HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2007
8. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

"Missbrauch" durch bewusste Berufung auf ein unrichtiges Hauptverhandlungsprotokoll?

Zugleich Besprechung des Urteils BGH 3 StR 284/05 vom 11.8.2006 (HRRS 2006 Nr. 713 [Ausgabe 10/2006][1]).

Von Prof. Dr. Hans Kudlich, Univ. Erlangen.

I. Das Urteil des BGH führt zwei Themen zusammen, die mit bisher eher abweichenden Schwerpunkten[2] bereits die strafprozessrechtIiche bzw. strafprozessrechtspolitische Diskussion beschäftigt haben: den Missbrauch von Verfahrensbefugnissen auf der einen,[3] die Beschränkung der formellen Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls für Revisionsrügen - hier vor allem unter dem Stichwort der Rügeverkümmerung - auf der anderen Seite.[4] Der Zusammenhang zwischen beiden Fragestel-

lungen aber liegt auf der Hand:[5] Wird eine Rüge wegen Missbrauchs bereits als unzulässig zurückgewiesen, kommt es auf die Frage nach der Zulässigkeit einer Protokollberichtigung nicht an, da das (bei einem unrichtigen Protokoll gewissermaßen nach § 274 StPO fingierte) "Vorliegen" eines Verfahrensfehlers nicht mehr geprüft wird; wird umgekehrt das Protokoll nachträglich berichtigt und der darauf gestützten Revision damit der Boden entzogen, ist die (seit jeher und auch für andere Konstellationen immer etwas argwöhnisch beäugte[6]) Lösung über den Missbrauchsgedanken nicht erforderlich, da auch eine zulässige Rüge erfolglos ist.

Die Bedeutung der vorliegenden Entscheidung nun liegt im Ergebnis [7] m.E. eher in den "allgemeinen" Fragen einer "strafprozessualen Missbrauchsdogmatik", die vom Senat zwar nicht wirklich entwickelt wird (was für die Rechtsprechung auch nach der wichtigen Entscheidung BGHSt 38, 111 noch aussteht[8]), aber doch auf dem bisherigen Stand bestätigt und zumindest gegen einen zentralen Einwand (aus meiner Sicht auch: überzeugend) verteidigt (vgl. sogleich II.) wird. Ob freilich für die konkrete Situation der "unwahren Verfahrensrüge" das Missbrauchsargument tatsächlich zu angemessenen Lösungen führt, erscheint mir dagegen fragwürdig (vgl. im Anschluss III.).

II. Die einschlägige Diskussion um den strafprozessualen Missbrauch ist - trotz weiter zurückreichender Wurzeln[9] und immer wieder aktueller Stellungnahmen[10] - insbesondere ein Thema in der Mitte der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts gewesen.[11] Reibungspunkte für viele Beiträge waren auf der einen Seite die Leitentscheidung BGHSt 38, 111, in der die Geltung eines ungeschriebenen Missbrauchsverbots grundsätzlich bejaht wurde, andererseits aber auch die wechselseitigen Klagen über angeblich verfahrensboykottierende Verteidigungsstrategien (auf Seiten der Justiz) bzw. umgekehrt über die zunehmende Aushöhlung von Verfahrensrechten durch den Gesetzgeber (auf Seiten der Verteidigung). Schon diese kurze Einordnung zeigt - nebenbei bemerkt -, dass es sich bei den "unwahren Verfahrensrügen" um ein Phänomen handelt, das in einem deutlich anderen Kontext steht als der Ausgestaltung der Hauptverhandlung.

Als wichtige Strukturfragen einer allgemeinen Missbrauchsdogmatik wurden in dieser Zeitschrift vor noch nicht all zu langer Zeit bereits drei Aspekte benannt:[12] "Kann ein 'Missbrauchsverbot' überhaupt begründet und insbesondere mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes legitimiert werden? Bejahendenfalls: Was sind seine Voraussetzungen? Und: Welche Rechtsfolgen kann es (auch in welcher formalen Weise) nach sich ziehen?"

1. Stark vergröbernd[13] sprechen wohl die besseren Gründe dafür, ein ungeschriebenes Missbrauchsverbot auch im Strafprozessrecht jedenfalls nicht von vorneherein für ausgeschlossen zu halten, soweit es dadurch nicht im konkreten Einzelfall zu einem klaren Überspielen des Wortlauts bei einer deutlich als abschließend beabsichtigten Regelung kommt, was jedenfalls in dieser Allgemeinheit für das Strafverfahrensrecht nicht angenommen werden kann. Freilich muss dafür in der konkreten Situation dargetan werden, dass die Zweckwidrigkeit - und zwar nicht gemessen am Zweck des Strafverfahrens als Institution oder am Zweck des Strafverfahrensrechts insgesamt, sondern am Zweck der jeweils betroffenen Befugnis - ein Maß erreicht, das es gerechtfertigt erscheinen lässt, als Ausnahme von der gesetzlichen Regelanordnung die Ausübung einer prozessualen Befugnis als unzulässig anzusehen[14] oder sie für die Zu-

kunft sogar völlig zu entziehen bzw. einzuschrän­ken. Dabei ist durchaus zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Einräumung bestimmter prozessualer Befugnisse bewusst in Kauf genommen hat, dass durch sie z.B. der Verfahrensabschluss erschwert wird. Bei der Frage nach der Missbrauchsreaktion ist zwischen der - untechnisch bzw. allgemein gesprochen - Zurückweisung der vorgenommenen Prozesshandlung und der Untersagung einer zukünftigen Ausübung einer prozessualen Befugnis zu unterscheiden. Vorliegend freilich stellt sich - auch dies wieder eine abweichende Besonderheit gegenüber dem Standardbeispiel prozessualer Befugnisse in der Hauptverhandlung - diese Frage nicht wirklich, da es bei dem singulären Akt einer einzelnen Revisionsrüge von vorneherein nur um die (dort allerdings mangels anderweitiger Wiederholbarkeit der Verfahrenshandlung auch besonders gravierende) Behandlung als unzulässig gehen kann.

2. Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage nach einem ungeschriebenen Missbrauchsverbot verläuft in zwei Schritten:

a) Zur Bestärkung seiner Auffassung, dass auch im Strafprozessrecht ein allgemeines Missbrauchsverbot gelten müsse, verweist der BGH auf einzelne gesetzlich geregelte Missbrauchsfälle in der StPO (insb. §§ 26a, 138a, 241 und 244 III Mod. 6 StPO)[15], denen der Senat offenbar einen verallgemeinerungsfähigen Grundgedanken entnehmen möchte. Freilich bringt die Auflistung solcher speziell geregelter Fälle nicht viel mehr als die Erkenntnis, dass ein Missbrauchsverbot dem Strafverfahrensrecht nicht a priori und uneingeschränkt systemfremd ist und dass trotz der geregelten Fälle Schutzlücken gegen den Missbrauch offen bleiben.[16] Ob diese Lücken damit aber im Sinne eines darüber hinausgehenden allgemeinen Missbrauchsverbots geschlossen werden müssen, ist damit allein noch nicht entschieden; vielmehr hängt einer Entscheidung das Problem jeder systematischen Argumentation an, ob eher analogisch oder eher im Wege eines Gegenschlusses argumentiert werden muss.[17] M.a.W.: dass über die geregelten Fälle hinaus auch ein allgemeines ungeschriebenes Missbrauchsverbot besteht, wäre durchaus eigenständig zu begründen gewesen.[18]

b) Im Anschluss nimmt der Senat zu einem durchaus gewichtigen (aber eben keinesfalls dem einzigen) Einwand gegen ein allgemeines Missbrauchsverbot Stellung, nämlich dem "Missbrauch des Rechtsmissbrauchsarguments". Hierzu führt er zutreffend aus, "dass seit der grundlegenden Anerkennung eines allgemeinen Missbrauchsverbotes durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in BGHSt 38, 111 nunmehr fast 15 Jahre vergangen sind, ohne dass sich diese Befürchtung bestätigt hätte. Die sehr seltenen Entscheidungen, in denen davon Gebrauch gemacht worden ist, belegen eine ausgesprochene Zurückhaltung der Praxis."

Diesem (vom Verfasser im Übrigen schon vor rund 10 Jahren optimistisch prognostizierten[19]) Befund ist im Grundsatz ohne Zweifel zuzustimmen: Weder hat - soweit in der veröffentlichten Rechtsprechung ersichtlich - der Rückgriff der Tatgerichte auf das Hilfsmittel eines allgemeinen Missbrauchsverbots ein bedrohliches Ausmaß erreicht; noch haben die Obergerichte, soweit sie sich mit entsprechenden Fällen zu befassen hatten, ihre Kontrollpflicht vernachlässigt.[20]

3. Weitere in der Diskussion zu verzeichnende generelle Einwände gegen ein ungeschriebenes Missbrauchsverbot werden vom Senat dagegen nicht aufgegriffen (wozu in einer Entscheidung, die sich letztlich darauf beruft, naturgemäß mehr Anlass bestanden hätte[21] als etwa in einer im Ergebnis eine Missbrauchsreaktion mangels hinreichender Voraussetzungen ablehnenden Entscheidung wie der des BayObLG vom 5.3.2004[22]).

a) Dabei lassen sich m.E. einige der verbreiteten Einwände aus der Diskussion der letzten Jahre relativ einfach ausräumen:

aa) Häufig wird darauf hingewiesen, dass im Strafverfahren der Maßstab des § 242 BGB als der wohl wirkungsmächtigsten Missbrauchsvorschrift im Zivilrecht nicht gelten könne, da jedenfalls für Angeklagten und Verteidiger keine vergleichbaren Solidaritätspflichten angenommen werden können, wie sie sich als Nebenpflichten aus einem Schuldverhältnis ergeben können.[23] Doch so zutreffend dieser Befund ist, so wenig steht er einem anders als über wechselseitige Solidaritätspflichten - und namentlich über den Gedanken des Institutionenmissbrauch beim zweckwidrigen Einsatz von Befugnissen[24] - notwendig entgegen.

bb) Ebenfalls kein ernsthafter Einwand gegen ein ungeschriebenes Missbrauchsverbot können die mögliche Schwierigkeit beim Nachweis eines (soweit zutreffend[25] gefordert) subjektiven Missbrauchselements[26] sowie die weiteren Schwierigkeiten bei der Anwendung eines solchen Verbotes[27] sein. Denn ein solcher Nachweise muss (dort sogar im Strengbeweisverfahren) von den Strafgerichten auch hinsichtlich subjektiver Tatbestandsmerkmale einzelner Tatbestandsmerkmale getroffen werden, deren Vorliegen sich im Einzelfall deutlich schwerer beurteilen lassen mag, da das Verhalten des Täters, dem ein entsprechender subjektiver Befund zugeschrieben werden soll, weit weniger unmittelbar miterlebt wird.

Auch die Tatsache, dass zumindest regelmäßig[28] mit dem Prozessgericht dieselbe Instanz über das Vorliegen des Missbrauchs (vorläufig[29]) entscheidet, die von dem Verhalten "negativ betroffen" ist,[30] sollte letztlich nicht entscheidend gegen die Möglichkeit einer innerprozessualen Missbrauchsreaktion sprechen. Auf den ersten Blick scheint man es sich zwar zu einfach zu machen, wenn man nur die Frage stellt, wer denn sonst (wenn nicht das Tatgericht) zuständig sein sollte. Aber völlig außer Acht gelassen werden darf die praktische Umsetzbarkeit des Entscheidungsvorgangs über den Verfahrensablauf gewiss ebenso wenig. Und ein näheres Nachdenken zeigt, dass es sich insoweit um kein Sonderproblem etwaiger Missbrauchsreaktionen handelt, sondern dass ja auch die Zuständigkeit der Verhandlungsführung im Übrigen (die für den Angeklagten ebenfalls unerfreulich verlaufen kann) beim Vorsitzenden bzw. (über den Zwischenrechtsbehelf des § 238 II StPO) beim Tatgericht liegt - und dabei über § 305 StPO ebenfalls einer Überprüfung außerhalb des Angriffs des Urteils durch die Revision entzogen ist. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass interessanterweise gerade bei der Behandlung von Ablehnungsanträgen nach § 26a StPO, der sich jedenfalls in seiner Nummer 3 als Ausprägung des Missbrauchsverbots darstellt, der Gesetzgeber dem unmittelbar betroffenen Richter abweichend von allgemeinen Regeln im Richterablehnungsrecht eine Mitentscheidung zugesteht.[31]

cc) Vergleichsweise einfach widerlegen lässt sich schließlich das argumentum e contrario zu explizit niedergeschriebenen Missbrauchsregelungen in der StPO, das einen ergänzenden Rückgriff auf ein allgemeines Prinzip sperren soll.[32] Denn gleichsam spiegelbildlich zur o.g. Kritik an der apodiktischen "Ableitung" eines allgemeinen Prinzips aus den Einzelausprägungen durch den BGH gilt natürlich auch umgekehrt, dass die bloße Behauptung eines Gegenschlusses (statt eines analogischen Schlusses) letztlich eine bloße petitio principii ist: Dass es sich gerade um eine "abschließende" Regelung handelt, müsste näher belegt werden, was in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht erfolgt, und wenn man der Frage nachzugehen versucht, sprechen sogar die besseren Gründe dagegen.[33]

b) Größere Schwierigkeiten machen zwei andere Einwände: Zum einen die Schwierigkeit der Bestimmung der "Dysfunktionalität" mit Blick auf die durchaus heterogenen Zwecke, die mit dem Strafverfahren verfolgt werden und über die zudem im Detail und in der Rangfolge auch keineswegs Einigkeit besteht.[34] Zum anderen und vor allem die verfassungsrechtliche Zulässigkeit derartiger Missbrauchsreaktionen mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes:[35]

aa) Hinsichtlich der Zweckfrage ist zunächst zuzugestehen, dass sich der Zweck des Strafverfahren(srecht)s weder stets explizit aus dem Normtext ergibt noch unbestritten wäre. Allerdings ist es dem Richter auch sonst keine fremde (um nicht zu sagen: seine typische) Aufgabe, diesen Zweck zu ermitteln.[36] Berücksichtigt man ferner, dass angesichts der teilweise widerstreitenden Ziele des Strafverfahrens (exemplarisch nur: Rechtsfrie-

den vs. Einzelfallgerechtigkeit) nicht von "dem" Ziel des Strafverfahrens, sondern immer nur von einer Vielfalt von Zielen (einschließlich auftretender Zielkonflikte und abgestufter "Zwischenziele") gesprochen werden kann[37] und dass deswegen für das Zweckwidrigkeitsurteil jeweils auf die konkrete Verfahrensbefugnis und ihren Regelungskontext abgestellt werden muss, lichtet sich der Nebel weiter: Der Richter muss also nicht mehr und nicht weniger tun als festzustellen, welche Zwecke mit einer bestimmten Regelung bzw. einer prozessualen Befugnis erreicht werden sollen und ob sich im konkreten prozessualen Verhalten "nur" die Folgen widerspiegeln, die mit der Einräumung dieser Befugnis zwangsläufig verbunden sind, oder aber ob das handelnde Prozesssubjekt es allein auf diese Folgen "anlegt", ohne den ursprünglich mit der Befugniseinräumung verbundenen Zweck zu verfolgen.

bb) Die schwierigste Frage ist deshalb die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer ungeschriebenen Missbrauchsreaktion:[38] Prozessuale Befugnisse sind regelmäßig Ausprägungen grundrechtlicher Garantien (etwa aus den Art. 19 IV, 101 oder 103 GG). Wenn in diese eingegriffen wird, so bedarf es dafür im Ausgangspunkt wegen des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes (welcher in seiner allgemeinen Form selbstverständlich auch im Strafverfahrensrecht gilt[39]) einer gesetzlichen Grundlage. Die strikte Annahme, ein ungeschriebenes Missbrauchsverbot lasse sich damit nicht vereinbaren, ist jedenfalls nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen; dann freilich muss man auch die Konsequenz einer keinerlei Missbrauchskontrolle unterworfenen Befugnisausübung (welche - als zugegebenermaßen eher theoretisches, aber vielleicht anschauliches Beispiel - auch den Fall decken würde, dass der Angeklagte im Rahmen seines letzten Wortes u.a. die Heilige Schrift komplett vorzulesen gedenkt) zu tragen bereit sein.[40]

Nicht nur wegen des (in dieser Konsequenz auch kaum einmal als wünschenswert postulierten) Ergebnisses, sondern auch mit Blick auf die üblichen methodischen Standards ist freilich ein so puristischer Standpunkt nicht zwingend geboten: Unabhängig davon, ob eher als "gesetzübersteigende Rechtsanwendung extra legem, sed intra ius", als "teleologische Reduktion" oder noch als "teleologische Auslegung" (bzw. je nach konkretem Fall unterschiedlich) bezeichnet, wird auch sonst im Strafprozessrecht nicht jedes restriktive Verständnis prozessualer Befugnisse als Verletzung des Gesetzesvorbehalts gebrandmarkt.[41] Dies ist vielfach schon deswegen auch verständlich und zutreffend, weil die gesetzlichen Regeln so eindeutig gar nicht sind, sondern auch ungeschriebene Strafprozessdogmatik beinhalten (etwa zum Beweisantragsrecht, aber auch zu Wirkkategorien wie der "Zulässigkeit"). Hinzu kommt, dass es bei den prozessualen Befugnissen (anders als etwa im ebenfalls sehr grundrechtsrelevanten Bereich der Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren) nicht um den Eingriff in bereits vor dem Strafverfahren existente und mehr oder weniger klar konturierte Rechtspositionen (z.B. Eigentum, Wohnung etc.) geht, sondern dass die naturgemäß überhaupt erst durch die konkrete Verfahrensgestaltung exakt gezogenen Grenzen von Verfahrensgarantien in Frage stehen. Ungeachtet selbstverständlich zu beachtender (in den Missbrauchsfällen aber nicht ernsthaft in Frage stehender!) Minimalstandards handelt es sich also vielfach um Garantien, auf die das Bild "normgeprägter" - und man könnte hier sogar noch schärfer sagen: zusätzlich "verfahrensgeprägter" - Grundrechte passt.

III. Damit ist allerdings noch nicht entschieden, dass der Senat im konkreten Fall zu Recht auf das allgemeine Missbrauchsverbot abstellt. Zwar ist - im Ergebnis in Übereinstimmung mit dem BGH - ein solches tatsächlich anzuerkennen. Die allgemeinen Überlegungen dazu haben aber verdeutlicht, dass seine Voraussetzungen im Einzelfall sehr genau geprüft und in der Entscheidungsbegründung dargelegt werden müssen: Einer genauen Erörterung bedürfen zumindest[42] die Fragen nach

-           dem (tatsächlichen) Zweck der angeblich missbrauchten Vorschrift,

-           der Nichtverfolgung dieses Zwecks sowie nach

-           einer Beeinträchtigung des Verfahrens durch das prozessuale Handeln in einer Weise, die mit der Einräumung der Befugnis als solchen nicht mehr oder weniger notwendig verbunden ist.

1. Hält man sich dies in einem ersten Schritt nur einmal ganz grob vor Augen, so scheint sich Folgendes zu ergeben:

Der Zweck der hier in Rede stehenden - nur in ihrem Zusammenspiel angemessen zu beurteilenden - Befugnisse bzw. Vorschriften liegt darin, dass der beschwerte Verfahrensbeteiligte ein Urteil durch das Revisionsgericht mit dem Ziel der Aufhebung überprüfen lassen kann und dass er sich dabei im Rahmen des Beweises von Verfahrensfehlern grundsätzlich auf das (mit Beweiskraft ausgestattete, vgl. § 274 StPO) Hauptverhandlungsprotokoll berufen kann.

Genau diese Zwecke - nämlich Überprüfung und Aufhebung des Urteils und Beweis eines behaupteten Verfahrensfehlers - werden durch das prozessuale Verhalten vorliegend verfolgt.

Die Beeinträchtigung des Verfahrens in Gestalt einer "Verlängerung" bei einem erfolgreichen Rechtsmittel ist durch das Rechtsmittelrecht als solches sicher eingeplant; auch dass Rechtsmittel erfolgreich sein können, obwohl sich bei einem späteren Urteil in der Sache nichts ändert, sind - jedenfalls bei den hier ja betroffenen, § 338 Nr. 5 StPO - absoluten Revisionsgründen ebenfalls systemimmanent angelegt; und dass schließlich die Statuierung einer nur schwer widerlegbaren formellen, positiven wie negativen Beweiskraft ein Beweis für materiell unwahre Vorgänge bestehen kann, liegt ebenfalls in der Natur der Sache und ist damit institutionell verankert.

Beschränkt man sich auf diese Betrachtung, scheint alles dafür zu sprechen, dass der Senat zu Unrecht auf das allgemeine Missbrauchsverbot abgestellt hat. Als wesentlichen Unterschied etwa zu den bekannten Fällen eines Missbrauchs des Beweisantrags- oder Fragerechts könnte man dies auch leicht damit erklären, dass in diesen Fällen nicht die "eigentlichen" (Teilhabe an der Wahrheitsfindung), sondern verfahrensfremde (bloße[!]Verfahrensverzögerung) Ziele verfolgt werden, während vorliegend gerade diese "eigentlichen" Ziele in Gestalt der Urteilsanfechtung und der Beweisführung mit dem Protokoll angestrebt werden.

2a) Argumentativ hier stehen zu bleiben, hieße aber wohl, es sich zu leicht zu machen und der ausführlichen Argumentation des Senats auch nicht gerecht zu werden. Dieser stellt nämlich vorrangig und in mehreren "Begründungsschleifen" darauf ab,[43] dass es sich eben gerade um eine bewusst unwahre Rüge handelt. Dies sei beachtlich, weil

-           die Möglichkeit der Verfahrensrüge und damit auch § 274 StPO nur der Korrektur tatsächlich geschehener Verfahrensfehler diene,

-           die Beweisregel des § 274 StPO keine eigene "prozessuale Wahrheit" schaffe, sondern nur den Beweis regele, d.h. die Beweisbarkeit einer Behauptung nichts über deren Zulässigkeit aussage und

-           § 274 StPO eben nicht die bewusst unwahre Rüge "institutionell einplane".

Auf das bloße Abzielen auf "objektiv unwahre" Ergebnisse kann es dabei freilich nicht entscheidend ankommen. Das zeigt etwa ein Vergleich mit dem - in der Missbrauchsdiskussion bisher eine dominierende Rolle spielenden - Beweisantragsrecht. Es dürfte unstreitig sein, dass grundsätzlich ein Beweisantrag gestellt werden darf, dessen Ergebnis die Anklage erschüttert, obwohl diese im Ergebnis "objektiv" zutreffend ist;[44] wenn dies selbst für eine Befugnis gilt, die genuin der Teilhabe an der prozessualen Wahrheitsfindung dient, muss dies erst Recht für die Rechte im Zusammenhang mit dem Angriff auf ein Urteil in der Revision gelten.

b) Indes mag man gegen diesen Vergleich einwenden, dass dem Verteidiger nach ganz herrschender Auffassung durchaus untersagt ist zu lügen.[45] Insoweit könnte man die von der Angabe des Beweismittels zu unterscheidende Behauptung des Verfahrensverstoßes eben nicht nur mit Blick auf das spätere "objektiv unwahre Ergebnis"[46] (d.h. die Annahme eines Verfahrensverstoßes durch das Revisionsgericht), sondern auch mit Blick auf die "auch subjektiv unwahre Aussage"[47] in den Blick nehmen. Dem entspricht auch die vom Senat zitierte verbreitete Auffassung, jenseits des Anwendungsbereichs des § 274 StPO bewusst unwahre Rügen jedenfalls als unzulässig zu behandeln.

Damit verengt sich unser Problem letztlich auf die Frage, inwieweit durch die Beweisregel des § 274 StPO zugleich ein "eigener Realitätsbegriff"[48] für das Revisionsrecht geschaffen wird oder - mit dem Senat - die strikte Trennung zwischen tatsächlicher bzw. behaupteter Wahrheit und ihrer Beweisbarkeit aufrecht erhalten werden muss. Nun ist dem Senat sicher darin zuzustimmen, dass Behauptung nicht durch ihre prozessuale Beweisbarkeit "wahr" wird und dass deshalb aus der Beweisbarkeit nicht zwingend auch die Zulässigkeit einer (materiell unwahren) Behauptung folgt. Umgekehrt ist damit aber auch noch nicht ausgemacht, dass wegen der Möglichkeit einer gedanklichen Trennung von "Wahrheit", "Behauptbarkeit" und "Beweisbarkeit" Letzteres strafprozessrechtlich keinesfalls auf die ersten beiden Kategorien zurückwirken würde. Vielmehr spricht wohl mehr gegen diese strikte Trennung.

c) Dies beginnt damit, dass feste Beweisregeln (wie § 274 StPO im Grundsatz eine ist) allgemein zu einer Stärkung der formellen Bewertung führt.[49] Es geht eben nicht nur um die "übliche Beweisbarkeit": Nach allge-

meinen Regeln "beweisbar" ist auch eine Behauptung, für die nur ein diese Behauptung beteuernder Zeuge benannt werden kann. Bestätigt dieser die Behauptung, sagt dies aber noch nichts darüber aus, ob das Gericht ihm Glauben schenken wird. Dagegen steht die "Glaubwürdigkeit" des Hauptverhandlungsprotokolls, abgesehen von den Fällen einer Berichtigung, einer Fälschung oder einer ausnahmsweisen Durchbrechung der Beweiskraft (Widersprüche etc.), an sich gerade nicht zur Disposition des Gerichts.[50]

Dass eine formelle Bewertung auch i.S. eines "eigenen Realitätsbegriffs" trotz des Grundsatzes der materiellen Wahrheit im Strafverfahren jedenfalls für die Revision durchaus kein Fremdkörper ist, lässt sich zwanglos an anderen Konstellationen zeigen: So kann sich etwa ein Angeklagter bei einer für ihn zu Unrecht günstigen Sachverhaltsfeststellung mit gleichzeitig rechtsfehlerhaften Ausführungen zu seiner Strafbarkeit bei seiner Revision ohne weiteres auf die Erhebung der Sachrüge beschränken, die dann möglicherweise auf der Grundlage der fehlerhaften Feststellungen einen ungerechtfertigten Freispruch zur Folge hat. Noch deutlicher wird dies, wenn der Revisionsführer sich bei einer ihn fehlerhaft "begünstigenden" Feststellung und einem fehlerhaft unvollständigen Schuldspruch auf einen Angriff der zu strengen Strafzumessung beschränkt. Auch hier müsste das Revisionsgericht (mittlerweile freilich auf Grund von § 354 Ia StPO und dessen unangemessen weiter Anwendung durch die Rechtsprechung[51] nur noch in stark eingeschränktem Umfang) trotz eines bewussten Ausnutzens fehlerhafter Grundlagen für diese Strafzumessung der Rüge zum Erfolg verhelfen. Auf die Idee eines "Missbrauchs des Eintretenlassens der horizontalen Teilrechtskraft" käme ernstlich niemand, obwohl die Auswirkungen - Erfordernis eines Freispruchs bzw. der Aufhebung des Strafausspruchs - in gewisser Weise sogar noch weiter gehen, als wenn die Feststellungen aufgehoben werden und bei einer neuen Verhandlung in der Sache ein mehr oder weniger identisches Ergebnis herauskommt.

Schließlich steht der Annahme einer "eigenen Revisionsrealität", die durch die Anträge und die zum Beweis der Anträge zugelassenen Beweismittel geprägt wird, auch die grundsätzliche Wahrheitspflicht des Verteidigers nicht notwendig entgegen: So ist bereits die im Gesetz nirgends explizit statuierte Wahrheitspflicht keinesfalls deutlicher ausgeprägt als der durch § 274 StPO zumindest auf den ersten Blick entstehende Anschein einer "formellen Revisionswahrheit", so dass insoweit kein Vorrang feststellbar ist. Ferner kann die aus Ermittlungs- und Hauptverfahren bekannte Wahrheitspflicht kaum eins zu eins auf das Revisionsvorbringen übertragen werden, da es nicht mehr um die Rekonstruktion der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, sondern um die Überprüfung des Urteils geht.

3. Aus all dem ergibt sich: Eine klare Zweckbestimmung dahingehend, dass § 274 StPO nur Beweiskraft hinsichtlich tatsächlich stattgefundener oder solcher unrichtig protokollierter Vorgänge entfaltet, die ohne Kenntnis der Unrichtigkeit gerügt werden, kann nicht begründet werden. Vielmehr sprechen gerade die strenge Formalisierung des Beweisrechts hinsichtlich der Geschehnisse in der Hauptverhandlung sowie die auch sonst in der Revision erfolgende "Schaffung einer eigenen prozessualen Wirklichkeit" dafür, dass § 274 StPO in der Tat die Möglichkeit unrichtiger Rügen auf jeden Fall und wohl auch die Möglichkeit bewusst unwahrer Protokollrügen institutionell "mit einplant". Berücksichtigt man ferner, dass der Revisionsführer mit seiner Verfahrensrüge und der Beweisführung mittels des Protokolls sowohl die Prozessbefugnis der Rechtsmitteleinlegung als auch das Institut der Beweiskraft des Protokolls zu den Zwecken gebraucht, zu denen sie geschaffen sind, fällt die Annahme eines Missbrauchs i.S. einer so evidenten Zweckwidrigkeit schwer, dass von der gesetzlichen Regelanordnung ausnahmsweise abgewichen werden muss.

4. Abschließend muss man sich freilich eines vergegenwärtigen: Dass die Konsequenz einer Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen im folgenden Fall angesichts des umfangreichen Verfahrens und der scheinbar glasklaren Ergebnisse im Rahmen der eingeholten Stellungnahmen dem Senat mehr als misslich vorkommen musste, ist unschwer nachvollziehbar. Und auch wenn man eine Lösung über ein ungeschriebenes Missbrauchsverbot (jedenfalls auf dem Boden der gegenwärtigen Missbrauchsdogmatik) bezweifeln muss, "drohen" als alternative Lösungsmöglichkeiten - de lege lata et ferenda - die Rügeverkümmerung durch Protokollberichtigung, ein generelles Zurückstutzen der (das Problem der unwahren Rüge ja erst in voller Schärfe zutage treten lassenden) absoluten Revisionsgründe oder aber eine generelle Aufweichung der Beweiskraft des Protokolls. Wahrscheinlich würden der Verteidigung mit all diesen Möglichkeiten Steine statt Brot gegeben.


[1] NJW 2006, 3579. Vgl. hierzu bereits Jahn, JuS 2007, 91 und im Erscheinen auch Gaede, StraFo 2007 Heft 1; Hollaender und Fahl in JR 2007, Heft 1.

[2] Zur Betrachtung der unwahren Verfahrensrüge unter dem Missbrauchsblickwinkel aber bereits Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß (2004), S. 681 ff.

[3] Vgl. insoweit zur Diskussion nur aus den letzten Jahren die monographischen Untersuchungen von Abdallah, Die Problematik des Rechtsmißbrauchs im Strafverfahren (2002, dazu Kudlich, GA 2003, 852 ff.), Eschenhagen, Der Mißbrauch des Beweisantragsrechts (2001, dazu Kudlich, JA 2002, 580 ff.), Fahl (Fn. 2), Grüner, Über den Mißbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozeß (2000), sowie Spiekermann, Der Mißbrauch des Beweisantragsrechts (2001 - dazu nochmals Kudlich, JA 2002, 580 ff.); ferner aus der jüngeren Vergangenheit die Beiträge von Fezer, Weber-FS (2004), S. 475 ff., sowie Senge, NStZ 2002, 225 ff.

[4] Vgl. dazu insbesondere den Anfragebeschluss des 1. Strafsenats in NStZ-RR 2006, 112 = StV 2006, 287 = HRRS 2006, 91 sowie dazu auch die Reaktionen der übrigen Strafsenate in HRRS 2006, 235 f. und nunmehr auch den Vorlagebeschluss des 1. Strafsenats vom 23.8.2006 AZ: 1 StR 466/05 abrufbar auf http://www.bundesgerichtshof.de = HRRS 2006 Nr. 858 mit Bespr. Gaede, HRRS 2006, 409 ff. Zum Anfragebeschluss vgl. Bosch, JA 2006, 578 ff. sowie Jahn/Widmaier, JR 2006, 166 ff.

[5] Vgl. auch die Verwunderung Jahns (JuS 2007, 91, 92) darüber, dass der 3. Senat "trotz des laufenden, durch den 1. Strafsenat in Gang gesetzten Anfrageverfahrens" ohne Eingehen auf die Frage einer Rügeverkümmerung die Lösung im Missbrauchsargument sieht.

[6] Statt vieler plakativ nur Schulz, StV 1991, 354, 362, wonach ein strafprozessuales "Verfahrensrecht, das nicht mißbraucht werden kann, (...) den Namen nicht (verdient)"; ferner Gaede, HRRS 2003, 93 ff.; zur Frage nach "Recht oder Missbrauch des Rechtsmissbrauchs" auch bereits Christensen/Kudlich in: Feldner/Forgó (Hrsg.) Norm und Entscheidung (2000), S. 189 ff.

[7] Nicht in der Qualität der Entscheidungsbegründung, die zu den grundsätzlichen Fragen knapp gehalten ist, zum speziellen Fall dagegen beachtliche Argumente vorbringt! Insgesamt kritischer ("im Ganzen nicht überzeugen[d]" dagegen Jahn, JuS 2007, 91, 93).

[8] In dieser Entscheidung (vgl. dazu auch die Besprechungen von Hamm, NJW 1993, 289 ff.; Maatz, NStZ 1992, 513 ff.; Scheffler, JR 1993, 170 ff., sowie Widmaier, NStZ 1992, 519 ff.) wird die Geltung eines allgemeinen Missbrauchsverbots recht besehen eher postuliert als begründet, was gerade für das voraussetzungsvolle Missbrauchsargument (vgl. nochmals Christensen/Kudlich [Fn. 6], S. 202 ff.) methodisch bedauernswert ist. Vgl. zum Versuch, eine allgemeine Missbrauchsdogmatik zu begründen und zu konturieren Fahl (Fn. 2), S. 68 ff. sowie insbesondere Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot (1998), S. 60 ff.

[9] Vgl. etwa die Entscheidungen RGSt 18, 365; 38, 57, sowie später Weber, GA 1975, 289 ff.

[10] Vgl. aus jüngerer Zeit etwa die Entscheidungen BayObLG NStZ 2004, 647 = StV 2005, 12 = HRRS 2005, 7 f. m. Anm. Kudlich, HRRS 2005, 10 ff., BGH NJW 2005, 2466 m. Anm. Kudlich, JuS 2005, 852, sowie auch BGH NJW 2006, 2421 m. Anm. Jahn, JuS 2006, 760.

[11] So waren Aspekte des Themas kurz nacheinander Gegenstand der strafrechtlichen Abteilung des 60. Deutschen Juristentags 1994, des 20. Strafverteidigertages 1996 sowie des 6. Strafrechtsfrühjahrssymposiums des DAV 1996. Umfangreiche Nachweise zur Diskussion in dieser Zeit (statt aller nur Fischer, NStZ 1997, 212 ff.; Kempf, StV 1996, 507 ff.; Kröpil DRiZ 1996, 448 ff.; ders., ZRP 1997, 9 ff.; ders., JuS 1997, 355 ff.; ders., JR 1997, 315 ff.; ders., JZ 1998, 135 f. Kühne, StV 1996, 684 ff.; Niemöller, StV 1996, 501 ff.; Rüping, JZ 1997, 865 ff.) in den Monographien von Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime (1998) und Kudlich (Fn. 8).

[12] Vgl. Kudlich, HRRS 2005, 10 (12); zu diesen Strukturfragen auch bereits ausführlicher ders. (Fn. 8), passim, insb. S. 189 ff., 248 ff., sowie ders., NStZ 1998, 588 ff.

[13] Ausführlicher Kudlich, HRRS 2005, 10 (12 f.); vgl. ferner vertiefend Kudlich (Fn. 8), S. 60 ff., zusf. 249 ff., sowie Fahl (Fn. 2), S. 68 ff.

[14] So etwa im (zutreffend entschiedenen) Fall BGHSt 40, 287 m. Anm. Kudlich, JuS 1997, 507 ff. (missbräuchliche Verknüpfung zwischen Bedingung und Antragsinhalt beim Hilfsbeweisantrag).

[15] Zur Bedeutung materiell-strafrechtlicher Grenzen, die inzident auch das Verfahrensrecht beeinflussen können, vgl. Abdallah (Fn. 3), S. 22 f., 186 ff., der freilich nicht hinreichend herausstellt, dass die Grenze einer prozessualen Reaktion durchaus nicht identisch mit der einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit verläuft - anderenfalls müsste bei jedem Beweis- oder Ablehnungsantrag, der zurückgewiesen wird, unmittelbar über eine Strafbarkeit nach § 258 StGB nachgedacht werden.

[16] Vgl. auch Kudlich (Fn. 8), S. 42 ff.

[17] Vgl. dazu Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 366.

[18] Vgl. dazu nochmals die Nachweise in Fußn. 11.

[19] Vgl. Kudlich (Fn. 8), S. 359 f.

[20] Vgl. deutlich etwa nochmals BayObLG NStZ 2004, 647 = HRRS 2005, 7 f. m. Anm. Kudlich, HRRS 2005, 10 ff. ("[E]ine Anerkennung dieses Instituts in engen Grenzen[ist]kein Grund[...], das drohende Ende eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens anzumahnen)."; krit. allerdings Bünger, NStZ 2006, 305 ff.; Duttge, JZ 2005, 1012 ff.; Ventzke, HRRS 2005, 233 ff. zu BGH NJW 2005, 2466.

[21] Dies gilt um so mehr, wenn der Senat das Argument "drohender Missbrauch eines Missbrauchsverbots" mit dem Attribut "dogmatisch ohnehin wenig gewichtig" versieht - dass dann die stärker dogmatisch fundierten Gegenargumente nicht einmal angesprochen werden, erstaunt doch etwas.

[22] Vgl. nochmals BayObLG NStZ 2004, 647 = HRRS 2005, 7 f.

[23] Vgl. nur Jahn (Fn. 11), S. 50 m.w.N.; Spiekermann (Fn. 3), S. 22 ff., 140.

[24] Vgl. bereits die Darstellung bei Jahn (Fn. 11), S. 51 ff. (freilich selbst ablehnend) sowie zur Begründung näher Kudlich (Fn. 8), S. 113 ff., 249 ff., 366 ff. und Fahl (Fn. 2), S. 117 ff., 124 ff.

[25] Vgl. dafür auch bereits Kudlich (Fn. 8), S. 39, 97 ff., 266 f.

[26] Vgl. dazu Spiekermann (Fn. 3), S. 142 sowie - freilich in etwas anderem Kontext - Jahn (Fn. 11), S. 266.

[27] Vgl. dazu Spiekermann (Fn. 3), S. 145.

[28] Auch insoweit liegt vorliegend eine Ausnahmekonstellation vor.

[29] Wenn eine ausgesprochene Missbrauchsreaktion auf den Verfahrensausgang irgendeine Auswirkung haben kann, wird sie immer denkbarer Gegenstand einer Verfahrensrüge sein, über deren Begründetheit dann letztlich das Revisionsgericht zu entscheiden hat.

[30] Zutreffend hervorgehoben von Jahn (Fn. 11), S. 269 ff., der insoweit auch auf § 27 StPO hinweist.

[31] Zuzugestehen ist dabei zwar, dass die jüngere Rechtsprechung die Anwendung der Norm auf "Formalentscheidungen" reduziert, die in ihrer Komplexität kaum mit dem Missbrauchsproblem zu vergleichen sind; allerdings gilt dies vorrangig für Tendenzen einer erweiterten Anwendung des § 26a I Nr. 2 StPO, während in Nr. 3 das Gesetz selbst Fallgruppen benennt, die mit ähnliche Wertungen verlangen wie das Missbrauchsurteil.

[32] Vgl. dazu Jahn (Fn. 11), S. 268; Spiekermann (Fn. 3), S. 144. Etwas anders - nicht methodisch mittels Gegenschlusses argumentierend, sondern unter Einbeziehung weiterer Maßnahmen, insbesondere der Strafdrohung des § 258 StGB und der Verhandlungsleitung des § 238 StPO ein Bedürfnis für weitere Missbrauchsreaktionen weitgehend bestreitend - Abdallah (Fn. 3), S. 147 ff., 205 ff.

[33] Vgl. Kudlich (Fn. 8), S. 42 ff., 77 ff., sowie dann zu einzelnen Fallgruppen S.  281, 293 f., 302, 317 f. Betont sei insoweit noch einmal: Die Tatsache, dass wohl keine abschließenden Ausprägungen vorliegen, lässt ein allgemeines Missbrauchsverbot nur grundsätzlich einmal zu - ob es tatsächlich besteht, ist damit noch nicht gesagt.

[34] Jahn (Fn. 11), S. 51 ff., 266 ff.; Abdallah (Fn. 3), S. 90 ff.

[35] Vgl. Jahn (Fn. 11), S. 268, der zu Recht auch die Frage nach einer etwa erforderlichen Diskontinuität in der Rechtsprechung des BGH gegenüber den Äußerungen des RG nach Inkrafttreten des GG aufwirft; Spiekermann (Fn. 3), S. 139 (freilich mit einer mir wenig einsichtigen Differenzierung auf S. 139, dort bei Fußnote 37); in diesem Kontext weniger klar trotz des das Verfassungsrecht besonders betonenden Untertitels seiner Arbeit Abdallah (Fn. 3), passim.

[36] Ähnlich im Übrigen, wie er bei realistischer Einschätzung vom Bindungspotential eines Gesetzestextes seine Entscheidungsnorm ohnehin nie als im Normtext "Vorvollzogenes" im Wege eines Erkenntnisaktes nur nachvollziehen kann, sondern unter Berücksichtigung des selben seine Entscheidung selbst treffen muss, vgl. nur Christensen/Kudlich (Fn. 6), passim, insb. S. 176 ff.

[37] Ausführlicher Kudlich (Fn. 8), S. 333 ff.

[38] Vgl. zum Folgenden auch näher Kudlich (Fn. 8), S. 116 ff.

[39] Dagegen ist nach h.M. der spezielle Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG jedenfalls nicht generell im Strafverfahrensrecht einschlägig, vgl. näher m.w.N. zur Diskussion Kudlich (Fn. 8), S. 133 ff.

[40] Inkonsequent wäre es dagegen - wie in der Literatur zum Teil vorgeschlagen -, eine Missbrauchskontrolle dann durch die entsprechende Anwendung von § 34 StGB oder eine erweiternde Anwendung des § 238 StPO ermöglichen zu wollen. Einem wahrhaft puristischen Verständnis eines prozessualen Gesetzesvorbehalts könnten diese Grundlagen nicht genügen.

[41] Das gilt selbst in Fällen, in denen in der Sache das restriktive Verständnis durchaus umstritten ist. Exemplarisch: Das mögliche Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses in Fällen prozessualer Überholung; Beschränkungen der absoluten Revisionsgründe auf bestimmte Fälle aus dem vom Wortlaut theoretisch erfassbaren Anwendungsbereich (z.B. unzulässige Erweiterungen der Öffentlichkeit).

[42] Ferner wäre darzulegen, dass bei der Missbrauchsreaktion auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird, vgl. Kudlich (Fn. 8), S. 163.

[43] Die Überlegungen des Senats zu praktischen Schwierigkeiten, zur Umgehbarkeit sowie zum Kräfteverhältnis zwischen Gericht und Verteidigung seien hier außer Betracht gelassen.

[44] Also exemplarisch: Ein Beweisantrag, der auf die generelle Unzuverlässigkeit eines im konkreten Fall den Angeklagten zu Recht belastenden Zeugen mit der Folge abzielt, dass das Gericht diesem Zeugen keinen Glauben schenkt; vgl. auch Widmaier-Müller, MAH Strafverteidigung, 2006, § 55 Rn. 20 sowie bereits Kudlich, HRRS 2005, 10 (14).

[45] Vgl. nur ausführlich KK/StPO-Laufhütte, 5. Aufl. (2003), Vor § 137, Rn. 7; Meyer-Goßner, 49. Auflage (2006), Vor § 137, Rn. 2 mit zahlreichen w.N.; nur im Hinblick auf die bewusste Verbreitung von Unwahrheit hingegen Lüderssen-LR/StPO, 25. Aufl. (Stand März 2002); Vor § 137, Rn. 1170. Näher zur Wahrheitspflicht allgemein Widmaier-Müller (Fn. 44), § 55 Rn. 18 ff. Zu den Grenzen im Beweisantragsrecht auch Herdegen, NStZ 2000, 1, 3

[46] Als Pendant zur Beweiswürdigung auf Grund eines Beweisantrags der in Fn. 41 genannten Art.

[47] Als Pendant zur Lüge eines Verteidigers während der Hauptverhandlung.

[48] Vgl. - noch vor der hier besprochenen Entscheidung des BGH - Widmaier-Müller (Fn. 44), § 55 Rn. 34.

[49] In diesem Sinne wohl auch Jahn, JuS 2007, 91, 92.

[50] Insofern hat die Argumentation (jedenfalls gemessen am üblichen Verständnis der Beweiskraft des Protokolls) durchaus etwas Zirkuläres, wenn eine Berufung auf das Protokoll deswegen als missbräuchlich angesehen wird, weil das Revisionsgericht außerhalb der bislang anerkannten Fallgruppen dem Inhalt des Protokolls keinen Glauben schenken will.

[51] Vgl. dazu kritisch Jahn/Kudlich, NStZ 2006, 340 ff.