Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die HRRS-Ausgabe Oktober 2006 widmet sich mit dem Aufsatz von Lucian Krawczyk (zur Diskussion um die "Rügeverkümmerung") und dem Urteil BGH HRRS 2006 Nr. 713 des 3. Strafsenats (Rechtsmissbrauch bei evident unwahrer Verfahrensrüge) vor allem dem Themenkreis Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls. Eine weitere besonders herausragende Entscheidung ist diejenige des BVerfG zur verfassungsunmittelbaren Pflicht deutscher Behörden und Gerichte, die Rechtsprechung des IGH in den Sachen "LaGrand" und "Avena" umzusetzen.
Insgesamt 144 Entscheidungen sind aufgenommen, so dass die Ausgabe auch im Übrigen reich an Informationen sein sollte.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Karsten Gaede
1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungsphase noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist.
2. Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK verlangen den Vertragsstaaten ab, aktive Schritte zu unternehmen, um den Angeklagten in die Lage zu versetzen, Belastungszeugen insbesondere durch eine in seiner Anwesenheit erfolgenden Befragung prüfen zu können oder prüfen zu lassen. Ist eine Zeugenaussage entscheidend im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, dann muss der Vertragsstaat auch nach einer ersten erfolglosen Ladung weitere Schritte unternehmen, um den Zeugen unter Beachtung der Verteidigungsrechte zu hören. Dies gilt auch dann, wenn der Zeuge keinen festen Wohnsitz hat und sich das Gericht insgesamt auf die Niederschriften der Aussagen von zwei Augenzeugen stützen kann.
3. Der Verzicht auf ein Recht der EMRK muss unmissverständlich belegt sein.
1. Des Schutzes aus Art. 4 GG geht der Einzelne nicht deshalb verlustig, weil er sich als Zuhörer in einem Gerichtssaal befindet. Verträgt sich das der Religionsausübung dienende Verhalten mit einem störungsfreien Ablauf der Sitzung, ist es vom Gericht mit Blick auf Art. 4 GG hinzunehmen.
2. Für den Fall des Tragens von Kopfbedeckungen im Gerichtssaal gilt daher, dass eine Ungebühr und damit eine Störung der Sitzung nicht vorliegt, wenn das Aufbehalten eines Hutes oder Kopftuchs lediglich aus religiösen Gründen erfolgt und auszuschließen ist, dass mit ihm zugleich Missachtung gegenüber der Richterbank oder anderen Anwesenden ausgedrückt werden soll und solange der Zuhörer als Person identifizierbar bleibt.
3. Für den Erlass einer sitzungspolizeilichen Maßnahme ist eine Störung der Verhandlung konkret festzustellen und bei der insoweit vorzunehmenden Prüfung grundrechtliche Positionen des Einzelnen zu beachten und der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen als Bestandteil sowohl des Rechtsstaatsprinzips wie des Demokratieprinzips (vgl. BVerfGE 103, 44, 63) ausreichend Rechnung zu tragen.
1. Ein strafprozessualer Eingriff muss in einem angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 96, 44, 51). Der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant verlangt dabei eine besondere Beachtung bei der Prüfung der Angemessenheit.
2. Es erscheint evident sachfremd und daher grob unverhältnismäßig und willkürlich, wegen einiger Verkehrsordnungswidrigkeiten, für die Geldbußen von je 15 Euro festgesetzt wurden, die Kanzleiräume eines Rechtsanwalts zu durchsuchen.
3. Die Auffassung, dass sich das Gericht unbeschadet von § 36 Abs. 2 Satz 1 StPO unmittelbar an die Polizei zur Vollstreckung wenden kann, ist im Hinblick auf die Grundrechte nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden.
1. Maßnahmen, die geeignet sind, das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Strafverteidiger und Mandant, das unverzichtbare Grundlage einer effektiven Verteidigung ist, zu stören oder gar auszuschließen, und Kollisionen zu erzeugen, die den Strafverteidiger daran hindern können, die Interessen seines Mandanten wirksam zu vertreten, greifen in die Berufsausübungsfreiheit des Strafverteidigers ein. Die herausgehobene Bedeutung der unkontrollierten Berufsausübung gebietet die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
2. Dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvoraussetzung selbständig und eigenverantwortlich geprüft hat (vgl. BVerfGE 103, 142 <151 f.>), muss in einem Beschluss zum Ausdruck kommen. Dazu ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten geschildert wird, das - wenn es wirklich begangen worden sein sollte - den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Die Schilderung braucht nicht so vollständig zu sein wie die Formulierung eines Anklagesatzes oder gar die tatsächlichen Feststellungen eines Urteils (vgl. § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO). Aber die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, die die Strafbarkeit des zu subsumierenden Verhaltens kennzeichnen, müssen benannt werden. Es muss ein Verhalten oder sonstige Umstände geschildert werden, die - wenn sie erwiesen sein sollten - diese zentralen Tatbestandsmerkmale erfüllen.
3. Selbst zu einer im Ermittlungsverfahren ausreichenden vergröbernden Schilderung des Verdachts einer Steuerhinterziehung gehört es, dass angegeben wird, welche Steuer und welcher steuerbare Gegenstand betroffen sind und durch welche Verletzung einer steuerrechtlichen Verpflichtung die Steuerverkürzung oder der Steuervorteil bewirkt worden sein soll.
4. Es ist zweifelhaft, ob der Besuchsraum einer Justizvollzugsanstalt, in dem Verteidigergespräche geführt werden, dem Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG unterfällt.
1. Bei absehbar umfangreichen Verfahren, in denen sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, fordert das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche.
2. Wird durch eine vorgenommene Verfahrensgestaltung wie die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO im Ergebnis eine Konzentration des Prozessstoffes erreicht, der derjenigen einer zweimal wöchentlichen Verhandlung entspricht, liegt eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes fern.
1. Die Fachgerichte sind gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet, Art. 36 WÜK ebenso wie das nationale Strafprozessrecht anzuwenden und auszulegen.
2. Das faire Verfahren wird nicht nur durch die Normen der Strafprozessordnung, sondern auch durch völkervertragsrechtliche Vorschriften ausgestaltet.
3. Art. 36 WÜK ist hinreichend bestimmt, um von den Strafverfolgungsbehörden unmittelbar angewendet zu werden; sie bedarf keiner Ausführungsgesetzgebung, sondern ist self-executing. Die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WKÜ obliegt allen zuständigen Strafverfolgungsorganen des Empfangsstaats einschließlich der festnehmenden Polizeibeamten.
4. Aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in Verbindung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 59 Abs. 2 GG), ergibt sich die Pflicht der Fachgerichte, die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK und auch die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs zum Konsularrechtsübereinkommen zu berücksichtigen.
5. Die Berücksichtigungspflicht ist auf Fälle beschränkt, in denen die Entscheidungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei des Konsularrechtsübereinkommens und des Fakultativprotokolls ergehen. Faktisch müssen sich die Vertragsstaaten und mithin ihre Gerichte jedoch auch nach Urteilen richten, die gegen andere Staaten ergangen sind. Der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags durch den Internationalen Gerichtshof ist über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion beizumessen, an der sich die Vertragsparteien zu orientieren haben. Voraussetzung hierfür ist, dass die Bundesrepublik Deutschland Partei des einschlägigen, die in Rede stehenden materiell-rechtlichen Vorgaben enthaltenen völkerrechtlichen Vertrags ist und sich - sei es, wie im Falle des Fakultativprotokolls zum Konsularrechtsübereinkommen, vertraglich, sei es durch einseitige Erklärung - der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterworfen hat.
6. Einer teleologischen Reduktion des Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b WÜK gegenüber Ausländern, die im Empfangsstaat ihren Lebensmittelpunkt haben, steht der eindeutige Wortlaut der Norm entgegen, der allein an das formale Kriterium der ausländischen Staatsangehörigkeit anknüpft.
7. Von einer Konventionsverletzung ist immer dann auszugehen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Einzelne ein bestimmtes prozessuales Recht wie die Aussagefreiheit aufgrund der fehlenden konsularischen Unterstützung nicht in vollem Umfang wahrnehmen konnte, und dies nicht revisibel ist. Daraus folgt allerdings nicht, dass im Falle eines Belehrungsfehlers nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK zwingend von der Unverwertbarkeit der zustande gekommenen Beweisergebnisse auszugehen ist.
8. Von Verfassungs wegen ist es nur dann geboten, einen Verfahrensfehler mit der Folge der zwingenden Aufhebung der mit der Revision angegriffenen Entscheidungen zu versehen, wenn eine Beruhensprüfung wegen Unmöglichkeit oder besonderer Schwierigkeit der Feststellung des Beruhens oder einer vergleichbaren Zusatzbedingung dazu führen würde, dass Verfahrensfehler der betreffenden Art regelmäßig sanktionslos blieben.
1. Eine allgemeine Anordnung, nach der der Gefangene vor der Zuführung zum Besuch - durch eine Schamwand vor den Blicken des Vollzugspersonals geschützt - seine Kleidung gegen Anstaltskleidung im Sinne von § 20 Abs. 1 Satz 1 StVollzG austauschen und sich danach einer Durchsuchung durch Abtasten und den Einsatz elektronischer Sonden unterziehen muss, verstößt nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
2. Eine mit Entkleiden verbundene Durchsuchung i.S.d. § 84 Abs. 2 StVollzG liegt nur dann vor, wenn der Betroffene sich dabei unter visueller Überwachung durch das Vollzugspersonal zu entkleiden hat.
1. Zwar ist eine spätere Ergänzung einer Beschwerdebegründung nicht grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. BVerfGE 81, 208, 214) Voraussetzung hierfür ist aber stets, dass bereits bei Fristablauf eine ausreichend begründete und damit zulässige Verfassungsbeschwerde vorlag (vgl. BVerfGE 5, 1, 2; 84, 203, 223).
2. Zum Fall einer per Fax an das BVerfG übermittelten Beschwerde, wobei die angegriffenen Entscheidungen erst nach Fristablauf per Post nachgereicht wurden.
3. Maßgeblich für den Beginn der Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde ist die Zustellung oder die formlose Mitteilung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung (§ 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Diese Frist kann auch mit der formlosen Übersendung an den gem. § 145a Abs. 1 StPO für Zustellungen bevollmächtigten Verteidiger beginnen.
Besteht ein Strafbedürfnis ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht geboten, von einer Verurteilung zu Strafe nach § 29 Abs. 5 BtMG im Fall des Erwerbs geringer Mengen von Cannabisprodukten abzusehen. Ein Strafbedürfnis kann sich dabei aus einer strafrechtlich erheblichen Vorbelastung und eines Erwerbs im Zeitraum einer Bewährung aus einer einschlägigen Vorverurteilung ergeben.