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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2006
7. Jahrgang
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Angela Schenk: Gegenüberstellung im Strafverfahren; Diss. Mannheim 2002, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2002, 366 S., ISBN 3-8300-0785-X.
I. Getreu dem Untertitel ihrer Dissertation widmet sich Schenk dem Thema der Gegenüberstellung im Strafverfahren unter besonderer Berücksichtigung der psychologischen Forschung und des englischen Strafprozesses. Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert: Das erste Kapitel befasst sich mit bislang vorhandenen Ergebnissen aus der psychologischen Forschung zu den Problemen der Personenwiedererkennung; das zweite Kapitel stellt die Entwicklung der Gegenüberstellung in der englischen Strafgesetzgebung sowie in der englischen Polizeipraxis und Rechtsprechung dar; das dritte Kapitel schildert die rechtlichen Grundlagen der Gegenüberstellung im deutschen Strafverfahren und ihre praktische Durchführung im Ermittlungs- und Hauptverfahren; das vierte Kapitel vergleicht die Rechts- und Praxislage in beiden Ländern unter Einbeziehung der Erkenntnisse der psychologischen Forschungsresultate; und im fünften Kapitel bietet Schenk konkrete Empfehlungen sowohl für eine gesetzliche Regelung des Gegenüberstellungsverfahrens als auch für dessen praktische Umsetzung und Ausgestaltung.
II. Im ersten Teil ihrer Arbeit untersucht Schenk empirische Ergebnisse der psychologischen Forschung zur Personenwiedererkennung bei Gegenüberstellungen. Ziel ihrer Analyse ist es festzustellen, wie das Gegenüberstellungsverfahren gestaltet sein muss, um eine möglichst geringe Fehlerquote - Wiedererkennen des "falschen" Täters oder Nicht-Wiedererkennen des tatsächlichen Täters - und eine möglichst große Objektivität zu gewährleisten. Im Rahmen dieser Untersuchung unterscheidet Schenk zwischen solchen Faktoren, die das Gegenüberstellungsverfahren an sich betreffen (beispielsweise Größe und Zusammensetzung der Gruppe von Personen, aus der der Verdächtige von Zeugen benannt werden soll), den so genannten Kontrollvariablen, und solchen Aspekten, die in der Wahrnehmungssituation oder in der Person des Zeugen oder des Verdächtigen begründet sind, Schätzvariablen genannt.
Auf dem Gebiet der Kontrollvariablen kommt Schenk zu recht eindeutigen Ergebnissen im Hinblick auf die Beeinflussbarkeit des Verfahrens. Dass eine Wahlgegenüberstellung, also das Vorführen einer Personengruppe, aus der der Zeuge den Verdächtigen auswählen soll, gemessen an einer Einzelgegenüberstellung zu objektiveren und weniger fehleranfälligen Resultaten führt, erklärt sich von selbst: Wenn es nur einen Verdächtigen gibt, spricht aus der Sicht des Zeugen vieles dafür, in ihm auch den Täter zu "erkennen". Zur Wahlgegenüberstellung stellt Schenk Folgendes fest: die Alternativpersonen müssen - natürlich - dem Verdächtigen in den Merkmalen, die der Zeuge bei seiner Täterbeschreibung genannt hat, ähneln; eine zu große Ähnlichkeit allerdings beeinflusst das Ergebnis der Gegenüberstellung insofern negativ, als sie zu einer höheren Quote an falschen Wiedererkennungen führt. Das gilt ebenfalls für eine zu große Anzahl an Alternativpersonen - Schenk zufolge sollte die Gruppe idealerweise aus einem Verdächtigen und fünf Alternativpersonen bestehen. Bei der Auswahl dieser Alternativpersonen ist zu beachten, dass sie die Identität des Verdächtigen nicht kennen dürfen; anderenfalls besteht die Gefahr, dass sie durch ihr Verhalten dem Verdächtigen gegenüber dem Zeugen unabsichtlich Hinweise auf den Verdächtigen-Status geben. Das ist nach Schenks Auffassung ein Grund dafür, keine Polizeibeamten als Alternativpersonen bei Gegenüberstellungen einzusetzen - ein weiterer Grund besteht darin, dass Polizisten mit der Gegenüberstellungssituation zwangsläufig vertraut sind und sich dementsprechend unaufgeregt verhalten, so dass ein Verdächtiger dem Zeugen schon allein dadurch ins Auge fallen kann, dass er als einziger nervös wirkt. Zu vermeiden ist selbstverständlich jede Form der suggest-
iven Beeinflussung des Zeugen, und sei es nur die erneute Nachfrage, ob der Zeuge denn auch wirklich niemanden aus der Personengruppe erkannt habe; schon diese Frage führt bei Zeugen zu einem "Erkenntnisdruck", der eine objektive Entscheidung verhindert. Schenk stellt weiter fest, dass eine sequentielle Gegenüberstellung eher zu korrekten Ergebnissen führt als eine simultane Gegenüberstellung und dass ein wiederholtes Erkennen - wenn beispielsweise der Zeuge vor der Wahlgegenüberstellung bereits eine Lichtbildaufnahme des Verdächtigen gesehen hat - eine erhöhte Gefahr der Falscherkennung birgt.
Auch aufgrund mangelnder empirischer Forschung kann Schenk zum Thema der Schätzvariablen nicht so deutliche Aussagen treffen, wie ihr das bei den Kontrollvariablen gelingt. Hier beschränkt sie sich überwiegend auf eine sehr knappe Feststellung im Grunde genommen selbst erklärender Faktoren: Eine auffällige Person wird leichter wiedererkannt als eine nicht auffällige; eine Vermummung führt zu schlechteren Wiedererkennungswerten; schlechte Lichtverhältnisse, eine kurze Dauer der Wahrnehmungsphase, Stress oder Nervosität beim Zeugen oder gar dessen Kurz- oder Weitsichtigkeit beeinflussen den Erkennungsprozess in negativer Weise. Interessant sind hier allerdings die Überlegungen, die Schenk zu den Aspekten des "Waffenfokus" und des "own race-bias" (den sie - aus Gründen der politischen Korrektheit verständlich, aber unglücklich und im Ergebnis unrichtig - mit "Ausländereffekt" übersetzt) anstellt. Das Vorhandensein einer Waffe führt nicht etwa dazu, dass sich der Zeuge aufgrund der Schwere der Tat besser an den Täter erinnert, sondern dazu, dass er seine Aufmerksamkeit stärker auf die Waffe als auf die die Waffe verwendende Person lenkt; die Quote korrekten Wiedererkennens ist bei Straftaten mit Waffen geringer als bei solchen ohne Waffen. Und bei der Wiedererkennung von Personen einer anderen ethnischen Herkunft liegt die Schwierigkeit nicht, wie häufig vermutet, darin, dass der Zeuge meint, "die sähen alle gleich aus", sondern darin, eine ausgewogene Gegenüberstellungsgruppe zusammenzustellen, also eine genügende Anzahl von dem Verdächtigen ähnelnden Alternativpersonen zu finden.
So überzeugend Schenks Ergebnisse ihrer Auswertung der psychologischen Empirik sind, so wenig überzeugend ist leider deren Präsentation im ersten Kapitel: Die Formatierung insbesondere der in Tabellen dargestellten Forschungsergebnisse, oftmals fehlende Umrechnungen absoluter Rohdaten in Prozentangaben und eine eher willkürliche Verteilung von Leerzeichen und Kommata machen das Lesen des für sich genommen spannenden Texts sehr zäh und langwierig.
III. Im zweiten Kapitel gibt Schenk einen zusammenfassenden Überblick über die Entwicklung des Gegenüberstellungsverfahrens im englischen Recht: Nachdem es in den 70er Jahren in Großbritannien zu einer Reihe aufsehenerregener Fehlurteile aufgrund falscher Wiedererkennung der vermeintlichen Täter durch Zeugen gekommen ist, setzt das englische Innenministerium einen Ausschuss ein, der materiell- und prozessrechtliche Fragen der Gegenüberstellung klären soll. Der Ausschuss, das "Devlin Committee", liefert seinen Bericht, den "Devlin Report", im Jahr 1976 ab und empfiehlt die Kodifizierung des Gegenüberstellungsverfahrens; diese erfolgt mit dem "Police and Criminal Evidence Act" (PACE) 1984.
Nachdem Schenk einige der erwähnten Fehlurteile und - in der gebotenen Kürze - den generellen Ablauf des englischen Strafverfahrens geschildert hat, konzentriert sie sich darauf, die das Gegenüberstellungsverfahren betreffenden Regelungen des als Konkretisierung der section 78 des PACE ausgestalteten Code of Practice D darzustellen und deren Durchsetzung in der Praxis zu erklären. Kurz zusammengefasst stellt sich die Rechtslage in England so dar: Es bestehen die Möglichkeiten der klassischen Wahlgegenüberstellung, der so genannten "group identification" - also des Wiedererkennens des Verdächtigen aus einer Personengruppe beispielsweise auf einem öffentlichen Platz -, der Einzelgegenüberstellung und der Wiedererkennung anhand eines Videofilms. Der Beschuldigte ist darüber zu belehren, welche Arten der Gegenüberstellung es gibt, und darüber, dass er nicht zu einer Gegenüberstellung gezwungen werden kann; allerdings kann seine Weigerung, an einer Wahlgegenüberstellung teilzunehmen, nicht nur dazu führen, dass eine andere Form der Gegenüberstellung stattfindet, sondern auch als Indiz für seine Schuld, also gegen ihn verwendet werden.
Gerade im Vergleich zum deutschen Strafverfahrensrecht ist interessant, was Schenk zur Stellung des Verteidigers bei der Gegenüberstellung im englischen Ermittlungsverfahren beschreibt. Der Verteidiger hat nicht nur ein recht umfassendes Anwesenheitsrecht bei jeglicher Form der Gegenüberstellung, sondern er hat sogar Mitwirkungsrechte: Wenn es der Polizei etwa nicht gelingt, genügend Alternativpersonen für eine ausgewogene Vergleichsgruppe zu finden, kann und soll der Verteidiger selbst nach solchen Personen suchen und, sollte er fündig werden, diese der Polizei vorschlagen.
Im Anschluss an die Darstellung der rechtlichen Regelung und praktischen Durchführung des Gegenüberstellungsverfahrens in England kommt Schenk dann auf die Konsequenzen der Nicht-Befolgung der Vorschriften von PACE und Code of Practice D zu sprechen. Zu diesem Zweck schildert sie einige landmark cases des Court of Appeal. Diese Schilderung gerät ihr leider ziemlich konfus; oft springt sie von der Falldarstellung in die rechtliche Würdigung und zurück, mischt die im ersten Kapitel gewonnenen Erkenntnisse zur optimalen Gestaltung der Gegenüberstellung mit der Rechtsprechung des Court of Appeal und findet generell keine klare Form der Präsentation für diesen Abschnitt des zweiten Teils.
IV. Das dritte Kapitel der Dissertation widmet sich der Gegenüberstellung im deutschen Strafverfahren. Schenk wirft zunächst die Frage nach der gesetzlichen Grundlage für eine zwangsweise Gegenüberstellung auf: § 58 Abs. 2 StPO lehnt sie aus Gründen des systematischen Zusammenhangs des sechsten Abschnitts der Strafprozessordnung ab. Eine analoge Anwendung der §§ 81a, 81b StPO hält sie ebenfalls für nicht zulässig, allerdings leider ohne
stichhaltige Argumente; § 81a StPO kommt nach Schenks Auffassung nicht in Betracht, da die Gegenüberstellung eine andere Betrachtung des Körpers des Beschuldigten ist als die Betrachtung des Körpers zum Zweck einer Untersuchung; und eine "ähnliche Maßnahme" im Sinne des § 81b StPO ist die Gegenüberstellung Schenk zufolge auch nicht, da die beim Wiedererkennungsprozess erfolgte Erkenntnisoperation weder messbar noch nachvollziehbar oder nachprüfbar ist. Schenk kommt daher zu dem Ergebnis, eine zwangsweise Gegenüberstellung sei aufgrund mangelnder Eingriffsgrundlage nicht zulässig. Diesem Ergebnis - und auch ihrer Schlussfolgerung, eine heimliche Gegenüberstellung verbiete sich aus demselben Grund - ist sicher zuzustimmen; an einer validen argumentativen Herleitung mangelt es allerdings. An dieser Stelle wäre mehr tatsächlich mehr gewesen; gerade im Vergleich mit der sehr ausführlichen Beschreibung der Gesetzes- und Praxislage in England wirkt dieser Teil der Arbeit arg verknappt und dürftig.
Das gilt nicht für den anschließenden Teil der Untersuchung der tatsächlichen praktischen Durchführung der Gegenüberstellung. Dazu hat Schenk - zum einen durch eigene Beobachtung von Gegenüberstellungen als Gast der Heidelberger Polizei, zum anderen durch die Auswertung eines Forschungsprojekts der Fachgruppe Kriminalistik der Fachhochschule der Polizei in Villingen-Schwenningen - umfangreiches Material gesammelt und analysiert. Schenk beschreibt zunächst den generellen Ablauf der Organisation und Durchführung von Gegenüberstellungen und fasst dann die Ergebnisse des Forschungsprojekts "Praxis des Wiedererkennungsverfahrens bei der Polizei des Landes Baden-Württemberg" zusammen. Diese Resultate belegen, dass nur ein Bruchteil der von Schenk im ersten Kapitel entwickelten Maßgaben für die optimale Durchführung des Gegenüberstellungsverfahrens in der Praxis Anwendung finden. So zeigt sich im Rahmen des Projekts, dass 30% der Gegenüberstellungen in der Form der wenig objektiven und fehleranfälligen Einzelgegenüberstellung stattfanden; dass von 3153 Verfahren nur 147 - also 4,45% - auf die wünschenswerte sequentielle Weise erfolgten; dass im Durchschnitt nur vier Alternativpersonen an der Gegenüberstellung beteiligt waren; dass bei 54% der Wahlgegenüberstellungen Polizeibeamte als Alternativpersonen fungierten; dass bei nur 26% der Gegenüberstellungen eine große oder sehr große Ähnlichkeit zwischen dem Beschuldigten und den Alternativpersonen bestand; dass die Beamten häufig suggestive Fragen an die Zeugen stellten; und dass die Verfahren in nicht hinreichender Weise dokumentiert wurden - eine ausführliche Dokumentation ist für die Beurteilung des Beweiswertes der Gegenüberstellung durch das Gericht in der Hauptverhandlung unerlässlich.
Zu Recht kommt Schenk also zu der Schlussfolgerung, es bestehe dringender Bedarf sowohl für eine andere praktische als auch für eine gesetzliche Regelung des Gegenüberstellungsverfahrens.
V. Diese Überlegung setzt Schenk im vierten Teil ihrer Arbeit um. Sie vergleicht die Situation in Deutschland mit der in England und stellt fest, dass die detailgenauen Regelungen des PACE und des Code of Practice D offensichtlich zu einer erhöhten Rechtssicherheit führen. In concreto schlägt Schenk vor, die Größe (Beschuldigter plus mindestens fünf Alternativpersonen), die Auswahl der Alternativpersonen (dem Beschuldigten in den vom Zeugen genannten Merkmalen ähnlich, nicht mit der Identität des Beschuldigten vertraut, keine Polizeibeamte), den Prozess der Befragung des Zeugen (keine Suggestion, kein Aufbau von "Erkennungsdruck" durch die Beamten), die Trennung der Funktion von Ermittlungs- und Wiedererkennungsverfahrensbeamten, die Notwendigkeit der Zustimmung des Beschuldigten, die möglichen Arten des Wiedererkennungsverfahrens, die Belehrung des Beschuldigten, die Dokumentation der Gegenüberstellung und die Rechte des Verteidigers explizit gesetzlich zu regeln. Alle ihre Vorschläge sind sachlich ausgesprochen sinnvoll; leider verweist Schenk allerdings im Rahmen dieser Vorschläge erneut detailliert auf ihre im ersten Kapitel gewonnenen Erkenntnisse, so dass dieses vierte Kapitel sehr repetitiv und unnötig lang gerät.
VI. Im fünften und letzten Kapitel erarbeitet Schenk eine eigene Vorlage für eine gesetzliche Regelung des Gegenüberstellungsverfahrens und setzt dabei die in den vorhergehenden Teilen der Arbeit herausgearbeiteten Resultate in einen ausführlichen, aber nicht über-detaillierten Gesetzestext um. In sachlicher und sehr verständlicher Form gibt Schenk dann Empfehlungen für die praktische Durchführung des Gegenüberstellungsverfahrens und stellt eine Checkliste für den Verteidiger im Wiedererkennungsverfahren auf.
VII. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Schenk im Wege einer sehr ausführlichen Auseinandersetzung mit ihrem Thema zu interessanten und neuen Ergebnissen zur Gegenüberstellung im Strafverfahren gekommen ist. Insbesondere dort, wo es um die praktische Durchführung des Verfahrens und um eigene Vorschläge geht, ist die Arbeit gut zu lesen und überzeugend. Für einen insgesamt sehr guten Eindruck enthält die Dissertation allerdings leider zu viele Wiederholungen und vermeidbare Fehler im äußeren Erscheinungsbild.
Anna Elena Janke , LL.M., Rechtsanwältin, Berlin
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