HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1149
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 806/08, Beschluss v. 11.06.2008, HRRS 2008 Nr. 1149
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 31. März 2008 - 1 Ws 198/08 - und der Beschluss des Landgerichts Würzburg vom 19. Februar 2008 - JK Ns 832 Js 15960/05 Jsch - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft.
1. a) Gegen den Beschwerdeführer erging am 28. Juni 2006 Haftbefehl des Amtsgerichts Würzburg. Er wurde dringend verdächtigt, im Frühjahr oder Sommer 2004 seine 1995 geborene Tochter und deren 1996 geborene Freundin L. sexuell missbraucht zu haben. Als Haftgrund wurde Fluchtgefahr angeführt. Der Haftbefehl wurde am selben Tag vollzogen.
b) Die Staatsanwaltschaft erhob am 11. Juli 2006 Anklage zum Amtsgericht Würzburg - Jugendschöffengericht. Der Tatnachweis sollte dabei insbesondere durch die Aussage der Zeugin L. geführt werden. Die Staatsanwaltschaft hatte hierzu unter dem 30. November 2005 die Sachverständige Diplom-Psychologin H. mit der Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens beauftragt, das diese am 6. März 2006 vorlegte und in dem sie die Glaubwürdigkeit der Zeugin bestätigte. Das Amtsgericht ließ die Anklage am 31. Oktober 2006 zur Hauptverhandlung zu. Der Beschwerdeführer beantragte am 23. November 2006, die Sachverständige wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen und eine neue Begutachtung gemäß § 83 Abs. 2 bzw. Abs. 1 StPO anzuordnen. Zur Begründung führte er aus, dass das Gutachten der Sachverständigen unter erheblichen Mängeln leide. Er legte eine Stellungnahme der Diplom-Psychologin Dr. A. vor, die die methodischen Qualitätsstandards der Begutachtung für nicht ausreichend umgesetzt hielt.
c) Am 27. November 2006 setzte das Amtsgericht Würzburg den Haftbefehl außer Vollzug.
d) Die Sachverständige H. gab am 18. Dezember 2007 eine Stellungnahme zum Gutachten der Sachverständigen Dr. A. ab. Durch Beschluss vom 26. März 2007 wies das Amtsgericht Würzburg die Anträge des Beschwerdeführers vom 23. November 2006 zurück. Die Befangenheit der Sachverständigen H. könne nicht festgestellt werden. Selbst wenn die von der Sachverständigen Dr. A. gerügten Mängel vorliegen würden, würden sie keinesfalls den Tatbestand der Willkür bei der Gutachtenserstattung erfüllen. Eine neue Begutachtung sei nicht anzuordnen. Das Gericht könne die vorgeworfenen formellen und materiellen Fehler nicht nachvollziehen. Das Gutachten der Sachverständigen sei in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Sachverständige sei dem erkennenden Richter zudem seit einem Jahrzehnt als erfahrene, zuverlässige und auf dem aktuellsten Stand der aussagepsychologischen Erkenntnis und Forschung stehende Sachverständige aus zahllosen Verfahren vor dem Familiengericht und dem Strafgericht bekannt.
e) Durch Beschluss vom 16. Mai 2007 wurde der Haftbefehl vom 28. Juni 2006 wieder in Vollzug gesetzt. Der Beschwerdeführer befindet sich seit diesem Tag in ununterbrochener Untersuchungshaft. Als weiterer Haftgrund wurde Verdunklungsgefahr angeführt. Der Beschwerdeführer habe den Anzeigeerstatter als "Kinderschänder" bezeichnet und ihn bedroht.
f) Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Würzburg fand am 24. Juli 2007, 14. August 2007, 29. August 2007 und 4. September 2007 statt. Die Sachverständigen H. und Dr. A. erstatteten ihre Gutachten in der mündlichen Verhandlung. Der Beschwerdeführer wiederholte in der Hauptverhandlung seinen Antrag auf erneute Begutachtung. Durch Urteil vom 4. September 2007 wurde der Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. In den Urteilsgründen führte das Amtsgericht aus, dass die den Beschwerdeführer belastende Aussage der Zeugin L. glaubhaft sei. Das Gericht könne die Glaubwürdigkeit aus eigener Sachkunde beurteilen. Aus den Darlegungen der Sachverständigen Dr. A. ergebe sich nichts anderes. Deren geäußerte Kritik beziehe sich allein auf Qualitätsaspekte des aussagepsychologischen Gutachtens, jedoch nicht auf die Frage nach dem Erlebnisgehalt der Aussagen der Zeugin. Das Amtsgericht ordnete durch Beschluss vom 4. September 2007 die Fortdauer der Untersuchungshaft an.
g) Gegen das Urteil legten der Beschwerdeführer und die Staatsanwaltschaft Berufung zum Landgericht Würzburg ein. Das vollständig abgesetzte Urteil wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 10. Oktober 2007 zugestellt. Die Berufungsbegründung der Staatsanwaltschaft erfolgte am 31. Oktober 2007 und die Begründung des Beschwerdeführers am 6. November 2007. Nach Eingang der Berufungsbegründung bei den Justizbehörden in Würzburg am 8. November 2007 legte die Staatsanwaltschaft am 12. November 2007 die Akten dem Landgericht vor, wo sie am 20. November 2007 eingingen.
h) Unter dem 12. Dezember 2007 erließ der Vorsitzende der Großen Jugendkammer des Landgerichts Würzburg eine Verfügung, mit der Prof. Dr. S. beauftragt wurde, vorab ein Gutachten zu der Frage zu erstatten, ob das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 6. März 2006 erhebliche methodische Mängel aufweise und nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspreche. Am 15. Dezember 2007 teilte das Landgericht dem Beschwerdeführer mit, dass Berufungstermine zwischen dem 10. April 2008 und dem 30. April 2008 vorgesehen seien. Der Sachverständige teilte am 28. Dezember 2007 dem Gericht mit, dass er das Gutachten nicht zeitnah erstatten könne. Er könne frühestens in der zweiten Aprilhälfte/Anfang Mai tätig werden. Zur Gutachtenserstattung benötige er zudem die gesamte Akte. Der Vorsitzende der Jugendkammer verfügte unter dem 15. Januar 2008, dass die vorgesehenen Berufungstermine entfallen und der Gutachtensauftrag bestehen bleibt. Die Verfahrensakten gingen bei dem Sachverständigen Prof. Dr. S. am 21. Januar 2008 ein. Dieser teilte am 12. Februar 2008 mit, dass sich die Terminslage bei ihm weiter verschärft habe und er das Gutachten bis spätestens Ende Mai 2008 übersenden werde.
2. Durch Beschluss vom 19. Februar 2008 wies das Landgericht Würzburg den Antrag auf Haftprüfung vom 30. Januar 2008 ohne mündliche Verhandlung als unbegründet zurück.
Es könne dahingestellt bleiben, ob der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe. Jedenfalls sei der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gegeben, woran auch der zwischenzeitliche Umzug der Familie nichts ändere.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei weiterhin gewahrt. Der Hinweis auf die Möglichkeit der Halbstrafe übersehe, dass diese nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB an strenge Voraussetzungen geknüpft sei. Die von der Verteidigung angestellten Erwägungen zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt erschienen angesichts der Berufung der Staatsanwaltschaft und der neuen Anklage wegen Bedrohung des Zeugen zu abstrakt.
3. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Bamberg durch Beschluss vom 31. März 2008 als unbegründet.
Der dringende Tatverdacht ergebe sich aus der Verurteilung durch das Amtsgericht Würzburg vom 4. September 2007. Er werde auch von dem Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt.
Es bestehe der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr. Aufgrund der Bedrohung des Anzeigeerstatters sei der dringende Verdacht gegeben, dass der Beschwerdeführer versuche, auf Zeugen mittels Begehung von Straftaten einzuwirken. Wegen der Bedrohung sei der Beschwerdeführer vom Amtsgericht Würzburg inzwischen auch zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden. Dass Ortswechsel einiger Zeugen diese Gefahr beseitigen könnten, sei abwegig. Es sei dem Beschwerdeführer unschwer möglich, auch andere Orte aufzusuchen oder telefonischen Kontakt aufzunehmen. Ob daneben der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe, sei unerheblich.
Eine Außervollzugsetzung komme nicht in Betracht. Der Beschwerdeführer habe unter Beweis gestellt, dass er ihm im Zusammenhang mit der Außervollzugsetzung eines Haftbefehls erteilte Auflagen und Weisungen missachte.
Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei nicht unverhältnismäßig, auch nicht im Hinblick auf die Straferwartung. Die Verdunkelungsgefahr werde durch die Dauer der Untersuchungshaft nicht nennenswert gemindert. Der Beschwerdeführer strebe einen Freispruch an. Er habe bei Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils in einem veranlassten Gesamtstrafenbeschluss mit einer erheblichen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen. Der zu erwartende Strafrest sei erheblich.
1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Zugleich beantragt er den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Die Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig zur zu erwartenden Strafe. Der Beschwerdeführer befinde sich inzwischen über 16 Monate in Untersuchungshaft. Das Amtsgericht Würzburg habe ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die Hälfte dieser Strafe habe er aber bereits nach 14 Monaten verbüßt, zwei Drittel nach 18 Monaten und 20 Tagen. Selbst wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtige, dass der Beschwerdeführer wegen der Bedrohung zu fünf Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt wurde, wäre bei Gesamtstrafenbildung keine Strafe von mehr als zwei Jahren und sechs Monaten zu erwarten. In diesem Fall läge die Halbstrafe bei 15 Monaten, der Zwei-Drittel-Zeitpunkt bei 20 Monaten. Der Beschwerdeführer könne angesichts der früheren weiträumigen Terminierung der Kammer nicht damit rechnen, dass zeitnah nach der Gutachtenserstattung Ende Mai 2008 die Hauptverhandlung beginne. Ein Berufungsurteil werde nicht vor Ende September 2008 ergehen. Zu diesem Zeitpunkt würde sich der Beschwerdeführer dann schon 21 1/2 Monate in Untersuchungshaft befinden.
Die Gerichte hätten auch das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot verletzt. Die Begutachtung durch Prof. Dr. S. sei zu spät angeordnet worden. Sie hätte bereits nach Vorlage des Gutachtens der Sachverständigen Dr. A. am 23. November 2006 erfolgen können. Da sich das Amtsgericht in seinem Urteil nicht auf das Gutachten der Sachverständigen H. stütze, sei offenkundig, dass das Amtsgericht selbst von dessen Mangelhaftigkeit ausging. Wäre das Gutachten bereits in erster Instanz eingeholt worden, hätte das Verfahren um neun Monate verkürzt werden können. Außerdem sei die Beauftragung des Sachverständigen Prof. Dr. S. verzögert worden. Auch die verzögernd wirkende Überlastung des Sachverständigen könne nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Es ist der Ansicht, dass die Verfassungsbeschwerde unzulässig sei, soweit sie sich gegen den Haftbefehl vom 28. Juni 2006 und gegen den Beschluss des Amtsgerichts Würzburg vom 16. Mai 2007 richte.
Im Übrigen erscheine die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht weitgehend entzogen. Gerichtliche Entscheidungen könnten, abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot, nur auf Auslegungsfehler hin überprüft werden, die auf einer grundsätzlichen unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhten. Danach sei eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht festzustellen.
Gegen das Beschleunigungsgebot sei nicht verstoßen worden. Dass das Amtsgericht die Einholung eines dritten Gutachtens nicht für notwendig gehalten habe, sei eine einfachrechtliche Fragestellung und der Überprüfung durch das Verfassungsgericht entzogen. Die Kritik an dem Gutachten der Sachverständigen H. durch die Sachverständige Dr. A. führe nicht zu einer gerichtlichen Verpflichtung, ein weiteres Gutachten einzuholen, wenn das Gericht nach seiner Auffassung über die erforderliche Sachkunde verfügt. Eine evidente Notwendigkeit zur Einholung eines "Obergutachtens" habe nicht bestanden. Auch andere Verfahrensverzögerungen seien nicht ersichtlich. Die Verlegung der ursprünglich vorgesehenen Hauptverhandlungstermine vom 5. Dezember 2006 und 8. Mai 2007 beruhten auf Anträgen des Beschwerdeführers. Aufgrund von Terminskollisionen sei eine frühere Terminierung nicht möglich gewesen.
Auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils seien keine der Justiz vorzuwerfenden Verfahrensverzögerungen entstanden. Die Urteilserstellung sei ersichtlich nicht an der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ausgerichtet. Das Landgericht habe nach Eingang der Akten unverzüglich den Sachverständigen Prof. Dr. S. beauftragt. Soweit das Landgericht damit seine Sachkunde anders beurteile als das Amtsgericht, führe dies nicht zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots. Die Auswahl des Gutachters müsse dem Gericht vorbehalten bleiben, insbesondere wenn es um die Begutachtung der Gutachten zweier renommierter Sachverständiger gehe.
Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht ersichtlich. Ob der Verurteilte im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung erhalte, sei der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorbehalten und hänge maßgeblich auch von seinem Verhalten ab. Der Strafrest sei auch im Hinblick auf die Berufung der Staatsanwaltschaft erheblich. Die Einschätzung der Fachgerichte in den angefochtenen Beschlüssen, der Verdunkelungsgefahr sei nicht mit milderen Maßnahmen zu begegnen, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Während der Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde ging das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. am 5. Mai 2008 beim Landgericht Würzburg ein. Das Landgericht teilte am 9. Mai 2008 mit, dass als Hauptverhandlungstermine der 19., 23., 24. und 25. Juni 2008 vorgesehen sind.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Landgerichts Würzburg vom 19. Februar 2008 und des Oberlandesgerichts Bamberg vom 31. März 2008 richtet, zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93c i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und - in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eröffnenden Weise - auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
1. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf im Rechtsstaat nur einem rechtskräftig Verurteilten vollständig die Freiheit entzogen werden. Der Freiheitsentzug eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358 <371>), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegen gehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 <347>, sowie BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Zwischen beiden Belangen muss abgewogen werden.
2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (BVerfGE 20, 45 <49 f.>). Außerdem vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>).
3. Zu beachten ist das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. BVerfGE 46, 194 <195>), das verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <273>). An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert (BVerfGK 7, 421 <427>). Das Beschleunigungsgebot verliert seine Bedeutung auch nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es ist auch darüber hinaus bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten (BVerfGK 5, 109 <117>). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist (BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <270 ff.>; 53, 152 <161 f.>). Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen.
4. Der Grundrechtsschutz beeinflusst auch das Verfahrensrecht. Das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131 <143>). Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation (vgl. BVerfGE 17, 108 <117 ff.>; 42, 212 <219 f.>; 46, 325 <334 f.>) des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, insbesondere durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen, Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 f.>). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Zu berücksichtigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens, die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB - das hypothetische Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe sowie Verzögerungen des Verfahrens. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>).
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts nicht gerecht.
1. Sie lassen die gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch nicht erkennen. Das Landgericht begründet die Verhältnismäßigkeit lediglich damit, dass eine Strafaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht in Betracht komme und die Erwägungen des Verteidigers zur Haftentlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu abstrakt seien. Das Oberlandesgericht verweist ausschließlich floskelhaft darauf, dass der Beschwerdeführer mit einer erheblichen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen habe und der zu erwartende Strafrest erheblich sei. Konkrete Überlegungen zu der Höhe der noch zu verbüßenden Reststrafe werden nicht niedergelegt. Die Gerichte gehen weder auf den Verfahrensablauf noch auf mögliche Verzögerungen sowie deren Ursachen ein. Den angegriffenen Entscheidungen fehlen sowohl die notwendigen Feststellungen wie auch die darauf aufbauenden Bewertungen, so dass eine nachvollziehbare und sachgerechte Abwägung nicht gewährleistet ist. Sie können schon deshalb keine tragfähige Grundlage für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft sein.
2. Bei der vorzunehmenden Abwägung wird das Oberlandesgericht zu berücksichtigen haben, dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft erhöht (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. September 1999 - 2 BvR 1775/99 -, NStZ 2000, S. 153; BVerfGK 7, 140 <156>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, StV 2008, 198 <199>).
Zwar hat sich mit der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Amtsgericht das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert; denn die Begehung der Straftat ist nach der Beweisaufnahme als erwiesen angesehen worden. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, führt zu keiner anderen Beurteilung; denn die eingelegte Berufung beseitigt nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (BVerfGK 5, 109 <122>; 7, 140 <161>). Das rechtfertigt es aber grundsätzlich nicht, einen Verurteilten bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft zu halten. Dem steht schon der Resozialisierungszweck der Strafhaft entgegen; denn wird die verhängte Freiheitsstrafe durch Anrechnung der Untersuchungshaft zum überwiegenden Teil oder gar vollständig verbüßt, so können die im Rahmen des Vollzugs der Strafhaft möglichen Maßnahmen zur Resozialisierung nur in geringem Ausmaß oder überhaupt keine Wirkung entfalten (BVerfGK 5, 109 <122>; 7, 140 <162>). Dieser Rechtsgedanke erfordert es auch, dass bei der Ermittlung der Dauer der zu erwartenden Strafhaft eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB jedenfalls dann berücksichtigt werden muss, wenn sie im konkreten Fall zu erwarten ist (vgl. BVerfGK 7, 140 <162>; OLG Celle, Beschluss vom 22. April 2002 - 2 StE 6/01 -, NStZ-RR 2002, S. 254; OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1992 - 3 Ws 540/92 -, JURIS; OLG Bamberg, Beschluss vom 19. April 1989 - Ws 148/89 -, StV 1989, S. 486; OLG Frankfurt, Beschluss vom 16. Juni 1986 - 1 Ws 146/86 -, NStZ 1986, S. 568; LG Köln, Beschluss vom 24. Juni 1998 - 110-13/97 -, StraFo 1998, S. 351; LG Zweibrücken, Beschluss vom 29. September 1994 - 1 Qs 135/94 -, StV 1994, S. 589; Boujong, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 112 Rn. 48; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1996, § 120 Rn. 10; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl. 2006, § 120 Rn. 4).
Das Oberlandesgericht hat daher in seine Abwägungsentscheidung den noch konkret zu erwartenden Strafrest einzubeziehen. Dabei wird es auch eine mögliche Aussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen haben, zumal der Beschwerdeführer zuvor nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Dass über den Beschwerdeführer noch keine Erkenntnisse aus der Strafhaft vorliegen, die die Prüfung der Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB ermöglichen, und dass auch ein Sachverständigengutachten nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO, § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB noch nicht erstellt wurde, rechtfertigt nicht den völligen Wegfall der Prognoseentscheidung (vgl. auch BVerfGK 7, 140 <162>).
3. Neben der zeitlichen Begrenzung der Untersuchungshaft durch die zu erwartende Strafe nehmen mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache zu. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsanspruch kommt es auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, wobei mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft höhere Anforderungen an das Vorliegen eines sie rechtfertigenden Grundes zu stellen sind (BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Dies bedingt eine auf den Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei bei einer Dauer der Untersuchungshaft von 18 Monaten im Einzelfall schon eine Verzögerung von sechs Wochen als Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen angesehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. September 1999 - 2 BvR 1775/99 -, NStZ 2000, S. 153 <154>).
Insoweit begegnet die Verfahrensbehandlung vor dem Amtsgericht Bedenken. Dabei ist zu beachten, dass der Grundsatz der Beschleunigung in Haftsachen auch dann gilt, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist (vgl. BVerfGE 53, 152 <159 f.>). Dem Beschleunigungsgebot ist - sofern nicht besondere Umstände vorliegen - nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Februar 2007 - 2 BvR 2563/06 -, NStZ-RR 2007, 311 <313>). Das Oberlandesgericht wird deshalb im Einzelnen zu erwägen haben, ob die Verschiebung der Hauptverhandlung nach Zulassung der Anklage am 31. Oktober 2006 vom ursprünglich vorgesehenen Termin am 5. Dezember 2006 auf den 24. Juli 2007 aufgrund der Nachermittlungen und dem Verteidigerverhalten gerechtfertigt war. Es wird zu berücksichtigen haben, dass in der Zeit von Ende Dezember 2006 bis 26. März 2007 keine verfahrensfördernden Handlungen vorgenommen wurden, obwohl die Stellungnahme der Sachverständigen H. zum Antrag vom 23. November 2006 bereits am 18. Dezember 2006 dem Gericht vorlag und die polizeilichen Nachermittlungen bereits am 21. Dezember 2006 abgeschlossen waren.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch das Oberlandesgericht und das Landgericht festzustellen. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 19. Februar 2008 herbeizuführen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, wird von einer Begründung abgesehen (§93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 1149
Externe Fundstellen: StV 2008, 421
Bearbeiter: Karsten Gaede