HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 299
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 378/22, Beschluss v. 23.11.2022, HRRS 2023 Nr. 299
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 16. Mai 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Strafausspruch und
b) soweit eine Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 60 Fällen, in 52 Fällen hiervon in Tateinheit mit dem Herstellen einer kinderpornografischen Schrift und in zwei weiteren Fällen in Tateinheit mit dem Herstellen eines kinderpornografischen Inhalts zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat nur zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand.
2. Hingegen begegnet der Strafausspruch durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Annahme, der Angeklagte habe im Zustand nicht erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB gehandelt, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Ohne Rechtsfehler hat sich die sachverständig beratene Strafkammer zunächst davon überzeugt, dass die Voraussetzungen des § 21 StGB beim Angeklagten allein im Hinblick auf dessen Pädophilie nicht vorliegen.
b) Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (§ 21 StGB) wegen dessen Amphetaminkonsums verneint, sind hingegen nicht tragfähig begründet.
aa) Die Strafkammer hat, im Wesentlichen gestützt auf die Angaben des Angeklagten, festgestellt, dass dieser seit dem Jahr 2013 Amphetamin konsumiert. Der Konsum steigerte sich über die Jahre. Zuletzt nahm der Angeklagte an jedem Wochenende - mitunter auch von Donnerstag bis Montag - mehr als zwei bis drei Gramm Amphetamin zu sich. Infolgedessen schlief der Angeklagte an den Wochenenden bisweilen überhaupt nicht und verlor zunehmend das Interesse an sozialer Interaktion. Obgleich er versuchte, den Konsum verborgen zu halten, war er unter dem Einfluss des Amphetamins „eher genervt, leicht reizbar“ (UA 6) sowie „gesteigert egoistisch und rücksichtslos“ (UA 28). Der Angeklagte hat nach den weiteren Feststellungen „die Taten stets unter dem Einfluss von Amphetamin begangen“ (UA 37), was sich „enthemmend auswirkte“ (UA 39).
Das Landgericht hat sich bei der Prüfung der Schuldfähigkeit dem Sachverständigen angeschlossen und angenommen, dass der Angeklagte nicht erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt war, da er „gezielt vorgegangen sei, […] sich im Übrigen auch gut an die Taten erinnere“ (UA 37), „stets Vorkehrungen gegen Entdeckung“ traf und die Taten „in vielen Fällen vorbereitete“ (UA 38).
bb) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Die Strafkammer stützt sich bei ihrer Ablehnung maßgeblich auf Erwägungen, die bezogen auf die Frage der Steuerungsfähigkeit keine oder nur wenig Aussagekraft besitzen. Soweit für den Erhalt vollständiger Steuerungsfähigkeit angeführt ist, dass der Angeklagte gezielt vorgegangen sei, ist dieser Umstand für die Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens kaum von Relevanz (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2019 - 1 StR 574/18, NStZ-RR 2019, 168, 169; vom 14. Mai 2002 - 5 StR 138/02, NStZ-RR 2002, 230; Senat, Beschluss vom 12. Juni 1996 - 2 StR 202/96, NStZ-RR 1996, 289, 290). Gleiches gilt für sein Erinnerungsvermögen, dem im Rahmen einer Gesamtwürdigung allenfalls geringe indizielle Bedeutung zukommt (BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 71; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 20 Rn. 24a mwN). Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvermögen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7, 8; Senat, Beschluss vom 22. Januar 2020 - 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222, 224 mwN; BGH, Beschluss vom 5. März 2013 - 5 StR 25/13, juris Rn. 5). So lassen sich aus planvollem oder situationsgerechtem Vorgehen, das lediglich die Verwirklichung des Tatvorsatzes darstellt, für sich genommen regelmäßig keine tragfähigen Schlüsse in Bezug auf die Steuerungsfähigkeit des Täters ziehen (Senat, Beschlüsse vom 22. Juni 2021 - 2 StR 168/21, juris Rn. 11; vom 2. Juli 2015 - 2 StR 146/15, juris Rn. 7).
Auch die weiteren Erwägungen des Landgerichts erweisen sich als rechtlich bedenklich. So lässt der Umstand, dass der Angeklagte Vorkehrungen gegen Entdeckungen traf, keinen aussagekräftigen Rückschluss auf den Grad der Einschränkung der Steuerungsfähigkeit zu den Tatzeitpunkten zu (BGH, Beschluss vom 28. September 2016 - 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37, 38). Aus den vorgenannten Gründen gilt dies auch, soweit es der Angeklagte vermochte, gezielt unauffällig in dem Sinne zu wirken, dass „er sein Verhalten planmäßig […] steuerte“ (UA 38).
cc) Die vom Landgericht angeführten Umstände belegen nur, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht völlig aufgehoben war; dass die Steuerungsfähigkeit nicht erheblich vermindert gewesen ist, ist aus ihnen hingegen nicht mit genügender Sicherheit abzuleiten. Es liegt nicht ohne Weiteres auf der Hand, dass die vom Landgericht festgestellten Tathandlungen, insbesondere das Ausübenlassen des Oralverkehrs durch das Tatopfer sowie das Filmen des Tatgeschehens, nicht auch von einer Person unter Amphetamineinfluss ausgeführt werden kann, zumal Amphetamin zu einer Steigerung der körperlichen und intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie einer Steigerung des Sexualtriebs führt (Patzak/Bohnen, Betäubungsmittelrecht, 5. Aufl., Kap. 1 Rn. 35). Nach den insoweit getroffenen Feststellungen hätte das Landgericht hier in den Blick nehmen müssen, dass die psychoaktive Wirkung von Amphetamin die gegenständlichen Taten möglicherweise sogar beeinflusst oder begünstigt hat.
c) Zudem hat das Landgericht im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung die sich aufdrängende Frage nicht in ausreichendem Maße erörtert, ob eine Kombinations- und Wechselwirkung des konsumierten Amphetamins und die Störung der Sexualpräferenz in Form der Pädophilie durch ihr Zusammenwirken die Fähigkeit des Angeklagten, sich normgerecht zu verhalten, im Vergleich zu einem voll schuldfähigen Menschen in erheblichem Maße eingeschränkt haben (Senat, Beschlüsse vom 25. Februar 1987 - 2 StR 29/87 und vom 14. Oktober 1987 - 2 StR 511/87, BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3 und 5). Vor dem Hintergrund der beim Angeklagten diagnostizierten Störung der Sexualpräferenz in Form der Pädophilie einerseits und der enthemmenden bzw. stimulierenden Wirkung des Amphetamins andererseits waren nähere Erörterungen zu möglichen Wechselwirkungen angezeigt. Denn nach den Feststellungen ist jedenfalls ein bestimmender Einfluss des Betäubungsmittels auf die gegenständlichen Taten nicht auszuschließen. Hierzu hat sich die Strafkammer lediglich formelhaft ablehnend verhalten, sodass die Ausführungen an einem durchgreifenden Erörterungsmangel leiden (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Januar 2017 - 2 StR 436/16, NStZ-RR 2017, 167).
3. Mit Blick auf die dargelegten Würdigungsmängel kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht zur Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB gelangt wäre und aufgrund dessen eine mildere Strafe verhängt hätte. Der Strafausspruch ist deshalb aufzuheben. Das neue Tatgericht wird sich eingehender mit der Frage von Ausmaß und Auswirkungen des Amphetaminkonsums und dem Grad der Berauschung des Angeklagten in den Tatzeitpunkten, auch mit Blick auf die Pädophilie des Angeklagten, zu befassen haben. Die Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung, zweckmäßigerweise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen. Im Übrigen schließt der Senat angesichts des festgestellten Leistungsbildes aus, dass der Angeklagte im Zustand aufgehobener Steuerungsfähigkeit gehandelt hat, sodass der Schuldspruch unberührt bleibt.
4. Ferner hält das Urteil rechtlicher Überprüfung nicht stand, soweit eine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB ohne Begründung unterblieben ist. Über die aus § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO folgende Pflicht hinaus ist die Nichtanordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung auch ohne Antrag aus sachlich-rechtlichen Gründen zu begründen, wenn sich die Anordnung nach den Umständen des Einzelfalls aufdrängte (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Oktober 2019 - 3 StR 406/19, juris Rn. 3; KK-StPO/Kuckein/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn. 88; jeweils mwN). Das war hier der Fall.
Angesichts der Feststellungen zum langjährigen, intensiven Amphetaminkonsum des Angeklagten drängte sich die Prüfung der Frage auf, ob bei dem Angeklagten ein Hang vorhanden ist, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Von einem Hang ist auszugehen, wenn eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung besteht, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad physischer Abhängigkeit erreicht haben muss (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2022 - 5 StR 394/22, juris Rn. 5; Senat, Beschluss vom 1. Oktober 2019 - 2 StR 108/19, juris Rn. 3; Beschluss vom 4. April 1995 - 4 StR 95/95, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 5). Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (Senat, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 2 StR 93/19, juris Rn. 9 mwN). Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Täter berauschende Mittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt wird (BGH, Beschlüsse vom 20. September 2017 - 1 StR 348/17, juris Rn. 10; vom 6. November 2003 - 1 StR 406/03, BGHR StGB § 64 Hang 2). Hierfür ergeben sich aus den Urteilsgründen deutliche Anhaltspunkte, nachdem der Angeklagte an den Wochenenden bisweilen überhaupt nicht schlief, er zunehmend das Interesse an sozialen Interaktionen verlor und das familiäre Zusammenleben beeinträchtigt war.
Weiterhin wird zu prüfen sein, ob die begangenen Taten - auch Sexualstraftaten kommen als Anlasstat durchaus in Betracht (vgl. Senat, Urteil vom 3. März 2000 - 2 StR 598/99 Rn. 9 mwN) - auf den möglicherweise festzustellenden Hang zurückgeht, ob in Zukunft die Gefahr besteht, dass der Angeklagte infolge des Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird und ob eine hinreichend konkrete Behandlungsaussicht besteht. Keine dieser Fragen lässt sich nach den bisherigen Feststellungen ohne Weiteres verneinen.
Über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss der neue Tatrichter daher - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) - (erstmals) verhandeln und entscheiden. Dem steht nicht entgegen, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 15. März 2022 - 2 StR 43/22, juris Rn. 6 mwN); er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 299
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede