Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
mit der Auftaktausgabe der HRRS 2008 publizieren wir unter anderem einen Beitrag von Prof. Dr. Jörg Arnold, der sich dem "Schutz des europäischen Strafverteidigers" vor dem Hintergrund der ernsthaft diskutierten Einführung eines europäischen Strafverfahrens widmet. Ebenfalls publizieren wir einen Beitrag von Wiss. Ass. Stephan Schlegel, der verdeutlicht, wie der neu eingeführte § 110 Abs. 3 StPO zu handhaben ist.
Zu den aufgenommenen Entscheidungen zählt insbesondere die Entscheidung Mooren v. Deutschland, mit der Deutschland abermals wegen einer unzureichenden Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren durch den EGMR verurteilt worden ist. Weitere erwähnenswerte Entscheidungen des BGH betreffen insbesondere rechtswidrige Ermittlungsmaßnahmen im Vorfeld des G-8-Gipfels in Heiligendamm. Besonders hervorhebenswert sind auch die vom 1. Strafsenat aufgestellten Anforderungen an die Überzeugungsbildung und ihre Darstellung bei Verurteilungen auf Grund eines im Wege einer Verfahrensabsprache geleisteten Geständnisses eines ehemals angeklagten Belastungszeugen.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter
1. Das von Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährte Haftprüfungsverfahren muss dem Recht auf Gehör entsprechen und die Waffengleichheit unter den Beteiligten wahren. Die Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger des Inhaftierten der Zugang zu den Dokumenten der Verfahrensakte verweigert wird, die für eine effektive Verteidigung gegen die Inhaftierung erforderlich sind. Das Bedürfnis zu einer effektiven Strafverfolgung darf auch im Ermittlungsverfahren nicht um den Preis erheblicher Einschränkungen der Verteidigungsrechte verfolgt werden. Informationen, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung erforderlich, sind dem Verteidiger des Beschuldigten auf eine angemessene Art und Weise zugänglich zu machen.
2. Diesen Anforderungen genügt es auch in Steuerstrafverfahren nicht, wenn dem Verteidiger eine schriftliche Zusammenfassung der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit wesentlichen Informationen aus der Verfahrensakte vorgelegt wird, die von der Staatsanwaltschaft (BuStra/StraBu) verfasst worden ist und die zugrunde liegenden Beweismittel nicht angibt. Dies gilt selbst
dann, wenn dem Beschuldigten – nicht aber zugleich dem Verteidiger – Teile der zugrunde liegenden Beweismittel bekannt sein dürften. Auch mündliche Zusammenfassungen zu den angenommenen Fakten und Beweismitteln seitens des Gerichts genügen den Anforderungen nicht.
3. Eine spätere Anerkennung durch ein Gericht, dass das Recht auf Akteneinsicht zunächst verletzt wurde, auf Grund derer die Akteneinsicht nachträglich gewährt wurde, heilt den Verstoß jedenfalls dann nicht, wenn sie selbst nicht zügig erfolgt: Der Schutz der Rechte des Art. 5 EMRK kann nur effektiv sein, wenn seinen Garantien zügig entsprochen wird.
4. Art. 5 Abs. 4 EMRK garantiert ein Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung und eine zügige Anordnung der Freilassung, wenn sich die Inhaftierung als rechtswidrig erweist. Die Frage, wann das Recht auf eine zügige Entscheidung respektiert worden ist, muss unter Einbeziehung der gesamten Umstände des einzelnen Falles beantworten werden und anhand eines Standards entschieden werden, der angesichts der Betroffenheit der persönlichen Freiheit strikt sein muss. Zum Einzelfall einer Verletzung, die wesentlich durch eine verzögerte Rückverweisung an das zuständige Gericht entstanden ist.
5. Beruft sich eine Regierung auf die Nichtausschöpfung nationaler Rechtsmittel hat sie den EGMR zu überzeugen, dass die betroffenen Rechtsmittel zur fraglichen Zeit theoretisch und praktisch zugänglich waren, realistische Erfolgsaussichten hatten und hinsichtlich der Beschwerden des Beschwerdeführers Abhilfe hätten schaffen können. Zum Ungenügen des Verfahrens nach § 147 Abs. 5 StPO hinsichtlich einer Beschwerde wegen der Rechtswidrigkeit einer Untersuchungshaft.
1. Beschränkungen in der Untersuchungshaft sind nur zulässig, wenn sie erforderlich sind, um eine reale Gefahr für die in § 119 Abs. 3 StPO genannten öffentlichen Interessen abzuwehren, und dieses Ziel nicht mit weniger eingreifenden Maßnahmen erreicht werden kann (vgl. BVerfGE 35, 5, 9 f.; 35, 311, 321). Dies erfordert konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Haftzwecks oder der Ordnung in der Anstalt (vgl. BVerfGE 35, 5, 10; 57, 170, 177).
2. Die Abgabe einer Urinprobe kann auf § 119 Abs. 3 StPO gestützt werden, wenn sie dazu dient, den schwerwiegenden Gefahren zu begegnen, die vom Konsum von Betäubungsmitteln für die Sicherheit und Ordnung der U-Haftanstalt ausgehen und konkrete Anhaltspunkte für einen Betäubungsmittelkonsum des betroffenen Gefangenen bestehen.
3. Disziplinarmaßnahmen sind strafähnliche Sanktionen, für die der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Schuldgrundsatz gilt.
4. Es begegnet grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, die Weigerung eines Untersuchungsgefangenen, der Anordnung zur Abgabe einer Urinprobe zu folgen, disziplinarisch zu ahnden.
5. Die auf § 119 Abs. 3 StPO gestützte gerichtliche Anordnung zur Abgabe einer Urinprobe ist als Entscheidung, durch die keine Frist in Lauf gesetzt wird, gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO dem Betroffenen oder seinem durch Vollmacht ausgewiesenen Verteidiger (§ 145a Abs. 1 StPO) formlos mitzuteilen. Da der Zweck der Bekanntgabe darin liegt, der betroffenen Person die Möglichkeit zu eröffnen, ihr weiteres prozessuales Vorgehen abzuwägen, vor allem zu klären, ob sie Rechtsmittel einlegen will, ist dem Betroffenen in der Regel ein Entscheidungsabdruck auszuhändigen.
Bei der Erteilung von Auskünften aus Verfahrensakten oder der Gewährung von Akteneinsicht nach § 475 StPO muss die Auskunft erteilende oder Akteneinsicht gewährende Stelle die schutzwürdigen Interessen der Personen, über welche Informationen in den Akten enthalten sind, gegen das Informationsinteresse der beantragenden Person abwägen und den Zugang zu den Daten gegebenenfalls angemessen beschränken.
1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen ist unzulässig, wenn die Begründung der Verfassungsbeschwerde sich allein in der Darlegung der Verletzung einfachen Rechts erschöpft. Die Begründung nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG erfordert Ausführungen dazu, warum die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer möglicherweise in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt haben.
2. Ein Fall der missbräuchlichen Erhebung einer Verfassungsbeschwerde, welcher zur Auferlegung einer Missbrauchsgebühr führen kann, liegt insbesondere dann vor, wenn die Erhebung der Beschwerde jedem Einsichtigen von vornherein völlig aussichtslos erscheint. (Vorliegend wiederholte wortgleiche Einlegung trotz bereits ergangener Nichtannahmeentscheidung.)