HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe Januar 2007 publiziert zwei Anmerkungen zu viel diskutierten und auch in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Entscheidungen. Prof. Dr. Hans Kudlich bespricht die Entscheidung des 3. Strafsenats zum Rechtsmissbrauch bei der unwahren Verfahrensrüge. Die Hoyzer-Entscheidung zum Betrug durch manipulierte Fußballwetten wird von Gaede mit ersten Anmerkungen versehen.

Weitere bedeutsame Entscheidungen, die jeweils für BGHSt vorgesehen sind, befassen sich mit den Rechtsfolgen der Missachtung des Konfrontationsrecht des Angeklagten und mit der Untreue im Fall Kanther. Die Ausgabe umfasst insgesamt 68 Entscheidungen und zwei Rezensionen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

4. BVerfG 2 BvR 2342/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. November 2006 (OLG Stuttgart/LG Stuttgart)

Freiheit der Person; Untersuchungshaft; Haftverschonungsbeschlusses (mittelbarer Widerruf durch Erlass eines neuen Haftbefehls; neu hervorgetretene Umstände: hohe Freiheitsstrafe, erhebliche Abweichung von der Straferwartung, "noch dringenderer Tatverdacht").

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG; § 112 StPO; § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO

1. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.

2. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich.

3. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls als neue Tatsache rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht.

4. Die Widerrufsvoraussetzungen einer Haftverschonungsentscheidung können nicht dadurch umgangen werden, dass kurzerhand ein neuer Haftbefehl erlassen wird.

5. Neu hervorgetretene Umstände im Sinne des § 116 Abs. 4 StPO können sich dagegen nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen, der bereits Grundvoraussetzung für Erlass und Aufrechterhaltung jeden Haftbefehls ist. Demgemäß ist ohne Bedeutung, dass sich der dem Haftbefehl oder der Anklage zugrunde gelegte dringende Tatverdacht auf Grund der Beweisaufnahme in der

Hauptverhandlung bestätigt hat und damit noch "dringender" geworden ist.

6. Vor dem Hintergrund, dass Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden sind, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317, 322 f.; 96, 68, 97; 105, 239, 247), fordert die Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging.


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 722/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. Dezember 2006 (OLG München)

Anspruch auf rechtliches Gehör (ausdrückliche Bescheidung zentralen Vorbringens in den Entscheidungsgründen; Gutachten); Entschädigungspflicht nach Vollzug der Untersuchungshaft (Vorwurf grob fahrlässiger widersprüchlicher Angaben im Verfahren).

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 2 Abs. 1 StrEG; § 5 Abs. 2 StrEG

1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218, 220; 96, 205, 216). Hingegen gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (vgl. BVerfGE 21, 191, 194; 96, 205, 216). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden.

2. Eine Verletzung des Rechtes auf rechtliches Gehör liegt bei einer fehlenden Bescheidung des Vorbringens jedenfalls dann vor, wenn das Gericht in seinen Entscheidungsgründen nicht auf einen vorgebrachten Umstand eingeht, der nach den besonderen, auch durch die Verfahrensgeschichte belegten Umständen des Falles erkennbar von zentraler Bedeutung ist. Ein solches Vorbringen darf nicht allein mit dem pauschalen Hinweis abgetan werden, der entsprechende Schriftsatz habe vorgelegen.