HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2007
8. Jahrgang
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Schrifttum

Hans Achenbach; Ransiek, Andreas: Handbuch Wirtschaftsstrafrecht (HWSt); bearbeitet von Ulrich Bente u.a.; 1084 Seiten, C.F.Müller, Heidelberg 2004; 110,- €; ISBN 3-8114-2974-4.

Der anhaltende Boom des Wirtschaftsstrafrechts hat in den letzten Jahren zu einer ganzen Reihe von Publikationen geführt, die sich diesem Thema gesamthaft in Lehr- oder Handbüchern widmen. So umstritten, wie der Begriff des Wirtschaftsstrafrechts selbst ist, so sehr unterscheiden sich auch die thematischen Zuschnitte der Publikationen. Das hier besprochene "Osnabrücker Handbuch", das von Achenbach und Ransiek herausgegeben wird, die auch für den Magisterstudiengang im Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Osnabrück verantwortlich zeichnen, stellt sich partiell als Neuauflage des "Beraterhandbuchs zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht" dar. Es wählt nach der eigenen Darstellung "die zentralen Materien des Wirtschaftsstrafrechts unter Einschluss der als Ordnungswidrigkeiten ausgestalteten Tatbestände" als Inhalte des Wirtschaftstrafrechts aus, ohne den Begriff des Wirtschaftsstrafrechts im Übrigen näher zu beleuchten. Ausgeklammert bleiben das Steuerstrafrecht und das Umweltstrafrecht, welche die Herausgeber als selbstständige Materien eigener Prägung verstehen. Nach der Konzeption des Handbuches werden zunächst die Querschnittsmaterien der Sanktionierung von Unternehmen, die Zurechnung unternehmensbezogenen Handelns und die strafrechtliche Produkthaftung in zwei ersten Kapiteln erörtert. Im Anschluss folgen weitere elf Kapitel in denen sich Kommentierungen verschiedenster Tatbestände bzw. Tatbestandsgruppen finden, die sich aus gutem Grund als wirtschaftsstrafrechtlich bedeutsam bezeichnen lassen. So werden etwa unter dem Titel Kapitalmarktdelikte die Tatbestände des BörsG und des WpHG dargestellt (Kap. X), zugleich aber auch allgemeine Vermögensdelikte wie Betrug und Untreue (Kap. V) behandelt. Den Herausgebern gelingt es so, diejenigen Delikte zu integrieren, welche die "großen" Wirtschaftsstrafverfahren mehr dominieren als die Delikte des Nebenstrafrechts oder die wenig praktischen §§ 264, 264a, 265a StGB. In vergleichsweise knapper Form widmet sich das letzte Kapitel XIV sodann noch der in praxi enorm bedeutsamen Vermögensabschöpfung und der Zurückgewinnungshilfe.

Das Handbuch will "dazu beitragen, die Zusammenhänge zwischen den Strafnormen und den Bezugsnormen des vorgelagerten Zivil- oder Verwaltungsrechts sowie die Bezüge zum Europarecht zu erhellen". Es will die Strukturen des behandelten Stoffes herausarbeiten und zugleich in die Anwendungspraxis einführen. Hierzu orientieren sich die ausgewogen aus Rechtslehre, Anwalts-, Behörden- und Justizpraxis stammenden 24 Autoren an einem "Prinzip der mittleren Dichte". Es soll praxisgerecht einerseits mehr als eine "karge Einführung oder Übersicht" gegeben werden, ohne "jedoch andererseits die Detailfreude eines Großkommentars anzu-

streben". Zu diesen Zielen haben die Herausgeber fraglos eine ganze Reihe speziell im Wirtschaftsstrafrecht ausgewiesener Autoren gewonnen, die nach den selbst gesteckten Zielen das Handbuch bearbeitet haben. Nun sollen nicht ermüdend alle Deliktskommentierungen aufgezählt und scheinbar erschöpfend dargestellt werden. Folgendes soll aber zu Kapiteln des Werks exemplarisch bemerkt sein, um Eindrücke von den behandelten Themen und von der Art und Weise ihrer Behandlung zu vermitteln.

Achenbach bewältigt zu Beginn des Werks die Zurechnungsprobleme in und die Sanktionen gegenüber Unternehmen. Hierbei widmet er sich ergänzend zum letzten Buchkapitel auch dem Verfall. Kuhlen stellt in einem sehr informativen und zugleich prägnanten Kapitel die strafrechtliche Produkthaftung auf nur 24 Seiten dar, wobei er auch die bislang prägenden bisherigen Anwendungsfälle zur Anschauung bringt und ein Beispiel dafür bietet, dass in dem Handbuch die Verzahnung mit zivilrechtlichen Bezügen geleistet wird. Im Rahmen der "Delikte gegen die staatliche Wirtschaftslenkung" wird neben denjenigen des Wirtschaftsstrafgesetzes insbesondere der Subventionsbetrug behandelt. Auf insgesamt 28 Seiten unterbreitet Wattenberg eine Kommentierung, welche die zahlreichen streitigen Anforderungen dieser eher wenig praktizierten Norm dem Leser näher bringt. Wattenberg spart trotz der praktischen Orientierung des Handbuchs nicht mit Kritik an der in ihrer Legitimation vor allem bei Leichtfertigkeit zweifelhaften Vorschrift. Dagegen, dass dabei die Untersuchung des geschützten Rechtsguts tatsächlich wenig ergiebig ist, wie Wattenberg festhält (Kap. IV 2 Rn. 11 f.), möchte der Rezensent jedoch - bezieht man die Art und Weise seines Schutzes in die Untersuchung gleichbedeutend mit ein - weiter Zweifel anmelden (vgl. Gaede, in: Die Rechtsgutstheorie[2003], hrsg. von Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, S. 183 ff.; siehe dann auch Kap. IV 2 Rn. 48 f.).

Zu den allgemeinen Vermögensdelikten finden sich neben dem Wucher vor allem der Betrug und die Untreue kommentiert. Gallandi kritisiert dabei die Rechtsprechung zum Betrug als "ausufernd", was er etwa am Vermögensschaden festmacht, der bei der Anstellung von Beamten mit verschwiegener Stasivergangenheit vorliegen soll (vgl. Kap. V 1 Rn. 4, 11 ff.). Allgemein stellt sich der Abschnitt Gallandis zum Betrug als eine sehr kritische und ambitionierte Kommentierung dar, die sich zum Beispiel auch mit dem "kommunizierenden Menschen als Zentralfigur des Betrugstatbestandes" befasst. Seier behandelt in einem 80 Seiten umfassenden Kapitel die Untreue, deren wirtschaftsstrafrechtliche Bedeutsamkeit sich jedem sofort erschließt. Etwa die nun heiß diskutierten Einstellungen im Mannesmann-Verfahren wird in der Kommentierung schon als typische Art und Weise des Umgangs mit dem schwierigen Untreuevorwurf beschrieben (vgl. Kap. V 2 Rn. 18 ff. und zur ausgewogenen Einordnung der Untreue m.w.N. Saliger HRRS 2006, 10 ff.; zur "ausnahmsweisen Anwendung" vgl. auch BGH HRRS 2007 Nr. 2 - Fall Kanther). Aufgenommen ist ein weiterführendes "Lexikon besonderer Untreue-Konstellationen im Wirtschaftsleben" (vgl. Kap. V 2 Rn. 195 ff.).

Gesellschaftsrechtliche Bilanz-, Prüfer- und Falschangabedelikte werden zusammenhängend von Ransiek im Kapitel VIII besprochen. Die in verschiedenen Gesetzen befindlichen Vorschriften werden systematisiert und eingehend erschlossen. Ransiek stellt dabei natürlich auch die Rechtsprechungskreation des faktischen Geschäftsführers dar, die er indes als verfassungswidrig ablehnt (vgl. Kap. VIII 1 Rn. 26 ff.). Unter dem Titel Kapitalmarktdelikte (Kap. X) finden sich nach einer Darstellung des § 264a StGB insbesondere sorgfältige Kommentierungen der Tatbestände des BörsG, des KWG und des WpHG durch Schröder. Angemessen großen Raum nimmt der zentrale Tatbestand der Börsen- und Marktpreismanipulation nach § 20a WpHG ein. Im Rahmen dieser Kommentierung wird deutlich, dass bestehende europäische Bezüge im Handbuch von Achenbach/Ransiek tatsächlich aufgearbeitet werden. Diese im Bereich des WpHG noch zunehmende und vielgestaltige europäische Einwirkung (vgl. auch BGHSt 48, 373 ff. und Gaede/Mühlbauer wistra 2005, 9 ff. zu § 20a WpHG), wird von Schröder, einem hier besonders ausgewiesenen Rechtslehrer, prägnant und mit der nötigen Kritik gerade gegenüber einer unbedacht unkritischen Europäisierung geleistet (vgl. etwa Kap. X 2 Rn. 4 f., 26, streitbar aber zur Bestimmtheit Rn. 51 ff., siehe Gaede/Mühlbauer aaO).

Das hin und wieder schon als besonderes Nebengebiet angesehene "Arbeitsstrafrecht" findet im Osnabrücker Handbuch auf gut 100 Seiten statt, die mit einem Gesamtüberblick Achenbachs beginnen. Bente bespricht sodann knapp den wichtigen Tatbestand des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (Kap. XII 2). Die illegale Arbeitnehmerüberlassung bringt Kaul dem Leser unter hilfreicher Einbeziehung der arbeitsrechtlichen Ausgangspunkte näher (Kap. XII 3). Mindestens vom Umfang her als Kernstück des "arbeitsstrafrechtlichen Teils" des Handbuchs stellt sich die Abhandlung Mosbachers dar, der die praktisch bedeutsame illegale Beschäftigung von Ausländern behandelt (Kap. XII 4). Er bewältigt dies als Kenner der Materie mit Kommentierungen auf hohem Informationsniveau unter Einbeziehung der sozialversicherungs- und ausländer(aufenthalts-)rechtlichen Vorschriften und unveröffentlichter Rechtsprechung. Auch hier sind die europarechtlichen und völkerrechtlichen Bezüge selbstverständlich erörtert.

Das Osnabrücker Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts von Achenbach/Ransiek bietet mithin anregende und praxisnahe Kommentierungen. Es deckt wesentliche Themenbereiche des Wirtschaftsstrafrechts nicht nur oberflächlich ab. Da es für wirtschaftstrafrechtliche Publikationen zudem einen erträglichen Preis aufweist, erhält ein Käufer - auch wenn man die zwischenzeitlichen Fortentwicklungen einbezieht - für seine Investition einen guten Gegenwert. Dem Rezensenten stellt sich allein die Frage, ob die Entscheidung, fast gänzlich auf Ausführungen zu einem "Allgemeinen Teil des Wirt-

schaftsstrafrechts" zu verzichten, wirklich aus praktischer Sicht so zwingend ist. Eine Einrahmung durch die zusammengefasste Erörterung allgemeinerer Problemstellungen des Wirtschaftsstrafrechts, wie zum Beispiel der Behandlung von Scheingeschäften oder der Irrtumslehre könnte durchaus praktische Einsichten vermitteln, zumal die Autoren kaum bei jedem Einzeltatbestand gleichermaßen stets auch AT-Fragestellungen in "mittlerer Dichte" darstellen konnten. Freilich leisten Achenbachs Einführungen zur Zurechnung unternehmensbezogenen Handelns dies bereits weitgehend mit Blick auf die Täterschaftslehre. In einem "Allgemeinen Teil des Wirtschaftstrafrechts" hätte aber auch auf manch andere wirtschaftsstrafrechtliche Besonderheit hingewiesen werden können, die etwa bei der Verfahrensrechtspraxis besteht. Dessen ungeachtet liegt aber - wie bereits gesagt - ein bedeutsames und empfehlenswertes Kompendium zu wirtschaftsstrafrechtlichen Tatbeständen vor, das den Weg in die Praxis zu recht bereits gefunden hat und dem Folgeauflagen zu wünschen sind. Vor allem durch die Einbeziehung der allgemeinen Vermögensdelikte Untreue und Betrug, ebenso aber durch die Erfassung wirtschaftsbezogener Ordnungswidrigkeitstatbestände wird eine für die Praxis hilfreiche Arbeitsgrundlage geboten.

Karsten Gaede , Bucerius Law School (Hamburg)

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Uwe Murmann: Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrechts, Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2005, 597 S., geb., 119,95 EUR.

Das Opfer hat Konjunktur in der neueren deutschen Strafrechtsdogmatik. Diese trägt damit dem Umstand Rechnung, daß strafrechtliches Unrecht nicht angemessen erfaßt wird, wenn man es auf den sich in einer gleichsam freischwebenden Rechtsgutsverletzung äußernden Ungehorsam des Täters gegenüber einer Norm verkürzt. Nicht einer selbstgenügsamen Macht- oder Rechtsgüterordnung gebührt die Gehorsamsverpflichtung der einzelnen Bürger; es ist vielmehr allein das Freiheitsrecht von Personen, wodurch sich das Mitwirkungsverlangen der Rechtsgemeinschaft gegenüber ihren einzelnen Mitgliedern legitimiert. Der einzige Grund, aus dem die Rechtsgemeinschaft von dem einzelnen Bürger verlangen darf, als Ausdruck seiner Loyalität ihr gegenüber ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen, besteht deshalb darin, daß dieses Verhalten die Realbedingungen der Freiheit anderer Personen zu beeinträchtigen droht. In diesem Sinne sind sämtliche Straftaten Delikte gegen die Person. Diese Einsicht hat weitreichende dogmatische Konsequenzen, etwa für die Interpretation des aus der Lehre von der objektiven Zurechnung bekannten Begriffs der Selbstverantwortung des Opfers. Ihrer Erforschung widmet sich Uwe Murmann in seiner Freiburger Habilitationsschrift. Freilich will Murmann sich nicht damit begnügen, ein bereits hinlänglich bekanntes Material aus Rechtsprechung und Literatur ein weiteres Mal umzuwenden und topoihafte Fallgruppen aneinanderzureihen. Sein Anliegen ist ein grundsätzliches: Er will die Diskussion über die Selbstverantwortung in einen umfassenden rechtsphilosophischen Begründungskontext einbetten und so die hierzulande nach wie vor dominierende positivistische Engführung des strafrechtsdogmatischen Denkens überwinden helfen.

Murmanns zentrale These ist ebenso einfach wie radikal: Eine Rechtsordnung, in der sich Freiheit unter Gleichen verwirkliche, müsse das Selbstbestimmungsrecht eines jeden ihrer Angehörigen anerkennen und ihm aus diesem Grund die selbstverantwortliche Regelung seiner eigenen Angelegenheiten überlassen. "Eine rechtlich notwendige Verantwortung für selbstverfügende Entscheidungen trägt die Person bei dieser Sichtweise jedenfalls deshalb und insoweit, wie diese Entscheidungen zum Selbstbestimmungsrecht der Person gehören und demnach rechtlich den anderen nichts angehen." Nicht maßgeblich sei die Art und Weise, in der die selbstverfügende Entscheidung umgesetzt werde. "Es kommt also nicht darauf an, ob das Opfer an fremdes Verhalten nur anknüpft, sich fremder Hilfe bedient oder den Vollzug der Handlung insgesamt dem Außenstehenden überläßt." Das Recht zu selbstverfügendem Verhalten hat deshalb laut Murmann erstens zur Folge, daß der Täter einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung oder Selbstgefährdung dafür die alleinige Verantwortung trägt. Verhaltensverbote an einem Außenstehenden, die allein darauf gestützt werden, daß die inkriminierte Verhaltensweise das Risiko solcher selbstverfügenden Entscheidungen schafft oder erhöht, sind demnach unzulässig. Es fehle schon an einer rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung. Zweitens müsse der einzelnen Person von Rechts wegen auch die Möglichkeit offenstehen, ihr Verhältnis zu einem Außenstehenden dahingehend umzugestalten, daß sie diesem eine ihm sonst nicht zustehende Verhaltensoption eröffne. Eine solche Umgestaltung nehme dem Verhalten des von dieser Option Gebrauch machenden Außenstehenden seinen Charakter als Unrecht in Richtung auf das jeweilige Individualrechtsgut; das ursprüngliche Verhaltensverbot verliere in diesem Fall seine Legitimationsgrundlage. In der Terminologie der vertrauten dogmatischen Kategorien sei die von einer Einwilligung gedeckte Fremdschädigung bzw. Fremdgefährdung gerechtfertigt.

Für Einschränkungen der Verfügungsbefugnis, wie sie insbesondere in den §§ 216, 228 StGB vorgesehen sind, hat der Ansatz Murmanns weitreichende Auswirkungen. Danach ist es nämlich ausgeschlossen, Grenzen der Verfügungsbefugnis mit dem Schutz der ohne Defizit über sich verfügenden Person vor sich selbst zu legitimieren. Bei den Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit könne es vielmehr nur gehen "entweder um defizitäre Entscheidungen (und so gesehen überhaupt nicht um die vorausgesetzte Freiheitsausübung) oder um Beeinträchtigungen der Rechte anderer (und so gesehen nicht um die Gefahren der Selbstverfügung als solcher, sondern um diese bzw. ihrer rechtlichen Freigabe anhaftende andere Gefahren)."

Dies ist eine ehrenwerte liberale Konzeption. Jedoch macht Murmann sich bei ihrer Begründung das Leben unnötig schwer. Seine Untersuchung sei, so erklärt er, dem Ansatz Kants in besonderer Weise verpflichtet. Die

Deutung, die Murmann im Anschluß an die E. A.-Wolff-Schule der kantischen Rechtsphilosophie angedeihen läßt, ist indessen höchst anfechtbar. Murmann versucht, zwei Dinge zusammenzubringen, die nicht zusammenpassen: einen methodischen Individualismus und das Bekenntnis zur Vernunftnatur des Rechts. Einerseits bekennt er sich zu der von ihm etwas zu pauschal (Rousseau!) als aufklärerisch titulierten Position, wonach die Rechtfertigung des Staates und seiner Institutionen "nur vom Individuum her geleistet werden kann". Andererseits stellt er klar, daß er die Individuen nicht in ihren jeweiligen Besonderheiten, sondern "als Vernünftige" in den Blick zu nehmen gedenkt. Diese beiden Anliegen faßt Murmann zusammen, indem er die "Vernunft des Einzelnen" als die Instanz benennt, vor der rechtliche Regelungen ihre Legitimität erweisen müssen. Aber was ist das, die Vernunft des Einzelnen? Der kantischen Vernunft ist es eigentümlich, daß sie, losgelöst von ihrem jeweiligen Träger, stets dieselbe (und eben darum verbindend) ist; vor der Allgemeinheit der Vernunft verschwindet die Individualität ihrer einzelnen Träger. Im Rahmen einer kantisch ansetzenden Vernunftrechtsbegründung ist der Verweis auf den Einzelnen und seine Vernünftigkeit also überflüssig, ja irreführend. In welch unnötige Schwierigkeiten Murmann sich mit seinem Ansatz verstrickt, wird besonders deutlich, wo er es mit Individuen zu tun hat, die den Status einer vernünftigen Person (noch) nicht beanspruchen können (Kinder und Geisteskranke). Selbst in diesen Fällen will Murmann den Grundsatz autonomer Rechtsbegründung zur Geltung bringen. Als Maßstab für die rechtliche Beachtlichkeit einer selbstverfügenden Entscheidung komme deshalb auch hier nur der Betroffene selbst in Betracht, freilich "unter Absehen von dessen konstitutionellen Mängeln". Damit handelt es sich aber gerade nicht mehr um den Betroffenen in seiner realen Verfaßtheit, sondern um eine fiktive Kunstfigur. Wenn Murmann zugunsten seiner Lösung geltend macht, sie stelle sicher, daß auch in diesem Fall die betroffene Person nicht einem für sie fremden Maßstab unterstellt werde, sondern einer Vernunft, "die prinzipiell auch die ihre als eines Menschen ist", so ist dies nicht anderes als ein terminologischer Gewaltakt. Aufgrund einer selbstverhängten Sprachregelung auch dort nicht von Fremdbestimmung sprechen zu wollen, wo diese wohlbegründet und unvermeidlich ist, ist kein Freiheitsdenken mehr, sondern eine Wirklichkeitsverleugnung mit nachgerade ideologischen Zügen. Auch den antipaternalistischen Furor kann man übertreiben.

Weitaus heikler als dieser Punkt ist der Rechtsbegriff, den Murmann aus seinem Ansatz ableitet. Wenn Murmann das Rechtsverhältnis als ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis definiert, "in dem sich die Beteiligten als in ihrer Freiheit Gleiche wissen und folglich ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten durch den Begriff der Freiheit der anderen beschränken", so mißachtet er den Umstand, daß Kant von mir in meiner Rolle als Rechtsperson "ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich … meine Freiheit auf jene Bedingungen[diejenigen des allgemeinen Rechtsgesetzes, M. P.]selbst einschränken solle". Die Vernunft sage vielmehr nur, daß meine Freiheit "in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe" (Metaphysik der Sitten, Weischedel-Ausgabe, S. 338). Mit dem letzten Halbsatz verweist Kant auf das dem Recht eigentümliche Moment der Befugnis zu physischem Zwang. Wie Kersting gezeigt hat, ist es maßgeblich die Zwangsbefugnis, die für die spezifische Ausgestaltung von Kants Rechtsbegriff verantwortlich ist: Nur der Zweck der äußerlichen Kompatibilisierung von Handlungsräumen legitimiert danach den Einsatz von Zwangsgewalt. Erstaunlicherweise fällt dieses Moment bei Murmann fast gänzlich unter den Tisch. Dafür zahlt er, wie sich zeigt, allerdings einen hohen Preis: Mit der Unterscheidung zwischen der ethischen und der juridischen Gesetzgebung gerät eines der zentralen freiheitsverbürgenden Lehrstücke Kants bei ihm ins Schwimmen.

Noch gravierender sind die Einwände gegen eine andere Ableitung Murmanns. Aus dem Ansatz bei der "Vernunft des Einzelnen" ergibt sich Murmann zufolge, daß das Recht die Grenze seiner legitimen Begründbarkeit dort finde, "wo ein allgemein gültiges Vernunfturteil nicht gefällt werden kann". Ins Positive gewendet: Das Recht sei auf Bereiche zu beschränken, "die allgemeiner Einsicht zugänglich sind". Murmann will damit den zur Begründung seiner Position zentralen Satz begründen, daß Selbstverfügungen in den Bereich des persönlichen Glücks gehörten, in dem die Person in ihrer Individualität das Maß aller Dinge sei. "Rechtliche Vorgaben zur Definition dieses Glücks oder dessen Verfolgung können nicht mit übergreifender Verbindlichkeit begründet werden und sind folglich gegenüber dem Einzelnen eine Anmaßung, die nicht mit seiner eigenen Vernunft in Zusammenhang gebracht werden kann und folglich Ausdruck heteronomer Willkür wäre." Nimmt man Murmanns Begründung beim Wort, so führt sie jedoch zu erheblich weiter reichenden und gänzlich inakzeptablen Konsequenzen. Sie besagt nichts Geringeres, als daß es eine eigenständige vernunftgestützte Tugendlehre nicht geben kann, denn (angebliche) Tugendpflichten wären danach ja dadurch definiert, daß sie der allgemeinen Einsicht nicht zugänglich und somit unvernünftig wären. Dieser Befund hat eine nicht weniger bedeutsame Kehrseite: Das spezifische Profil von Kants Rechtsbegriff läßt sich von Murmanns Ausführungen her nicht hinlänglich begründen; denn eine jede kantische Tugendpflicht, die heute noch einsichtig erscheint, müßte Murmann nach der Logik seines Ansatzes als Rechtspflicht qualifizieren. Kurzum: Murmann verwischt nicht nur die Unterscheidung zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung, sondern auch jene zwischen Rechtslehre und Tugendlehre. Damit aber bricht der wichtigste Pfeiler von Murmanns Argumentation zusammen: Er beweist zu viel, bei Lichte besehen also nichts. Seine Thesen über die Unantastbarkeit des Selbstbestimmungsrechts hängen somit, rechtsphilosophisch gesehen, in der Luft.

Dieser Befund soll die Leistung Murmanns keineswegs schmälern. Murmann hat ein gehaltvolles, anregendes und in vielen seiner Einzelanalysen überzeugendes Buch vorgelegt, zweifellos eine der besten Habilitationsschriften der letzten Jahre. Seinen zentralen Anspruch aber - die Ankündigung, das Institut der Opferselbstverantwor-

tung auf ein tragfähiges rechtsphilosophisches Fundament zu stellen - hat er nicht einlösen können. Die in den Schlaf der positivistischen Halbvernunft versunkene Lehre von der Selbstverantwortung des Opfers muß auf einen anderen Siegfried warten.

Prof. Dr. Michael Pawlik (LL.M. Cantab.), Univ. Regensburg