HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1336
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 82/24, Beschluss v. 07.05.2024, HRRS 2024 Nr. 1336
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 8. Januar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat gegen den Beschuldigten im Sicherungsverfahren die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der 27 Jahre alte und nicht vorbestrafte Beschuldigte seit dem Jahr 2020 an einer paranoiden Schizophrenie mit religiösen Wahnideen und paranoidem Erleben.
Am Abend des 3. November 2022 saß er auf dem Gehweg einer Anliegerstraße in einer Tempo-30-Zone in R. Als sich die Zeugin C. mit ihrem Pkw diesem Straßenabschnitt näherte, betrat er die Gegenfahrspur. Hierbei hielt er eine zuvor aufgenommene und knapp 10 kg schwere Gehwegplatte in der Größe von 29x20x7,5 cm in den Händen. Nach Bemerken des Beschuldigten reduzierte die Zeugin ihre Geschwindigkeit auf 20 km/h in der Annahme, dieser wolle die Fahrbahn überqueren. Als sie sich mit ihrem Pkw circa 1 bis 2 m vor ihm befand, hob der Beschuldigte die Gehwegplatte einer imperativen Stimme Allahs folgend auf Kopfhöhe hoch und warf sie gegen den Pkw. Dabei nahm er eine erhebliche Verletzung der Fahrzeugführerin billigend in Kauf. Die Gehwegplatte traf gegen die (linke) A-Säule des Pkw und verursachte dort sowie an der infolge des Aufpralls zerborstenen Windschutzscheibe einen Sachschaden von circa 10.000 €. Die körperlich unverletzt gebliebene Zeugin wendete ihr Fahrzeug und fuhr zu dem inzwischen wieder auf dem Gehweg sitzenden Beschuldigten zurück. Sie konfrontierte ihn mit seinem Verhalten, worauf er äußerte, dass er sie töten und ihr den Kopf abschneiden werde, was er mit einer Handbewegung entlang seines Halses bekräftigte. Anschließend wartete er mit der Zeugin geduldig auf das Eintreffen der von dieser verständigten Polizei. Zum Tatzeitpunkt war die Unrechtseinsicht des Beschuldigten aufgrund eines akuten Schubes der paranoiden Schizophrenie aufgehoben.
Das Landgericht hat die Handlungen des Beschuldigten als gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB) in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in der Begehungsvariante mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) sowie tatmehrheitlich hierzu als Bedrohung (§ 241 Abs. 2 StGB) gewürdigt. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat es - sachverständig beraten - auf die Prognose gestützt, dass bei dem Beschuldigten eine „hohe bis sehr hohe Wiederholungsgefahr für weitere ähnlich gelagerte Straftaten“ bestehe und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei.
2. Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil sich die Urteilsgründe nicht dazu verhalten, ob der Beschuldigte vom Versuch der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zurückgetreten ist.
a) Die Anordnung der Maßregel ist nur zulässig, wenn der Täter allein wegen mangelnder Schuldfähigkeit nicht bestraft werden kann; nicht jedoch, wenn er mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten ist. Denn der Wille, die Tat nicht zur Vollendung gelangen zu lassen oder den Erfolg abzuwenden, nimmt dem Verhalten des Täters in der Regel seine besondere Gefährlichkeit (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 10. August 2022 - 1 StR 234/22 Rn. 6 mwN; Urteil vom 28. Oktober 1982 - 4 StR 472/82, BGHSt 31, 132, 135). Ein freiwilliger Rücktritt vom Versuch ist auch nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der Zurücktretende schuldunfähig war (vgl. BGH, Urteil vom 20. Dezember 2023 - 2 StR 359/23 Rn. 12).
b) Die Urteilsgründe verhalten sich zu der Frage eines möglichen Rücktritts nicht. Feststellungen zu der Vorstellung des Beschuldigten nach seiner (letzten) Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227) fehlen. Darlegungen zum Vorstellungsbild drängten sich hier aber schon deshalb auf, weil nach dem mitgeteilten Sachverhalt die Fahrzeugführerin infolge des Schadensereignisses den Pkw sogleich wendete, zum Beschuldigten zurückfuhr und ihn mit seinem Verhalten konfrontierte, ohne dass es daraufhin zu weiteren körperlichen Angriffen seinerseits gegen ihre Person kam. Daher bleibt offen, ob der Körperverletzungsversuch fehlgeschlagen, unbeendet oder beendet war. Dies durfte indes nicht dahinstehen, da im Fall eines unbeendeten Versuchs der Beschuldigte gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 StGB bereits durch freiwilliges Abstandnehmen von weiteren Ausführungshandlungen strafbefreiend zurückgetreten wäre.
Letzteres wäre für die Bewertung der Gefährlichkeit des Verhaltens des Beschuldigten von erheblicher Bedeutung. Der Senat vermag daher - trotz der weiteren für eine Gefährlichkeit des Beschuldigten sprechenden Umstände - nicht auszuschließen, dass es im Fall der Annahme eines Rücktritts zu einer anderen Bewertung der Gefährlichkeitsprognose gekommen wäre. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Um dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Tatsachenfeststellungen zu ermöglichen, sind bei dem vorliegenden einheitlichen Geschehen sämtliche Feststellungen aufzuheben.
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Die Annahme eines vollendeten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr setzt voraus, dass die Tathandlung (Wurf mit der Gehwegplatte) über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt hat, in der eines der genannten Individualrechtsgüter im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2017 - 4 StR 53/17 Rn. 5 mwN). Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann dabei auch erfüllt sein, wenn die Außeneinwirkung - wie hier - unmittelbar zu einer konkreten Gefahr (Beschädigung des Pkw) führt. In diesem Fall ist es aber erforderlich, dass es sich insoweit um eine verkehrsspezifische Gefahr handelt.
Dies setzt jedoch voraus, dass die Gefahrverursachung - jedenfalls auch - auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2024 - 4 StR 87/24 Rn. 7; Urteil vom 9. Dezember 2021 - 4 StR 167/21 Rn. 18; Beschluss vom 30. August 2017 - 4 StR 349/17 Rn. 3; Beschluss vom 4. November 2008 - 4 StR 411/08 Rn. 6 f.; grundlegend BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 StR 103/02, BGHSt 48, 119, 124). Die bisher getroffenen Feststellungen belegen dergleichen nicht. Zwar hat der Beschuldigte durch den Wurf mit der Gehwegplatte im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB in die Sicherheit des Straßenverkehrs eingegriffen. Die Fahrzeugführerin konnte jedoch den beschädigten Pkw weiterhin sicher beherrschen. Nach den Feststellungen wendete sie diesen nach dem Aufprall und fuhr zum Beschuldigten zurück. Soweit die Tathandlung unmittelbar zu einem Sachschaden am Pkw führte, kann den hierzu getroffenen Feststellungen nicht entnommen werden, dass diese Beschädigung auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist.
b) Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer wird sich auch genauer als bisher mit dem - natürlichen - Vorsatz des Beschuldigten zu befassen haben. Im Fall eines (versuchten) gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 2 StGB) muss der Tatvorsatz bzw. Tatentschluss auch auf die Verursachung einer konkreten verkehrsspezifischen Gefahr gerichtet sein (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2021 - 4 StR 68/21 Rn. 8 f.). Kann die Willensrichtung dafür entscheidend sein, ob sich die Handlung des Täters als eine die Unterbringung gemäß § 63 StGB begründende Verhaltensweise darstellt oder nicht, muss insbesondere der innere Tatbestand erörtert werden, soweit dies nach dem psychischen Zustand des Täters möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. September 2013 - 2 StR 338/13 Rn. 8; Beschluss vom 14. März 1989 - 1 StR 810/88, BGHR StGB § 63 Tat 2 mwN). Dabei wird zu beachten sein, dass es der Annahme eines natürlichen Tatvorsatzes nicht entgegensteht, wenn der Täter infolge seines Zustands Tatsachen verkennt, die jeder geistig Gesunde richtig erkannt hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juni 2014 ? 5 StR 189/14; Beschluss vom 24. Juni 2008 - 3 StR 222/08). Vorstellungsausfälle, die auf der psychischen Erkrankung beruhen, beeinträchtigen zwar die Verantwortlichkeit des Täters, führen aber nicht dazu, dass die sonst vorhandenen inneren Tatbestandsmerkmale verneint werden müssten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. April 2023 - 4 StR 468/22 Rn. 13 mwN und Urteil vom 11. November 1952 - 1 StR 510/52, BGHSt 3, 287, 288 f.).
c) Sollte das neue Tatgericht seine Gefährlichkeitsprognose auf weitere Taten und Vorfälle stützen, hat es auch diese prozessordnungsgemäß aufzuklären und im Urteil festzustellen und zu belegen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 1 StR 151/20 Rn. 18). Dies gilt vorliegend insbesondere für die Geschehnisse, die bereits vor der Anlasstat zu stationären psychiatrischen Behandlungen des Beschuldigten geführt hatten.
QuentinHRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1336
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede