HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 466
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 322/23, Beschluss v. 16.01.2024, HRRS 2024 Nr. 466
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 5. Januar 2023 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Neben- und Adhäsionsklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass Zinsen aus dem im Adhäsionsverfahren ausgeurteilten Betrag in Höhe von 20.000 Euro seit dem 29. November 2022 zu zahlen sind.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt, eine Anrechnungsentscheidung wegen erlittener Auslieferungshaft und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die Revision des Angeklagten führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen und zu einer Korrektur der Adhäsionsentscheidung; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Schuldspruch und die rechtliche Würdigung des Landgerichts weisen keine den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler auf. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet dagegen die Annahme des Landgerichts, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei bei Begehung der Tat nicht im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert gewesen.
a) Nach den Feststellungen suchten der Angeklagte, dessen Bekannter und die Nebenklägerin, die beide Männer zuvor in einer Bar kennengelernt hatte, in den späteren Abendstunden die Wohnung des Angeklagten auf, wo dieser wie bereits zuvor Alkohol konsumierte. Nachdem die Nebenklägerin das Ansinnen des Angeklagten nach Durchführung gemeinsamen Geschlechtsverkehrs zu Dritt abgelehnt hatte, geriet er in eine hoch aggressive Stimmung und verwies seinen Bekannten der Wohnung. Die Nebenklägerin hinderte der Angeklagte daran, die Wohnung zu verlassen, indem er die Tür verschloss und den Schlüssel abzog. In Ausführung des spätestens jetzt gefassten Entschlusses, den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin auch gegen ihren Willen zu vollziehen, veranlasste er die infolge seines aggressiven Auftretens verängstige Nebenklägerin, sich auszuziehen und zu seinem Bett zu gehen. Als sich der inzwischen ebenfalls entkleidete Angeklagte ihr näherte, versuchte sie ihn wegzuschieben und trat in Richtung seiner Genitalien, die sie möglicherweise traf. Der Angeklagte schlug ihr daraufhin mehrfach mit der Faust gegen den Oberkörper und ins Gesicht und würgte die Nebenklägerin mit beiden Händen, so dass sie Atemnot verspürte und sich schließlich nicht weiter wehrte. Anschließend hielt ihr der Angeklagte ein Küchenmesser an den Hals und drohte, sie zu töten, wenn sie weiter schreie. Darüber hinaus hielt er ihr eine Schere vor die Augen und fragte drohend, ob sie diese im Auge haben wolle. Schließlich fesselte er der Nebenklägerin mit einer Kordel die Hände auf dem Rücken, wobei er das zuvor als Drohmittel eingesetzte Messer auf einem Regal neben dem Bett ablegte. Aus Angst um ihr Leben führte die Nebenklägerin am Angeklagten aufforderungsgemäß einige Sekunden den Oralverkehr durch. Sodann penetrierte der Angeklagte sie ungeschützt vaginal, während er ihre Beine auseinanderdrückte. Danach begleitete er die Nebenklägerin ins Badezimmer und sah ihr beim Urinieren zu. Nach Rückkehr ins Schlafzimmer vollzog er erneut den ungeschützten Vaginalverkehr, dieses Mal bis zur Ejakulation. Außerdem übte er an der Nebenklägerin den Oralverkehr aus. Bevor er einschlief, löste er die Fesselung auf Bitte der Nebenklägerin, die neben ihm an der Wandseite des Bettes lag. Beim ersten ihrer mehreren Versuche, sich unbemerkt aus dem Bett zu erheben, erwachte der Angeklagte und griff sofort nach dem im Regal liegenden Messer. Spätere Versuche, das Bett zu verlassen, beendete die Nebenklägerin jeweils, weil sie den Eindruck gewann, der Angeklagte erwache erneut. Als er gegen 7 Uhr morgens aufstand, gab er der Nebenklägerin ihre Kleidung und äußerte, sie könne nun gehen. Gemeinsam mit ihr verließ er die Wohnung.
b) Das Landgericht hat die Tat als besonders schwere Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit Freiheitsberaubung gewürdigt und angenommen, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei bei Tatbegehung vollständig erhalten, namentlich seine Steuerungsfähigkeit nicht erheblich eingeschränkt gewesen. Es hat sich dabei der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, der zu dem Ergebnis gelangt ist, dass bei dem Angeklagten eine narzisstische Persönlichkeitsstörung in Form eines vulnerablen Narzissmus vorliege, wobei eine Vielzahl negativer Emotionen wie Stress und Angst dominierten. Die Persönlichkeitsstörung sei als schwere andere seelische Störung im Sinne des § 20 StGB zu bewerten, da sie zur Einengung der Lebensführung des Angeklagten, der Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit geführt habe. Allerdings seien hierdurch weder die Einsichtsfähigkeit noch die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tat aufgehoben oder erheblich eingeschränkt worden. Zwar sei die Störung „in gewisser Weise als Grundlage der Tat zu sehen“, denn das sehr ausgeprägte Bedürfnis des Angeklagten nach Anerkennung im (sexuellen) Kontakt mit Frauen und die mangelnde Empathiefähigkeit stellten tatbegünstigende Faktoren dar. Allerdings habe das Verhalten des Angeklagten bei einem früheren Vorfall gegenüber einer Zeugin (ein von ihm aufgegebenes, sexuell motiviertes Einsperren einer Nachbarin in seiner Wohnung) auch gezeigt, dass es ihm schließlich doch gelinge, die Kraft zu normgerechtem Verhalten aufzubringen. Die Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung auf die Motivations-, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten bei Tatbegehung seien nicht derart gravierend, dass sie zu einer erheblichen Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit geführt hätten.
Auch eine vorübergehende krankhafte seelische Störung durch Konsum von Alkohol habe aus sachverständiger Sicht nicht vorgelegen. Zwar habe sich unter Berücksichtigung der Trinkmengenangaben des Angeklagten eine Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von 2,07 bis 2,4 Promille ergeben. Gegen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit spreche indes das gezeigte Leistungsbild. Während des mehraktigen Geschehens sei der Angeklagte strukturiert vorgegangen, habe sich auf den Widerstand der Nebenklägerin eingestellt und den Geschlechtsverkehr schließlich - ohne Einschränkungen der Erregungsfähigkeit - bis zur Ejakulation durchgeführt. Das Landgericht hat sich dem Sachverständigen angeschlossen und insoweit lediglich ausgeführt, der Angeklagte habe, anders als von ihm behauptet, auf den Zeugen M. während eines Telefonats am Tatabend nicht alkoholisiert gewirkt.
2. Die auf dieser Grundlage beruhende Annahme des Landgerichts, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei vollständig erhalten gewesen, erweist sich in mehrfacher Hinsicht als rechtsfehlerhaft.
a) Wird eine schwere andere seelische Störung - wie hier - festgestellt, die überhaupt nur dann in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Täter vergleichbar schwer belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 2020 - 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222 f.; vom 12. Oktober 2017 - 5 StR 364/17), so liegt es nahe, dass eine solche Störung zur Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB führt. Die Feststellung einer gleichwohl nicht erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit bedarf dann einer besonderen Begründung (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 f.; vom 28. September 2016 - 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37 f.). Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht.
b) Das Landgericht hat schon keine eigene Prüfung und Bewertung der Ausführungen des Sachverständigen vorgenommen. Bei der Frage des Vorliegens eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB bei gesichertem psychiatrischen Befund wie auch bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit handelt es sich um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. November 2021 - 1 StR 291/21 Rn. 13; vom 9. März 2022 - 3 StR 19/22, NStZ-RR 2022, 168; Urteil vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 Rn. 11). Vorliegend beschränken sich die Urteilsgründe darauf, das Ergebnis des Sachverständigengutachtens zu referieren, denen sich das Landgericht pauschal angeschlossen hat. Dies ist rechtsfehlerhaft, denn das Tatgericht hat die Darlegungen des Sachverständigen eigenständig zu überprüfen und ist verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise zu begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. September 2020 - 2 StR 159/20 Rn. 11).
Da das Landgericht eigene Erwägungen im Urteil nicht mitgeteilt hat, fehlt es auch an den notwendigen Ausführungen zu der tatbezogenen Ausprägung der vom Sachverständigen angenommenen Persönlichkeitsstörung (zum mehrstufigen Prüfungsaufbau vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. November 2021 - 1 StR 291/21 Rn. 13; vom 9. März 2022 - 3 StR 19/22, NStZ-RR 2022, 168; Urteil vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 Rn. 11). Bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung handelt es sich um ein eher unspezifisches Störungsbild. Sie erreicht den Grad einer schweren anderen seelischen Störung regelmäßig erst dann, wenn der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juli 2023 - 2 StR 255/22 mwN; Beschluss vom 2. März 2021 - 4 StR 543/20; NStZRR 2021, 138, 140). Ob dies hier der Fall war, kann anhand der Urteilsgründe nicht beurteilt werden. Dass der Angeklagte nach Einschätzung des Sachverständigen bei der Tatausführung „strukturiert“ gehandelt hat, steht für sich genommen der Annahme einer erheblichen Verminderung seines Hemmungsvermögens nicht entgegen. Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 f. mwN). Dem Tatverhalten wie auch dem Verhalten vor und nach der Tat kommt beim Vorliegen einer schweren Persönlichkeitsstörung kein maßgebliches Gewicht zu (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Mai 2023 - 4 StR 340/22, NStZ-RR 2023, 317, 319; vom 23. November 2022 - 2 StR 378/22; vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 f.).
Als rechtsfehlerhaft erweist sich schließlich auch, dass im Urteil die Befunde zu den Auswirkungen des psychiatrischen Krankheitsbildes einerseits und zum Einfluss der festgestellten erheblichen Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit von über 2 Promille andererseits lediglich gesondert mitgeteilt, nicht aber in der gebotenen Gesamtschau gewürdigt worden sind. Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen daher mehrere Eingangsmerkmale des § 20 StGB gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt werden; erforderlich ist in solchen Fällen vielmehr eine umfassende Gesamtbetrachtung (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 ff. mwN).
c) Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Strafausspruches. Der Schuldspruch wird hingegen nicht berührt, da auszuschließen ist, dass der Angeklagte bei der Tat schuldunfähig war. Das neue Tatgericht wird die Frage nach dem Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB neu zu bewerten haben. Hierzu weist der Senat auf Folgendes hin:
Die vom Sachverständigen diagnostizierte Persönlichkeitsstörung kann die Annahme einer schweren anderen seelischen Störung nur dann begründen, wenn sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben eines Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie eine krankhafte seelische Störung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. März 2021 - 4 StR 543/20, NStZRR 2021, 138, 139 f.; vom 9. Mai 2000 - 4 StR 59/00, NStZ 2000, 469 f.; vom 11. Februar 2015 - 4 StR 498/14 Rn. 6 mwN). Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als Merkmal der schweren anderen seelischen Störung gemäß § 20 StGB angesehen werden; dies ist anhand konkreter Umstände in der Lebensführung des Angeklagten zu belegen (BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2022 - 5 StR 364/22, NStZ-RR 2023, 73 f.).
Dass diese Voraussetzungen hier erfüllt waren, ist den bisherigen Feststellungen nicht zu entnehmen. Insoweit hat die vom Sachverständigen mitgeteilte Erwägung - die Einengung der Lebensführung des Angeklagten zeige sich durch dessen „großes Interesses an (sexuellen) Kontakten mit Frauen“ - keinerlei Aussagekraft. Dies gilt erst recht, als der Angeklagte vor der Tat strafrechtlich noch nie in Erscheinung getreten ist und nach Einschätzung des Sachverständigen bei anderer Gelegenheit (Zeugin H.) durchaus in der Lage war, sein (sexuell motiviertes) Verhalten zu steuern. Für die weiterhin vom Sachverständigen herangezogene „durchgängig oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und der psychosozialen Leistungsfähigkeit, die sich zum Beispiel an wiederholten Konflikten am Arbeitsplatz manifestiert“ habe, fehlt es an konkreten Belegen. Insbesondere ergibt sich aus den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten kein Anhaltspunkt für schwerwiegende Einschränkungen der Lebensgestaltung. Insoweit bleibt offen, ob die vom Sachverständigen erwähnten Besonderheiten nicht lediglich auf ein nur unangepasstes Verhalten oder eine akzentuierte Persönlichkeit hindeuten und die Schwelle einer Persönlichkeitsstörung nicht erreichen.
2. Der Adhäsionsausspruch war hinsichtlich des Beginns des Zinslaufs entsprechend § 354 Abs. 1 StPO zu ändern (vgl. Zuschrift des Generalbundesanwalts).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 466
Bearbeiter: Christian Becker