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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2006
7. Jahrgang
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1. Die Erledigung eines Strafverfahrens wird nicht allein deshalb in rechtsstaatswidriger Form verzögert, weil das Revisionsgericht zur Korrektur eines dem Tatrichter unterlaufenen - nicht eklatanten - Rechtsfehlers dessen Urteil aufheben und die Sache zu erneuter - zeitaufwändiger - Verhandlung an die Vorinstanz zurückverweisen muss. Dies ist vielmehr Ausfluss eines rechtsstaatlichen Rechtsmittelsystems. (BGHR)
2. Rechtsfehlerhaftes richterliches Verhandeln oder Entscheiden und die sich hieran knüpfenden Folgen können nicht ohne weiteres mit rechtsstaatswidrig säumigem Prozessieren gleichgesetzt werden. Ebenso wie Fehler in der richterlichen Rechtsanwendung regelmäßig nicht zugleich den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen, lösen sie nicht automatisch das Verdikt eines Verstoßes gegen das verfassungs- und konventionsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot aus. (Bearbeiter)
3. Denkbar wäre allenfalls, die durch eklatante Gesetzesverletzungen - also Entscheidungen, die unter keinem Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen sind - eingetretenen
Verzögerungen als einen grund- und konventionsrechtliche Gewährleistungen verletzenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot anzusehen, der im Falle der Verurteilung des Angeklagten auf der Rechtsfolgenseite zu kompensieren wäre oder im Extremfall gar zur Einstellung des Verfahrens zwänge. (Bearbeiter)
4. Wird der Angeklagte des Mordes schuldig gesprochen, so kann von der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe in aller Regel nicht deswegen abgesehen werden, weil die Beendigung des Verfahrens von den Strafverfolgungsorganen in einer Weise verzögert wurde, die beim Ausspruch von zeitiger Freiheitsstrafe oder von Geldstrafe eine Kompensation zugunsten des Angeklagten auf der Rechtsfolgenseite gebieten würde. (BGHR)
5. Ein Verstoß gegen §§ 249, 261 StPO wegen Verwertung von Urkunden, die nicht ordnungsgemäß zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden, kommt nur in Betracht, wenn aus einem solchen Schriftstück Tatsachen entnommen worden sind, die nach den Umständen überhaupt eines Beweises bedurften. Schriftstücke, die bei der Schilderung eines nicht bestrittenen und unzweifelhaften Sachverhalts aus anderen Gründen, z. B. nur der Vollständigkeit, Genauigkeit oder Kürze wegen, wörtlich mitgeteilt werden, sind nicht zum Zweck des Beweises verwertet; ein Verfahrensverstoß scheidet insoweit aus (vgl. BGHSt 11, 159, 162). (Bearbeiter)
6. Nach § 249 Abs. 1 StPO müssen zwar Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke in der Hauptverhandlung verlesen werden. Anstatt diesen Urkundenbeweis zu erheben, darf das Gericht aber den Inhalt eines Schriftstücks grundsätzlich auch in anderer Weise, insbesondere dadurch feststellen, dass es das Schriftstück dem Angeklagten oder Zeugen vorhält und mit ihm erörtert. Dann bildet allerdings nicht die Urkunde selbst die Grundlage der Urteilsfindung, sondern nur die bestätigende Erklärung, die von der Auskunftsperson auf diesen Vorhalt hin abgegeben worden ist (BGHSt 11, 159, 160). (Bearbeiter)
7. Eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung kommt einer stattgebenden Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur zu, wenn die Entscheidung auf einer vorangehenden Senatsentscheidung beruht. Die Kammern halten sich zwar im Rahmen ihrer Kompetenz, wenn sie bei aufhebenden Entscheidungen im Rahmen der Anwendung von verfassungsrechtlichen Erkenntnissen eines Senats des Bundesverfassungsgerichts diese konkretisieren und die Maßstäbe fortbilden. Die Grenzen ihrer Zuständigkeit sind aber überschritten, wenn es an fortbildungsfähigen Maßstäben in der Senatsrechtsprechung fehlt und sich die Kammern ein neues Rechtsgebiet zur selbständigen verfassungsrechtlichen Durchdringung erschließen. (Bearbeiter)
1. Die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus einer Telekommunikations-Überwachungsmaßnahme zu Beweiszwecken muss der Tatrichter in der Hauptverhandlung ausdrücklich nur dann prüfen, wenn der Angeklagte der Verwertung rechtzeitig widerspricht. (BGHR)
2. Im Fall einer Kette von aufeinander beruhenden Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen ist der Prüfungsumfang für die Frage der Verwertbarkeit auf die Überwachungsmaßnahme beschränkt, der die Erkenntnisse unmittelbar entstammen. (BGHR)
3. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen mit Blick auf die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens die aus einer Telekommunikations-Überwachungsmaßnahme gewonnenen Erkenntnisse nicht als Beweismittel verwendet werden, falls wesentliche sachliche Voraussetzungen für die Anordnung der Überwachungsmaßnahme fehlten (vgl. BGHSt 31, 304, 308 f.; 48, 240, 248). Dies gilt auch für die Verwertbarkeit von Zufallserkenntnissen i.S.v. § 100b Abs. 5 StGB (vgl. BGHSt 48, 240, 249; BGHR StPO § 100a Verwertungsverbot 10). (Bearbeiter)
4. Das erkennende Gericht darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass das Ermittlungsverfahren entsprechend den gesetzlichen Vorgaben geführt wurde. Des Weiteren ist es nach Auffassung des Senats von Rechts wegen nicht geboten, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus einer Telekommunikations-Überwachung darlegt. Dem Vorsitzenden und dem Gericht ist es freilich nicht verwehrt, die in die Hauptverhandlung einzuführenden Beweismittel auf ihre Verwertbarkeit zu prüfen. (Bearbeiter)
5. An dem allgemeinen Grundsatz, dass Beweisverwertungsverboten keine Fernwirkung zukommt, ist - auch für eine Kette auf einander beruhender Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen mit anfänglich rechtswidriger Anordnung - festzuhalten. Ein Verfahrensfehler, der ein Verwertungsverbot für ein Beweismittel bewirkt, darf nicht ohne weiteres dazu führen, dass das gesamte Strafverfahren "lahmgelegt" wird (vgl. BGHSt 27, 355, 358; 32, 68, 71; 34, 362, 364; 35, 32, 34). (Bearbeiter)
6. Abweichung von der Rechtsauffassung des 3. Strafsenates in BGHSt 47, 362, 366 f. (Bearbeiter)
1. Die Entscheidung über die Anzahl der bei einem Augenschein an beengter Örtlichkeit (hier: schmales Treppenhaus) zugelassenen Zuhörer ist vom Revisionsgericht nur auf Ermessensfehler überprüfbar. (BGHR)
2. Ein Teil der bei öffentlichen Verhandlungen der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Plätze kann Pressevertretern vorbehalten bleiben. (BGHR)
3. Zum notwendigen Revisionsvortrag, wenn eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei einem Augenschein an beengter Örtlichkeit im Hinblick auf die Auswahl der konkret zugelassenen Zuhörer gerügt wird. (BGHR)
4. Selbst wenn Teile eines Sitzungssaales (z. B. Logen oder Galerien) für Zuhörer unzugänglich bleiben und deshalb Interessenten abgewiesen werden müssen, sind dadurch nicht notwendig Grundsätze zur Gewährleistung der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen verletzt (BGH DRiZ 1971, 206, 207 16 m. w. N.). (Bearbeiter)
5. Bei der Entscheidung über den Umfang einer im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse erforderlichen faktischen Begrenzung der Öffentlichkeit ist auch die Notwendigkeit einer geordneten und ungestörten Durchführung der Verhandlung zu berücksichtigen. Ebenso wichtig wie die Kontrolle der Gerichtsverhandlung durch die Öffentlichkeit ist, dass die äußere Ordnung des Verhandlungsablaufs durch die Öffentlichkeit unbeeinträchtigt bleibt (vgl. nur BGHSt 29, 258, 259 f.; BGH NStZ 1984, 134, 135). (Bearbeiter)
6. Die bloße Bezugnahme auf Ausführungen eines anderen Verfahrensbeteiligten genügt den Anforderungen an die ordnungsgemäße Begründung von Verfahrensrügen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nicht (hier: Bezugnahme auf den Vortrag eines weiteren Verteidigers). (Bearbeiter)
7. Wird entgegen § 48 Abs. 1 JGG deshalb öffentlich verhandelt, weil sich das Verfahren auch gegen einen Erwachsenen richtete, § 48 Abs. 3 Satz 1 JGG, können nur die Erwachsenen durch eine verfahrensrechtlich zu beanstandende Ausschließung oder Einschränkung der Öffentlichkeit beschwert sein, nicht aber die oder der jugendliche Angeklagte (BGHSt 10, 119, 120 f.; BGH, Urteil vom 23. Januar 2003 - 4 StR 412/02 m. w. N.). (Bearbeiter)
1. Allein daraus, dass eine strafgerichtliche Entscheidung durch ein Obergericht aufgehoben wurde, ist nicht auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu schließen. Denn die Wiederholung fehlerhafter Verfahrensteile als Konsequenz eines - auch zum Schutz des Beschuldigten vorgesehenen - rechtsstaatlichen Rechtsbehelfsverfahrens oder gar die Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens selbst können nicht schon als rechtsstaatswidrige zusätzliche Belastungen des Beschuldigten angesehen werden (im Anschluss an BGH, Urteil vom 7. Februar 2006 - 3 StR 460/98).
2. Soweit das Bundesverfassungsgericht in Kammerentscheidungen eine abweichende Ansicht vertreten hat, folgt der Senat dem nicht und sieht er sich auch nicht gebunden. Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind bisher nicht ergangen. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob eine Kompensationspflicht bei Urteilsaufhebungen im Strafverfahren besteht, und der weitreichenden Folgen, die dies für das Strafverfahren hätte, können Kammerentscheidungen hierzu nicht als bloße Anwendung oder Fortbildung dieser Senatsrechtsprechung angesehen werden (vgl. BGH, Urteil vom 7. Februar 2006 - 3 StR 460/98).
3. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kann jedoch in Fällen anzunehmen sein, in denen eine Zurückverweisung Folge eines Verfahrensverstoßes ist, der im Licht der rechtsstaatlichen Gesamtverfahrensordnung schlechterdings nicht nachvollziehbar und als unvertretbarer Akt objektiver Willkür erscheint.
4. Ein solcher Ausnahmefall liegt aber nicht schon dann vor, wenn ein Verfahrensverstoß im Sinne von § 338 StPO nachgewiesen oder zugleich ein Verfahrensgrundrecht des Beschuldigten verletzt ist. Denn die Grenze zwischen noch vertretbaren und rechtsfehlerhaften Verfahrensentscheidungen ist auch bei absoluten Revisionsgründen oft nicht leicht zu bestimmen und von einer Vielzahl tatsächlicher Umstände und wertender Beurteilungen abhängig.
5. Die Verwerfung einer Verfahrensrüge als unbegründet durch ein oberstes Bundesgericht ist nicht schon allein deshalb als Akt objektiver Willkür anzusehen, der zur Feststellung einer rechtsstaatswidrigen zusätzlichen Belastung des Beschwerdeführers und zur Kompensationspflicht nötigt, wenn das Bundesverfassungsgericht auf die
Verfassungsbeschwerde ihre Unvereinbarkeit mit einem Grundrecht festgestellt hat.
6. Einem Absehen von der Aufhebung des Urteils wegen Angemessenheit der Rechtsfolgen (§ 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO) steht nicht entgegen, dass der Generalbundesanwalt einen Antrag auf angemessene Herabsetzung der Strafe (§ 354 Abs. 1 a Satz 2 StPO) gestellt hat.
1. Ein Rechtsmittelverzicht ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 12 m.w.N.). Die Rechtsprechung erkennt allerdings Ausnahmen von diesem Grundsatz an. In Betracht kommen namentlich drei Fallgruppen, die zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führen können: Schwerwiegende Willensmängel (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 17, 18 m.w.N.), vorangegangene Urteilsabsprachen ohne anschließende qualifizierte Rechtsmittelbelehrung (vgl. BGH GS NJW 2005, 1440, zum Abdruck in BGHSt 50, 40 bestimmt) und sonstige Umstände der Art und Weise des Zustandekommens des Rechtsmittelverzichts (BGHSt 45, 51).
2. Unverbindliche Vorgespräche unter den Verfahrensbeteiligten, die im Anschluss zu einem weitgehend konsensualen Vorgehen aller Verfahrensbeteiligter geführt haben, stellen keine Verfahrensabsprache dar, soweit überwiegend informell vorgegangen wird. Kommt es aber im Vorfeld der Hauptverhandlung zum derartigen Austausch übereinstimmender Vorstellungen über die Höhe der Strafe für den Fall, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt, ist dies in der öffentlichen Hauptverhandlung aus Gründen der Fairness und Transparenz zu erörtern. Anderenfalls kann ein Rechtsmittelverzicht, der im Anschluss an eine Hauptverhandlung erklärt wird, die auf Grund des sodann abgegebenen Geständnisses nur abgekürzt geführt wird, beim Hinzutreten weiterer, die Rechtsmittelbefugnis beeinträchtigender Verfahrensvorkommnisse unwirksam sein.
Der Zweifelssatz gilt auch für entlastende Indizien, und zwar unabhängig davon, ob sie einen zwingenden oder nur einen möglichen Schluss auf die Haupttatsache zulassen (vgl. BGHR StPO § 261 in dubio pro reo 6). Zur Anwendung auf ein gegen die Glaubwürdigkeit einer wesentlichen Belastungszeugin sprechendes Indiz.
Es ist bei einer entsprechend sorgfältigen und umfassenden Würdigung aller Erkenntnisse nicht schon im Ansatz ausgeschlossen, einem Zeugen teilweise zu glauben und teilweise nicht. Zwar müssen insbesondere dann, wenn ein Zeuge in einem zentralen Punkt erkennbar gelogen hat, gewichtige Gesichtspunkte dafür sprechen, ihm im Übrigen zu glauben; wie im Kern schon aus § 261 StPO folgt, gibt es aber keinen Rechts- und auch keinen Erfahrungssatz, dass einer Zeugenaussage zumal zu unterschiedlichen Lebenssachverhalten, nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden könnte.
Der Vorsitzende kann einen Antragsteller während der Hauptverhandlung auch dann für die Entgegennahme auf einen späteren Zeitpunkt verweisen, wenn dieser beabsichtigt, einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls zu stellen, sofern der Antrag zu einem ungeeigneten Zeitpunkt gestellt werden soll und dadurch die zügige und sachgerechte Durchführung der Hauptverhandlung gefährdet würde. Dem steht auch § 117 Abs. 1 StPO nicht hingegen, denn die Befugnis, "jederzeit" eine Haftprüfung zu beantragen, bezieht sich lediglich auf das Verfahrensstadium, schränkt aber die Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden nicht ein.