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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2006
7. Jahrgang
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1. "Neu" im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b StGB sind nur solche Tatsachen, die nach der letzten Möglichkeit, Sicherungsverwahrung anzuordnen, erkennbar wurden (Vorrang des Erkenntnisverfahrens). (BGHSt)
2. Auch für die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB ist Voraussetzung die Feststellung eines "Hanges" im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB. (BGHSt)
3. Die Strafvollstreckungskammer kann entsprechend § 462a Abs. 1 Satz 3 StPO die Entscheidung über Weisungen im Rahmen von Führungsaufsicht der nach § 74f GVG zuständigen Strafkammer für die Dauer des Verfahrens nach § 275a StPO übertragen. (BGHSt)
4. An dem - aus verfassungsrechtlichen Vorgaben folgenden - gesetzgeberischen Anliegen, die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf seltene Einzelfälle extrem gefährlicher Täterpersönlichkeiten zu beschränken, hat sich die Auslegung und Anwendung von § 66b StGB vorrangig zu orientieren. (Bearbeiter)
5. Staatsanwaltschaft und Gericht haben sich besonders intensiv darum zu bemühen, dass Verfahren nach § 66b StGB, § 275a StPO tunlichst vor Erreichen des Strafendes zum Abschluss zu bringen. (Bearbeiter)
1. Der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung steht nicht entgegen, dass der Verurteilte nach Aufhebung eines Unterbringungsbefehls zunächst aus der - vorläufigen - Unterbringung entlassen worden war (vgl. zur zwischenzeitlichen Entlassung aus der Strafhaft bereits Senat, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05 -, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).
2. Tatsachen sind dann nicht "neu" im Sinne des § 66b StGB, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung erkennbar waren. Erkennbar waren seinerzeit alle diejenigen Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2 StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66a StGB anzuordnen ist (Übernahme von BGH, Beschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 -, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).
3. Rechtsfehler, die durch Nichtberücksichtigung erkennbarer Tatsachen bei der der Strafhaft zugrundeliegenden Verurteilung entstanden sind, können nicht durch Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung korrigiert werden.
4. Bei der Entscheidung über die Überweisung in den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67a Abs. 2 StGB) handelt es sich grundsätzlich um eine nachträgliche, d. h. zuständig hierfür ist die Strafvollstreckungskammer. Die Überweisung unmittelbar durch die Strafkammer zugleich mit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung entzöge den Verurteilten insoweit seinem gesetzlichen Richter, mag sie auch "Leerlauf" verhindern (nicht tragend).
1. Bei der Sicherungsverwahrung handelt es sich um eine schwerwiegende Maßregel, die zu langjährigem Freiheitsentzug führen kann. Ihre Anordnung greift daher tiefgehend in das Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) des Angeklagten ein. Sie bedarf deswegen sorgfältiger Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der Maßregel und deren Darlegung in den Urteilsgründen in einer Weise, die es dem Revisionsgericht ermöglicht zu prüfen, ob der Maßregelausspruch rechtsfehlerfrei ist.
2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung darf weder Gegenstand einer verfahrensbeendenden Absprache sein noch gar von einem Geständnis des Angeklagten abhängig gemacht werden darf (vgl. § 136 a StPO).
Eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat (BGHSt 21, 27, 28 f.; 34, 22, 25 ff.; BGHR StGB § 21 StGB Einsichtsfähigkeit 2, 6). Der Täter, der trotz erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit im konkreten Fall die Einsicht in das Unrecht seiner Tat gehabt hat, ist - sofern nicht seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist - voll schuldfähig. In einem solchen Fall ist auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zulässig (BGHSt 21, 27, 28; 34, 22, 26 f.).
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus scheidet aus, wenn der Täter nur vorübergehend vermindert schuldfähig gewesen ist, etwa wenn er aufgrund eines hochgradigen Affektes gehandelt hat, der zwar die Schuldfähigkeit zur Tatzeit aufgehoben oder vermindert hat, der aber nicht als darüber hinausgehende Störung zu bewerten ist (ständige Rechtsprechung; vgl. BGHSt 34, 22, 27).
1. Umstände, die bereits für den ersten Tatrichter erkennbar waren, scheiden als "neue Tatsachen" im Sinne des § 66b StGB aus. Sie können daher die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht begründen.
2. Das Verfahren nach § 66b StGB dient nicht der Korrektur rechtsfehlerhafter früherer Entscheidungen, die von der Staatsanwaltschaft nicht beanstandet wurden. Nur wenn wirklich erhebliche neue Tatsachen während des Vollzugs erkennbar werden, kann dies zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung führen.
1. Bei der Bestimmung der neuen Tatsachen gemäß § 66b Abs. 2 StGB müssen Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, von vornherein außer Betracht bleiben. Darüber hinaus haben solche Umstände auszuscheiden, die der frühere Tatrichter zwar nicht erkannt hat, die er aber hätte erkennen können: "Erkennbar" im hier relevanten Sinn sind auch solche Tatsachen, die der Tatrichter nach dem Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO zur Findung einer Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu erforschen hatte und bei hinreichender Aufklärung gefunden hätte. Rechtsfehler, die durch Nichtberücksichtigung von Tatsachen der genannten Art entstanden sind, können nicht durch eine Entscheidung nach § 66b StGB korrigiert werden (BGH NStZ 2005, 561, 562; BGH NJW 2005, 3078, 3080; BGH StV 2006, 66).
2. Dies gilt auch dann, wenn durch die Behebung des Aufklärungsmangels einem Sachverständigen erstmals die Gelegenheit gegeben wird, die Gesamtheit aller begangenen Tötungsdelikte zu bewerten.
1. Für die Beurteilung der Frage, ob "neue Tatsachen" gegeben sind, ist nicht die neue oder möglicherweise sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zu Grunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat bereits vorlagen und ob diese dem damaligen Tatrichter bekannt oder für ihn erkennbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
2. Verbal-aggressive Angriffe während des Vollzugs der Freiheitsstrafe (vgl. Art. 1 a Satz 2 EGStGB n.F.) stellen wegen des mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Freiheitsrecht des Verurteilten aus Gründen der Verhältnismäßig-
keit nur dann erhebliche neue Tatsachen dar, wenn sie für sich genommen oder in ihrer Gesamtheit auf eine Bereitschaft des Verurteilten hinweisen, schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer zu begehen (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05; Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
Dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-)Vater missbraucht wird und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige findet.
Verfallsobjekte müssen unmittelbar für und aus der Tat erlangt sein. Deshalb scheidet ein lediglich mittelbarer Vermögenszuwachs, d. h. ein Vermögensvorteil, der durch entsprechende Verwendung des ursprünglich Erlangten dem Vermögen eines Täters zufließt, als Verfallsobjekt aus.
Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt allein nichts darüber aus, ob diese im Sinne der §§ 20, 21 StGB "schwer" ist. Hierfür ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Die Ausführungen im Urteil dürfen insoweit nicht allgemein gehalten sein und etwa nur Persönlichkeitsmerkmale anführen, die ohnehin innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens liegen.
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist, auch wenn ihre Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird, eine außerordentlich beschwerende Maßnahme. Deshalb darf sie nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde (vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 11 und 26). Die Gefährlichkeitsprognose bedarf insbesondere dann intensiver Prüfung, wenn es sich um eine eher geringfügige Anlasstat handelt.