Anordnung gegen das Benutzungsverbot eines Laptops im Gerichtssaal im „Holzklotz“-Fall (fehlender erheblicher Nachteil; Pressefreiheit).

Art. 5 Abs. 1 GG; § 169 Satz 2 GVG; § 32 BVerfGG

Die Anordnung eines Gerichtsvorsitzenden, Journalisten die Benutzung von Laptops im Gerichtssaal nicht zu erlauben, begründet keinen erheblichen Nachteil i.S.d. § 32 BVerfGG, weil zum einen moderne Laptops teils über Kameras und Mikrofone verfügen, deren – § 169 Satz 2 GVG zuwider laufende – Verwendung während der mündlichen Verhandlung sich kaum kontrollieren ließe und zum anderen der Ausschluss von Laptops die Berichterstattung auch nicht so nachhaltig erschwert, dass

eine erhebliche Beeinträchtigung der Pressefreiheit zu befürchten wäre.


Entscheidung

1069. BVerfG 2 BvR 1203/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Oktober 2008 OLG Celle/LG Lüneburg)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen eine Kostenentscheidung mangels Rechtswegerschöpfung; Erledigung; Unterlassen eines Fortsetzungsfeststellungsantrages).

§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 121 Abs. 2 Satz 2 StVollzG; § 115 Abs. 3 StVollzG

Zwar kann eine Kostenentscheidung selbständiger Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (vgl. BVerfGE 74, 78, 90). Dies gilt aber nicht, soweit damit in kostenrechtlicher Einkleidung mittelbar Sachfragen zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellt werden, die nicht mehr in zulässiger Weise unmittelbar zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht werden können.