HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2007
8. Jahrgang
PDF-Download

Schrifttum

Detlef Burhoff: Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung; 5. Auflage, ZAP-Verlag für die Rechts- u. Anwaltspraxis, Münster 2006, 1008 Seiten, 89,00 €.

Wer sich heute einen präzisen Überblick über die Fülle der Institute des gemeinen Rechts, ihre Ausgestaltung und ihre tatsächlich-profane Bedeutung in der Verfahrenswirklichkeit des 15. und 16. Jahrhunderts verschaffen will, kommt an der Literaturgattung der so genannten 'Repertorien' nicht vorbei. In dickem Schweinsleder gebunden, überstanden die mitunter großformatigen und abgegriffenen Folianten besser als andere juristische Zeugnisse ihrer Zeit die Jahrhunderte, Kriege, Verwüstungen und Feuersbrünste. Dies lag allerdings nicht an der Qualität ihres Einbandes oder des verwendeten Papiers, sondern daran, dass diese Werke, darunter beispielhaft die im Jahre 1545 entstandene Locisammlung 'Topicorum legalium' des Johann Oldendorp (um 1487 - 1567) oder das berühmte, bereits 1481 in Rom und zwei Jahre später auch in Nürnberg erschiene 'Repertorium' des Johannes Bertachinus (um 1448-1497), eine geradezu massenhafte Verbreitung mit entsprechenden Auflagenstärken erreichten.

Worin lag das Erfolgsgeheimnis dieser Kompendien? Sie folgten einem gänzlich anderen Aufbau als die gängige gelehrte Literatur ihrer Zeit, indem sie die Rechtsschriften, Standpunkte und Rechtsregeln ('brocarda') der ' multos doctores ' zu Registern bzw. schematisch aufgebauten Kollektanten im Sinne von 'loci-Sammlungen' mit didaktischem Anspruch zusammen stellten und unter rigoroser Abkehr vom mitunter gestelzten Stil der zeitgenössischen Rechtsliteratur eine bis dato unbekannte Praxistauglichkeit erreichten.

Wie damals kann eine vergleichbare Leistung auch heute nur von einem Spitzenvertreter seiner Zunft erwartet werden, zu denen der renommierte Verfahrensrechtler und Richter am Oberlandesgericht Hamm Detlef Burhoff seit Jahren fraglos zählt. Die Neuauflage seines "Handbuchs für die strafrechtliche Hauptverhandlung" über-

trifft freilich aufs Neue den allzu bescheidenen eigenen Anspruch, Wissensdefizite vornehmlich auf Verteidigerseite zu schließen. Denn über diesen Stand ist das Werk nicht erst seit seiner nunmehr vorliegenden 5. Neuauflage längst hinausgewachsen. Mag auch die spezifische Ausrichtung des Werkes, u.a. mit einem wahren Füllhorn von die Verteidigungstaktik betreffenden Hinweisen, Verweisungen und zusätzlich - wie schon bei dem vom selben Autor erst unlängst in 4. Auflage (Oktober 2006) vorgelegten "Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren" - auf einer CD-ROM mitgelieferten Mustertexten erklärtermaßen am Blickwinkel des Strafverteidigers orientiert sein. Der aus ihm zu ziehende Nutzen ist für die übrigen professionellen Akteure des Strafverfahrens nicht geringer. Im Gegenteil: Die - den großen rechtshistorischen Vorgängern sehr ähnliche - Darstellung in der "ABC-Form" ermöglicht eine völlig neue induktive Erkenntnisgewinnung, die kein herkömmliches Kommentarwerk oder Lehrbuch zu leisten im Stande ist. Das selbstredend auf den neuesten Stand von Gesetzgebung und Rechtsprechung gebrachte sowie erheblich (u.a. im Revisionsverfahren) erweiterte Werk ist schon deshalb nicht nur eine - wie der Autor meint - "praktische Arbeitshilfe". So richtig die Feststellung ist, dass das Werk den StPO-Kommentar weder ersetzen kann noch will, so berechtigt erscheint die Aussage, dass jedenfalls der nicht ganz unerfahrene Praktiker, sei er Verteidiger, Staatsanwalt oder Richter, in der mehr denn je auf Schnelligkeit, Spontaneität sowie nicht zuletzt auf informelle Verfahrenserledigung angelegten Hauptverhandlung unserer Tage sich erst zusammen mit dem vorliegenden - soweit ersichtlich in seiner Art weiterhin einzigartigen - Kompendium als hinreichend gewappnet wähnen darf, die Untiefen einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung unbeschadet zu überstehen. Den Siegeszug der Burhoff'schen 'Repertorien' wird es ohne jeden Zweifel fortsetzen!

Richter am OLG Dr. Georg Gieg , Bamberg

***

Thomas Hillenkamp (Hg.): Neue Hirnforschung - Neues Strafrecht?, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006, Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V., hg. von: Deutsche Strafverteidiger e.V., Bd. 31, ISBN 3-8329-2077-3, 126 S., br., € 24.-.

Im Kernteil des kleinen Bandes (S. 35-110) stehen vier Referate zum Verhältnis von Hirnforschung und Strafrecht, die auf der 15. Alsberg-Tagung (2005) von allesamt bestens ausgewiesenen Kennern der Materie gehalten wurden. - Der Neurobiologe Grothe wendet sich dagegen, die Daten, die bei einer Messung von unbewusst aufgebauten Handlungsneigungen, sogenannten "Bereitschaftspotentialen", gewonnen wurden, für die Lösung des Problems der (Un-) Freiheit des Willens heranzuziehen: "... wenn man sich mehr oder weniger auf die Messung der Bereitschaftspotentiale stützt, kann man seriöserweise den freien Willen weder beweisen noch abstreiten" (S. 42). In der Tat, wer so sucht, dass er nur Kausalzusammenhänge finden kann, wird allenfalls Kausalzusammenhänge finden. Grothe legt dar, das Gehirn sei nur anfangs "ganz den Genen und der Umwelt ausgeliefert", mit "zunehmender Komplexität" würden sich freilich "interne Bewertungsmechanismen, Ich-Bewußtsein und ein Wertesystem" entwickeln (S. 47). Da das Gehirn nicht "hierarchisch" und "sequenziell" arbeite, sei seine Tätigkeit solchermaßen "dynamisch, dass jede Vorstellung, aus einem physiologischen Zustand könne man mit Sicherheit neue Zustände ableiten, ein geradezu absurdes Gedankenspiel" sei (S. 47). - Die Antwort auf die Freiheitsfrage bleibt nach Grothe offen (S. 48).

Der Psychologe Prinz will nicht nur "über die Willensfreiheit selbst" reden, sondern auch über "die Idee der Willensfreiheit als kollektive Vorstellung und Konstruktion" (S. 51). Zu dieser Konstruktion komme es trotz der "subpersonalen Produktion" von Handlungsentscheidungen (S. 56: "Entscheidungen kommen zu Stande, ohne dass da jemand wäre, der sie trifft"), und zwar als Konstruktion des "wahrgenommenen Selbst" (S. 58), dem in "Attributionsdiskursen" die "Rolle des Autors" zugewiesen werde. Deshalb bezeichnet Prinz den freien Willen als eine "soziale Institution" und stellt ausdrücklich die sich aufdrängende Frage, wofür diese Institution "eigentlich gut" sein soll (S. 59). Die Antwort lautet: Subjektiv soll die Selbstwahrnehmung der Freiheit bei Entscheidungen "retardierend" wirken und damit für eine vertiefte Bearbeitung sorgen (S. 60); sozial soll die Freiheitszuschreibung einen "Erklärungsregress" aufs Kausierte abschneiden: "Verantwortlichkeit ist der Preis der Freiheit" (S. 61). Mit anderen Worten: Hirnstrukturen und Zurechnungsstrukturen sind nicht dasselbe. - Dieses Modell von Prinz ist hinreichend differenziert, um mit ihm auch juristisch arbeiten zu können, mehr noch, es wiederholt, wie der Rezensent mit Genugtuung feststellt, bis in die Formulierungen hinein die Kernaussage des so genannten funktionalen Schuldbegriffs. - Wenn Prinz am Ende den "freien Willen" als ein Artefakt bezeichnet, wie etwa ein Rad ein Artefakt ist, verliert sich allerdings die normative Struktur der Gesellschaft in den Techniken des Umgangs mit der äußeren Welt.

Der Psychiater Kröber wirft den Hirnforschern "Biologismus" vor, also den Fehler, "naturwissenschaftlich-biologisch beschreibbare Sachverhalte ... als entscheidende Ursache gesellschaftlicher Phänomene und sozialer Unterschiede" zu behandeln (S. 65 f.). Als begnadeter Polemiker formuliert er: "Anstelle des Textes von 'Romeo und Julia' einfach Laborwerte zu Hormonen und elektrischem Hautwiderstand - da wäre man auf Seiten der harten Fakten und der wissenschaftlichen Wahrheit" (S. 66). Er kann so formulieren, weil er davon ausgeht, es bestehe "in Wahrheit Einmütigkeit darüber, dass die bisherige naturwissenschaftliche Hirnforschung komplexe Konstrukte wie Bewusstsein, Willen, Entscheidung nicht operationalisieren kann" (S. 73). Kröber verweist auf einige Vorläufer der in Rede stehenden Lehren in der neueren Geschichte, etwa auf die Zuordnung des Problems der Psychopathien zur Psychiatrie und auf die Leh-

ren von Lombroso und von Liszt (S. 75 ff.); er resumiert: "Die Psychiatrie weiß, gewappnet durch die zwei Jahrhunderte der Debatte, dass ihre Gegenstände nicht reduzierbar sind auf die Schwankungen elektrischer Feldpotentiale oder andere physikalisch fassbare Phänomene" (S. 77).

Das letzte Referat stammt von dem Strafrechtler Hillenkamp, der etwas erstaunt auf Prinz blickt, weil dieser, wie skizziert, neben den Naturwissenschaften das System (Hillenkamp: "Spiel", S. 91) "von Moral und Recht" zulässt. Hillenkamp richtet sich entschieden gegen die radikalere (auch nach Ansicht des Rezensenten mit allen Nachteilen eines monistischen Materialismus belastete) Position von Singer und Roth und zeigt die Konsequenzen: "ein Volk von Geschäftsunfähigen, ... Wahlunfähigen" (S. 95). Im Ergebnis will Hillenkamp "das Schuldstrafrecht retten" (S. 101), aber weder wegen der "individuellen Gewissheit, frei zu sein" (S. 101 f.), noch wegen eines Übergangs zu einem generalisierenden Schuldbegriff (S. 103) noch wegen der Vorgaben des positiven Rechts und der gefestigten Rechtsprechung (S. 105), sondern wegen der (wie bestimmten?) Vorzugswürdigkeit einer "gemäßigt indeterministischen" Position (S. 106). Hillenkamp beruft sich auf Bieri, wonach "'unser Wille frei ist, wenn er sich unserem Urteil fügt, was zu wollen richtig ist'" (S. 107), also wenn er unseren Handlungsgründen folgt, und zwar ohne Zerreißung des Zusammenhangs der Gründe durch Handlungsursachen (S. 109).

Die vier Vorträge spiegeln nicht nur den aktuellen Stand der Diskussion, sondern bilden selbst einen Teil dieses Standes. Es besteht deshalb ein guter "Grund", den kleinen Band in die Hand zu nehmen und sich durch eigene Lektüre genauer zu informieren; ob eine "Ursache" besteht, ein entsprechendes "Bereitschaftspotential" aufzubauen, entzieht sich juristischem Sachverstand.

Prof. Dr. Dr. h. c. (mult.) Günther Jakobs , Bonn

***