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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2007
8. Jahrgang
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1. Zum notwendigen Umfang der Prüfung, ob Tatsachen für den Richter des Ausgangsverfahrens erkennbar waren, und zu den Anforderungen an die Darstellung im Urteil. (BGHSt)
2. "Erkennbar" sind Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären müssen, um entscheiden zu kön-
nen, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66a StGB anzuordnen ist, bzw. solche Tatsachen, die der Tatrichter nach dem Maßstab der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zur Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu erforschen hatte und bei hinreichender Aufklärung gefunden hätte (BGH NStZ-RR 2006, 172). Keine "neuen" Tatsachen sind daher auch solche Tatsachen, für die es im Ausgangsverfahren Anhaltspunkte gegeben hat, die aber damals vom Gericht unbeachtet geblieben sind. (Bearbeiter)
3. Die Sicherungsverwahrung ist - unabhängig von der Art ihrer Anordnung (§§ 66, 66a oder 66b StGB) - eine außerordentlich beschwerende Maßnahme und zugleich der intensivste Eingriff in das Freiheitsrecht, der nach dem Strafgesetzbuch angeordnet werden kann. Für die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB kommt hinzu, dass sie den Bestand eines rechtskräftigen Urteils berührt. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein (BGHSt 50, 121, 126; BVerfG [Kammer] StV 2006, 574 Rdn. 18). An die Annahme "neuer" Tatsachen sind deshalb strenge Anforderungen zu stellen. (Bearbeiter)
4. Es kommen nur solche Umstände als "neue" Tatsachen in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Nur so ist sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (BGHSt 50, 121, 126; BVerfG [Kammer] StV 2006, 574 Rdn. 18). (Bearbeiter)
5. "Neu" sind demgegenüber solche Tatsachen, die dem letztinstanzlich zuständigen Gericht im Ausgangsverfahren auch bei pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner Aufklärungspflicht nicht hätten bekannt werden können. (Bearbeiter)
6. Der neue Richter darf eine Tatsache, die zum Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens schon bestanden hat, nur dann als neu ansehen und auf sie die Anordnung nach § 66b StGB stützen, wenn er die Überzeugung gewinnt, dass damals insofern nicht gegen § 244 Abs. 2 StPO verstoßen worden ist. Dies kann nur auf der Grundlage der Kenntnis aller relevanten Einzelheiten des Ausgangsverfahrens - namentlich des ursprünglichen Urteils, aber auch der Akten des Ausgangsverfahrens - entschieden werden. (Bearbeiter)
7. Jedenfalls dann, wenn die jetzt als neue Tatsachen gewerteten Fakten aus nachträglicher Sicht im Zeitpunkt der Ausgangsentscheidung tatsächlich schon vorhanden waren, aber nicht erkannt worden sind, werden regelmäßig nähere Darlegungen notwendig sein, warum sie für das Ausgangsgericht nicht erkennbar waren. (Bearbeiter)
1. Eine frühere Verurteilung zu einer einheitlichen Jugendstrafe nach § 31 JGG erfüllt bei der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung den Tatbestand des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur dann, wenn zu erkennen ist, dass der Täter wenigstens bei einer der zugrundeliegenden Straftaten eine Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hätte, sofern sie als Einzeltat gesondert abgeurteilt worden wäre. Hiervon darf nur ausgegangen werden, wenn der Tatrichter Feststellungen darüber treffen kann, wie der Richter des Vorverfahrens die einzelnen Taten bewertet hat; er darf sich hingegen nicht an dessen Stelle setzen und im Nachhinein eine eigene Strafzumessung vornehmen.
2. Bei der Entscheidung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf der symptomatische Zusammenhang zwischen Anlasstaten und künftig zu befürchtenden erheblichen rechtswidrigen Taten nicht allein deswegen verneint werden, weil außer einer Sucht noch weitere Persönlichkeitsmängel eine Disposition für die Begehung von Straftaten begründen.
1. Die in § 56 Abs. 1 StGB vorausgesetzte Erwartung, der Angeklagte werde künftig keine Straftaten mehr begehen, ist nicht auf die Dauer der jeweiligen Bewährungszeit begrenzt. Ein neuer Tatrichter darf bei der Zumessung der Strafe und beim Stellen der Prognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB berücksichtigen, dass der Angeklagte zwar mehrere Bewährungszeiten durchgestanden hat, dann aber doch immer wieder straffällig geworden ist (BGH, Urteil vom 7. Januar 1992 - 1 StR 599/91 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 22).
2. Ist ein Täter von einem Versuch freiwillig zurückgetreten, kann der auf die versuchte Tat gerichtete Vorsatz nicht im Rahmen der Strafzumessung für ein damit in engem Zusammenhang stehendes vollendetes Delikt herangezogen werden. Dies gilt nach bisheriger Rechtsprechung auch dann, wenn sich der Vorsatz der versuchten Tat, von der der Täter zurückgetreten ist, mit dem Motiv für das vollendete Delikt überschneidet, es sei denn, anders wäre eine zutreffende und vollständige Bewertung der vollendeten Tat nicht möglich.
1. Bei einer Tötung im Grenzbereich der Notwehr kann insbesondere bei Überschreitung der Grenzen der Notwehr ohne Erreichen der Voraussetzungen des § 33 StGB (BGH, Beschluss vom 29. März 2000 - 2 StR 71/00) bereits allein aus diesem Grunde die Annahme eines minder schweren Falles im Sinne des § 213, 2. Alt. StGB in Betracht kommen.
2. Im Rahmen der bei der Prüfung eines minder schweren Falles erforderlichen Gesamtbetrachtung sind alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (BGHSt 26, 97, 98 f.).
1. Die Diagnose "Persönlichkeitsstörung" ist nicht gleichbedeutend mit derjenigen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB, denn eine Persönlichkeitsstörung kann auch gegeben sein bei Charaktereigenschaften, die noch dem Normbereich menschlichen Wesens und Verhaltens zugerechnet werden können.
2. Für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung stets nur unter engen Voraussetzungen und nur dann genügen, wenn feststeht, dass der Täter auf Grund dieser Störung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat. Für eine solche Annahme bedarf es einer Gesamtschau, ob die Störungen beim Täter in ihrer Gesamtheit sein Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen.
1. Nach dem Bruttoprinzip unterliegt nicht nur der Gewinn, sondern grundsätzlich alles, was der Täter aus der Tat erhalten hat, dem Verfall. Bei der Berechnung des aus einem Drogenverkauf Erlangten ist deshalb vom gesamten Erlös ohne Abzug des Einkaufspreises und sonstiger Aufwendungen auszugehen (st. Rspr., vgl. nur BGHSt 47, 369, 370).
2. Eine Entscheidung nach § 73 c Abs. 1 Satz 2 1. Alt. StGB scheidet regelmäßig aus, wenn der Angeklagte noch über Vermögen verfügt, das wertmäßig nicht hinter dem anzuordnenden Verfallbetrag zurückbleibt (BGHR StGB § 73 c Wert 2 = NStZ 2000, 480). Verfügt der Täter über Vermögen, liegt es nahe, dass der Wert des Erlangten in diesem noch vorhanden ist, es sei denn, es stünde zweifelsfrei fest, dass ein Vermögenswert ohne jeden denkbaren Bezug mit den abgeurteilten Straftaten erworben wurde (vgl. BGHSt 48, 40, 42/43).
3. Erlangt im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB ist nur das, worüber der Täter oder Teilnehmer auch tatsächlich Verfügungsgewalt erlangt hat. Bei mehreren Tatbeteiligten genügt jedoch die Erlangung einer (faktischen) wirtschaftlichen Mitverfügungsgewalt (vgl. BGH NStZ 2003, 198, 199; BVerfG StV 2004, 409, 411; 2006, 449, 450). Die aus der Straftat erlangten Betäubungsmittel als solche unterliegen nicht dem Verfall, sondern als Beziehungsgegenstände der Einziehung nach § 33 Abs. 2 BtMG (Senat, Beschluss vom 8. November 2001 - 4 StR 429/01; BGH NStZ-RR 2002, 118, 119).
1. Das bloße Leugnen der Tat darf ebenso wie bei der eigentlichen Strafzumessung auch bei der Entscheidung über die Sozialprognose im Rahmen einer etwaigen Strafaussetzung zur Bewährung nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden.
2. Die gemäß § 56 Abs. 1 StGB zu treffende Entscheidung über die Sozialprognose kann für einen bestimmten Zeitpunkt grundsätzlich nur einheitlich getroffen werden. Damit scheidet regelmäßig die Entscheidung aus, bei zwei nicht zu einer Gesamtstrafe zusammengezogenen Freiheitsstrafen eine Strafe zur Bewährung auszusetzen und die andere Strafe unbedingt auszusprechen (vgl. auch § 56 Abs. 4 Satz 1 StGB).
Nach § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO muss die Anordnung einer Maßregel aus sich heraus verständlich im Urteil begründet werden. Gebotene eigene Urteilsfeststellungen oder Würdigungen dürfen nicht durch Bezugnahmen ersetzt werden, weil sonst eine revisionsgerichtliche Kontrolle nicht möglich ist (BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Bezugnahme 3; BGH NStZ-RR 2000, 304; BGH NStZ-RR 2007, 22; BGH, Beschluss vom 9. Januar 2007 - 5 StR 489/06).
Hinsichtlich der materiellen Voraussetzung der Gefährlichkeit für die Allgemeinheit nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB, auf welche in § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB verwiesen wird, ist auf den Zeitpunkt der Aburteilung abzustellen (st. Rspr., vgl. BGHSt 24, 160, 164). Auch darf der Tatrichter dabei die voraussichtlichen Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs berücksichtigen, soweit dieser eine Haltungsänderung erwarten lässt (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1). Jedoch bleiben denkbare, aber nur erhoffte positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug der Überprüfung nach § 67c Abs. 1 StGB vor Ende des Vollzugs der Strafe vorbehalten (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 337).
1. Der nach § 64 Abs. 1 StGB erforderliche Hang, alkoholische Getränke oder andere Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, setzt keine körperliche (physische) Abhängigkeit voraus (st. Rspr.), sondern es genügt eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen (vgl. BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 1 und 5).
2. Das Fehlen einer Persönlichkeitsdepravation und von Entzugssymptomen können für das Vorliegen eines "Hanges" indiziell sein, ihr Fehlen muss aber nicht zu dessen Verneinung führen.